BGH Beschluss v. - VII ZR 629/21

Instanzenzug: Az: 27 U 34/20vorgehend LG Aachen Az: 12 O 396/19

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt die Beklagte hinsichtlich eines von ihm im August 2015 als Gebrauchtwagen erworbenen und von der Beklagten hergestellten Fahrzeugs Mercedes Benz GLK 220 CDI 4MATIC in Anspruch. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 (Euro 5) ausgestattet. Die Abgasrückführung erfolgt unter anderem temperaturgesteuert mittels eines sog. Thermofensters. Für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp des betreffenden Baujahres hat das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) nachträgliche Nebenbestimmungen zur EG-Typgenehmigung erlassen, gegen die die Beklagte Widerspruch erhoben hat.

2Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht abgeschlossen. Mit der Klage hat er zuletzt die Rückzahlung des um eine Nutzungsentschädigung verringerten Kaufpreises nebst Delikts- und Verzugszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs, die Feststellung, dass sich die Beklagte im Annahmeverzug befinde, sowie die Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt.

3Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde verfolgt der Kläger seine Klageanträge mit Ausnahme des Antrags auf Zahlung von Deliktszinsen weiter. Er rügt unter anderem eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.

II.

4Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO im Umfang der Anfechtung zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

51. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit hier von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

6Dem Kläger stehe gegen die Beklagte kein Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB zu. Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung des Käufers könne weder mit Blick auf ein Thermofenster noch auf eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) angenommen werden. Die vom Kläger vorgetragene, allein auf dem Prüfstand stattfindende Manipulation der Abgase durch die Steuerung der Kühlmitteltemperatur liege nicht vor. Wie beim Thermofenster habe auch hinsichtlich der KSR im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Klägerfahrzeugs nicht festgestanden, dass es sich um eine unzulässige technische Einrichtung gehandelt habe. Jedenfalls habe die Beklagte mangels anderweitiger Anhaltspunkte nicht annehmen müssen, dass diese Einrichtung unzulässig gewesen sei, so dass ihr keine Arglist vorgeworfen werden könne. Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Normen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 scheiterten daran, dass diese Vorschriften keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB darstellten.

72. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die Substantiierungsanforderungen im Hinblick auf die neben dem Thermofenster vom Kläger behauptete KSR, bei der nur im Prüfstand der Stickoxidausstoß optimiert werde, in gehörsverletzender Weise gehandhabt hat.

8a) Das Fahrzeug ist unstreitig von einem verpflichtenden Rückruf des KBA betroffen. Der Kläger hat dazu behauptet, dass das KBA die Schadstoff- und Abgasstrategie "Geregeltes Kühlmittelthermostat" im Motorwarmlauf als unzulässig eingestuft habe.

9b) In insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Berufungsgericht im Hinweisbeschluss vom zunächst darauf abgestellt, ob die unzulässige Abschalteinrichtung prüfstandsbezogen ist. Das Kriterium der Prüfstandsbezogenheit ist grundsätzlich geeignet, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden (vgl. Rn. 18, BeckRS 2021, 33038; Urteil vom - VII ZR 190/20 Rn. 19, WM 2021, 2108; Beschluss vom - VI ZR 889/20 Rn. 27, VersR 2021, 661; Beschluss vom - VI ZR 433/19 Rn. 18, ZIP 2021, 297). Das Berufungsgericht benennt damit eines der wesentlichen Merkmale, nach denen die den sogenannten Abgasskandal auslösende, von der Volkswagen AG im Motortyp EA 189 verwendete Manipulationssoftware nicht nur eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, sondern die deutlich höheren Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllen kann. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden.

10c) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet sodann zu Recht, dass das Berufungsgericht dem beweisbewehrten Sachvortrag des Klägers nicht nachgegangen ist, das Fahrzeug verfüge über eine solche prüfstandsbezogene unzulässige Abschalteinrichtung - indiziert durch den unstreitigen Rückruf -, und zwar unter anderem in Form einer KSR, die anhand einer Vorkonditionierung den Prüfstand erkenne und den Stickoxidausstoß nur im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) optimiere. Die Verwendung einer derartigen Prüfstandserkennungssoftware käme als Anknüpfungspunkt für die Annahme eines sittenwidrigen Verhaltens der für die Beklagte handelnden Personen grundsätzlich in Betracht. Indem es diesen Vortrag für unbeachtlich gehalten hat, hat das Berufungsgericht die Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen offenkundig überspannt.

11aa) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (vgl. , WM 2012, 492, juris Rn. 16; Rn. 20, WM 2021, 1609; Urteil vom - VI ZR 401/19 Rn. 19, MDR 2021, 871; Beschluss vom - VIII ZR 57/19 Rn. 7, ZIP 2020, 486; Beschluss vom - VI ZR 163/17 Rn. 11, VersR 2019, 835; jeweils m.w.N.).

12Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrunde liegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen ( Rn. 21 f. m.w.N., WM 2021, 1609).

13bb) Nach diesen Grundsätzen liegt eine Gehörsverletzung vor.

14Die vom Berufungsgericht im Hinweisbeschluss getroffene Feststellung, eine allein auf dem Prüfstand stattfindende Manipulation der Abgase durch die Steuerung der Kühlmitteltemperatur finde durch die KSR im Klägerfahrzeug nicht statt, ist ebenso verfahrensfehlerhaft wie die im Zurückweisungsbeschluss getroffene Feststellung, hinsichtlich der KSR habe seinerzeit nicht festgestanden, dass es sich um eine unzulässige technische Einrichtung handele. Der Hinweis auf ein in einem anderen Verfahren erstattetes Sachverständigengutachten ist schon deswegen unzureichend, weil weder Fragestellung noch Inhalt des Gutachtens ersichtlich sind; die in Bezug genommene Entscheidung des Landgerichts S.      ist nicht veröffentlicht. Beide Feststellungen übergehen zudem den von der Nichtzulassungsbeschwerde aufgezeigten Vortrag des Klägers zu einer Prüfstandsbezogenheit der von ihm behaupteten Abschalteinrichtung und verletzen den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

15Der Kläger hat vorgetragen, bereits aus dem verpflichtenden Rückruf des KBA ergebe sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass in dem betroffenen Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut sei. Er hat unter Beweis gestellt, dass in dem Fahrzeug eine Software installiert sei, die den Kühlmittelkreislauf künstlich kälter halte und die Aufwärmung des Motoröls verzögere, was dafür sorge, dass auf dem Prüfstand die Grenzwerte für Stickoxide eingehalten würden, während im Straßenbetrieb diese Funktion deaktiviert sei. Hierzu habe die Beklagte in den in der Motorsteuerungssoftware hinterlegten Kennfeldern das Öffnungsverhalten des Thermostats derart gesteuert, dass in der Prüfstandssituation des NEFZ kalt die Solltemperatur des Kühlmittels auf 70 ˚C eingestellt sei. Sofern sich das Fahrzeug hingegen außerhalb der Prüfstandssituation befinde, sei in den Kennfeldern der Motorsteuerungssoftware die Solltemperatur des Kühlmittels bei 100 ˚C hinterlegt. Weitergehender Vortrag war vom Kläger nicht zu verlangen.

16cc) Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.

III.

17Der Beschluss ist danach im Umfang der Anfechtung aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

18Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

191. Bei der erneuten Prüfung eines Anspruchs des Klägers aus §§ 826, 31 BGB wird das Berufungsgericht die vom Bundesgerichtshof geklärten Maßstäbe (vgl. zum Thermofenster Rn. 12 ff., WM 2021, 2108; Rn. 16 ff., ZIP 2021, 297) zu beachten und den Vortrag des Klägers nach diesen Maßgaben zu bewerten haben.

202. Im Lichte der nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt gegebenenfalls eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens in Betracht (vgl. VIa ZR 335/21 Rn. 18 ff., ZIP 2023, 1421).

21Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am entschieden, dass von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart das Interesse des Käufers geschützt ist, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe in seinem Urteil vom (Az. C-100/21) Art. 3 Nr. 36, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG im Sinne des Schutzes auch der individuellen Interessen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgerüsteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Fahrzeughersteller ausgelegt. Den Schutz der individuellen Interessen des Fahrzeugkäufers im Verhältnis zum Hersteller habe er dabei aus der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG vorgesehenen Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme des Fahrzeugs abgeleitet. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe das auf der Übereinstimmungsbescheinigung beruhende und unionsrechtlich geschützte Vertrauen des Käufers mit dessen Kaufentscheidung verknüpft und dem Unionsrecht auf diesem Weg einen von einer vertraglichen Sonderverbindung unabhängigen Anspruch des Fahrzeugkäufers gegen den Fahrzeughersteller auf Schadensersatz "wegen des Erwerbs" eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs entnommen. Das trage dem engen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen des Käufers auf die Ordnungsmäßigkeit des erworbenen Kraftfahrzeugs einerseits und der Kaufentscheidung andererseits Rechnung. Dieser Zusammenhang wiederum liege der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Erfahrungssatz zugrunde, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwerbe, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte. Dementsprechend könne der vom Gerichtshof geforderte Schutz des Käufervertrauens im Verhältnis zum Fahrzeughersteller, sollten Wertungswidersprüche vermieden werden, nur unter einer Einbeziehung auch der Kaufentscheidung gewährleistet werden (vgl. VIa ZR 335/21 u.a., ZIP 2023, 1421). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. Urteile vom - VII ZR 306/21 und VII ZR 619/21, z.V.b.).

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:081123BVIIZR629.21.0

Fundstelle(n):
QAAAJ-55721