Instanzenzug: Az: 24 U 1844/22vorgehend Az: 20 O 43/22
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Kläger erwarb im Januar 2017 von einem Dritten zu einem Kaufpreis von 28.500 € zzgl. 6,10 € für die Übersendung der Fahrzeugpapiere einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz E 220 Bluetec, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet ist. In dem Fahrzeug kommt eine sogenannte Abgasrückführung (AGR) zur Anwendung, die sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt, jedoch außerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs reduziert wird (sogenanntes Thermofenster). Zudem verfügt das Fahrzeug über eine sogenannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), durch die eine verzögerte Aufwärmung des Motoröls zu niedrigeren Stickoxid-Emissionen führt. Schließlich kommt im Fahrzeug eine sogenannte selektive katalytische Reduktion (SCR-System) - eine Abgasnachbehandlung mit dem Harnstoffgemisch "AdBlue" - zum Einsatz. Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts betroffen.
3Der Kläger hat unter Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung auf Basis einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 300.000 km in erster Instanz zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 20.481,14 € nebst Verzugszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu verurteilen (Klageantrag zu 1), festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs in Annahmeverzug befinde (Klageantrag zu 2), und dem Kläger vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltskosten zu erstatten (Klageantrag zu 3). Das Landgericht hat der Klage in der Hauptsache in Höhe von 18.640,66 € unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung ausgehend von einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 250.000 km nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten, gegen die der Kläger sich zunächst allein mit einem Zurückweisungsantrag gewandt hat, hat das Berufungsgericht durch Versäumnisurteil das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Im Termin zur Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache hat der Kläger nach Veräußerung des Fahrzeugs am an einen Dritten zu einem Kaufpreis von 20.000 € beantragt, die Beklagte unter Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung auf der Basis von 300.000 km zur Zahlung von 163,20 € nebst Verzugszinsen bis zum aus 21.224,42 € und danach aus 163,20 € sowie auf Erstattung vorgerichtlich entstandener Anwaltskosten zu verurteilen und die Erledigung der Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten festzustellen. Das Berufungsgericht hat das klageabweisende Versäumnisurteil aufrechterhalten. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine zuletzt gestellten Anträge weiter.
Gründe
4Die statthafte (vgl. VIa ZR 1031/22, juris Rn. 8 f.; Urteil vom - VIa ZR 1620/22, juris Rn. 5 bis 7) und auch im Übrigen zulässige Revision des Klägers hat teilweise Erfolg.
A.
5Die Revision des Klägers ist dahin auszulegen, der Kläger verfolge in dritter Instanz die im Berufungsurteil (dort Seite 6, untere Hälfte) ausdrücklich aufgeführten Anträge weiter. Einen über den dort aufgeführten Antrag zu 2, die Erledigung des Antrags auf Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten festzustellen, hinausgehenden Antrag auf Feststellung der Teilerledigung des Zahlungsbegehrens hat das Berufungsgericht, das diesen Antrag in den Gründen des Berufungsurteils bei der Wiedergabe der Berufungsanträge nicht referiert hat und auch im Übrigen auf diesen Antrag nicht weiter eingegangen ist, nicht beschieden. Eine Tatbestands- und Urteilsergänzung nach §§ 320, 321 ZPO hat der Kläger insoweit nicht beantragt. Damit ist die Rechtshängigkeit eines solchen Antrags entfallen und könnte in dritter Instanz auch nicht mehr begründet werden. Dem trägt die Revision mit ihrer Antragstellung Rechnung.
B.
6Die Revision des Klägers ist in der Sache nur teilweise begründet.
I.
7Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - im Wesentlichen wie folgt begründet:
8Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Der Kläger habe die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet. Es fehle insoweit an berücksichtigungsfähigem, auf tatsächliche Anhaltspunkte gestütztem Vortrag zu einem vorsätzlichen Verhalten von Repräsentanten der Beklagten. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 scheitere bereits daran, dass es sich bei diesen Normen nicht um Schutzgesetze handele.
II.
9Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nur teilweise stand.
101. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen (und sittenwidrigen) Verhaltens der für sie handelnden Repräsentanten verneint hat. Das Berufungsgericht hat zu Recht erwogen, dass eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der für die Beklagte handelnden Repräsentanten indiziert wäre, wenn eine im Fahrzeug des Klägers verbaute Einrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivierte (vgl. , juris Rn. 15 und 25; Beschluss vom - VII ZR 720/21, juris Rn. 25; Beschluss vom - VII ZR 471/21, MDR 2022, 1340 Rn. 10). Es hat jedoch greifbare Anhaltspunkte für eine solche vom Kläger behauptete Funktionsweise nicht festzustellen vermocht. Hieran ist der Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
112. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung des Thermofensters, der KSR oder des SCR-Systems aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.
12Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
13Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen Schadensersatzes" verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Die Einwände der Revisionserwiderung gegen die dogmatische Herleitung eines solchen Anspruchs geben dem Senat weder Anlass, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzugehen, noch - wie von der Revisionserwiderung gefordert - ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten (vgl. nur aaO, Rn. 27 ff.; anders LG Duisburg, Beschlüsse vom - 1 O 55/19, 1 O 73/20 und 1 O 223/20, jeweils juris). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
14Das Berufungsurteil hat gleichwohl mit der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Maßgabe insoweit Bestand, als der Kläger in der Berufungsinstanz zuletzt eine Verurteilung der Beklagten ohne Zug-um-Zug-Vorbehalt, die Feststellung der Erledigung seines Antrags auf Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten und die Erstattung vorgerichtlich verauslagter Anwaltskosten begehrt hat.
15Diese Anträge hat der Kläger in das Berufungsverfahren nicht zulässig eingeführt. Durch den Verzicht auf den einschränkenden Zusatz einer Verurteilung nur Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs hat der Kläger sein Begehren über die erstinstanzliche Verurteilung zu seinen Gunsten hinaus erweitert. Soweit er den Feststellungsantrag zum Gegenstand einer Erledigungsfeststellung gemacht und den Antrag auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten weiterverfolgt hat, hat er sich gegen seine Beschwer aus dem klageabweisenden Urteil erster Instanz gewandt. Alles dies setzte entweder eine zulässige eigene Berufung des Klägers oder zumindest eine fristgemäße Anschlussberufung voraus. Der Kläger hat selbst Berufung gegen das landgerichtliche Urteil nicht eingelegt. Bei interessengerechter Auslegung (vgl. VIa ZR 652/21, juris Rn. 9) hat er zwar durch die Änderung seiner Anträge nach Veräußerung des Fahrzeugs mit Schriftsatz vom eine Anschließung an die Berufung der Beklagten im Sinne von § 524 Abs. 1 Satz 2 ZPO vorgenommen. Eine ausdrückliche Erklärung, es werde Anschlussberufung eingelegt, war nicht erforderlich (vgl. , NJW 2020, 3038 Rn. 19). Die Anschlussberufung ist allerdings unzulässig, weil die Anschlussschrift nach Ablauf der ordnungsgemäß gesetzten Frist gemäß § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO eingereicht worden ist. Dem Kläger ist mit Verfügung des Vorsitzenden - zugestellt am - eine Frist von zwei Monaten "ab Zustellung dieser Verfügung" zur Erwiderung auf die Berufungsbegründung gesetzt worden.
IV.
16Im Übrigen ist das Berufungsurteil gemäß § 562 Abs. 1 ZPO in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere ist das Zahlungsbegehren entgegen den Einwänden der Revisionserwiderung nicht insgesamt unbegründet, weil der Senat mit dem Landgericht von einer geschätzten Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 250.000 km auszugehen hätte.
17Das Landgericht hat die Beklagte zwar zur Zahlung von 18.640,66 € verurteilt und dabei eine Nutzungsentschädigung auf Basis einer geschätzten Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 250.000 km in Abzug gebracht. Damit steht allerdings nicht rechtskräftig fest, dass der Kläger sich eine entsprechend berechnete Nutzungsentschädigung anrechnen lassen muss. Vielmehr handelt es sich insoweit um einen unselbständigen Rechnungsposten innerhalb eines einheitlichen vom Kläger geltend gemachten Schadens (vgl. , juris Rn. 9). Der tatrichterlichen Entscheidung des Berufungsgerichts, in welcher Höhe Nutzungsvorteile anzurechnen sind, kann der Senat nicht vorgreifen.
18Der Senat verweist die Sache daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück, das dem Kläger Gelegenheit zu geben haben wird, zur Berechnung seines Schadens auf der Grundlage des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) näher vorzutragen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:110923UVIAZR83.23.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-50365