Normenkontrollantrag gegen Hausordnung einer Flüchtlingsunterkunft
Leitsatz
Das Rechtsschutzinteresse für einen Normenkontrollantrag besteht trotz Erledigung der angegriffenen Rechtsvorschrift dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann. Das ist nicht der Fall bei der Hausordnung einer Flüchtlingsunterkunft, die nicht auf eine kurzfristige Geltungsdauer angelegt ist und deren Regelungen nicht als unmittelbar geltende Gebote und Verbote in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreifen.
Gesetze: § 47 Abs 1 Nr 2 VwGO, § 47 Abs 2 S 1 VwGO, § 47 AsylVfG 1992, Art 13 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG
Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 12 S 4089/20 Urteil
Tatbestand
1Der Normenkontrollantrag richtet sich gegen Vorschriften der Hausordnung der Landeserstaufnahmeeinrichtung Freiburg in der vom bis zum geltenden Fassung (im Folgenden: Hausordnung). Nach den im Revisionsverfahren noch im Streit stehenden Regelungen wird das Recht, gemeinsame Zimmerkontrollen durchzuführen, in der Regel zusätzlich auf die Alltagsbetreuung und den Sicherheitsdienst im Rahmen von § 11 dieser Hausordnung übertragen (§ 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 der Hausordnung). § 11 Abs. 1 der Hausordnung berechtigt den Sicherheitsdienst zu Kontrollen der Bewohnerinnen und Bewohner sowie sonstiger Personen beim Betreten der Einrichtung und auf dem Gelände auf das Mitführen bestimmter Gegenstände. Nach § 11 Abs. 3 der Hausordnung dürfen die Einrichtungsleitung und deren Beauftragte die Zimmer der Bewohnerinnen und Bewohner nach Aufforderung oder zu vorher angekündigten Terminen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung betreten. Nach § 11 Abs. 4 der Hausordnung können die Beschäftigten des Regierungspräsidiums, des Sicherheitsdienstes und der Alltagsbetreuung unter bestimmten Voraussetzungen die Zimmer auch in Abwesenheit der betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner öffnen und betreten.
2Während die Antragsteller in der Aufnahmeeinrichtung untergebracht waren, haben sie gegen diese Vorschriften im Dezember 2020 das Normenkontrollverfahren eingeleitet. Der Antragsteller zu 2 hat die Aufnahmeeinrichtung im September 2021, der Antragsteller zu 5 hat sie im Oktober 2021 verlassen.
3Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom festgestellt, dass § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung unwirksam gewesen seien, und den gegen § 11 Abs. 1 der Hausordnung gerichteten Antrag abgelehnt. Bei den angegriffenen Normen handele es sich um im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Soweit sich der Antrag gegen § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung richte, stehe deren Außerkrafttreten der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass die Antragsteller die Aufnahmeeinrichtung verlassen hätten. Sie hätten vor diesen Ereignissen im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie aus Art. 13 Abs. 1 GG geltend machen können. Auch nach Beendigung des Aufenthalts in der Aufnahmeeinrichtung könnten sie sich auf ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung berufen. Art. 19 Abs. 4 GG gebiete die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen tiefgreifender oder gewichtiger Grundrechtseingriffe, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache kaum erlangen könne. Zwar sei die Hausordnung nicht auf eine kurze Geltungsdauer angelegt, doch sei der Zeitraum, in dem die Bewohner der Einrichtung von der Hausordnung betroffen seien, von Gesetzes wegen auf eine vorübergehende Zeitspanne ausgerichtet, während derer eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache typischerweise nicht zu erreichen sei. Unzulässig sei der Antrag hingegen, soweit er sich gegen § 11 Abs. 1 der Hausordnung richte. Hierdurch seien die Antragsteller nicht derart tiefgreifend und schwerwiegend in ihren Grundrechten eingeschränkt worden, dass im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse begründet sei. Im Umfang seiner Zulässigkeit sei der Antrag auch begründet, da die angegriffenen Vorschriften einer hinreichend bestimmten normativen Grundlage entbehrten.
4Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision macht der Antragsgegner geltend, der Antrag sei insgesamt unzulässig. Das Verlassen der Einrichtung sei der Sphäre der Antragsteller zuzurechnen und führe zum Wegfall ihres Rechtsschutzinteresses. Der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht einen sich typischerweise kurzfristig erledigenden, tiefgreifenden und schweren Grundrechtseingriff angenommen.
5Die Antragsteller verteidigen das angefochtene Urteil. Zur Begründung ihrer Anschlussrevision tragen sie vor, das Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses bei einem Grundrechtseingriff, der sich typischerweise schnell erledige, erfordere wegen der objektiven Klärungsfunktion des Normenkontrollverfahrens nicht, dass dieser Eingriff schwerwiegend oder tiefgreifend gewesen sei. Im Übrigen sei diese Voraussetzung im Hinblick auf § 11 Abs. 1 der Hausordnung auch erfüllt gewesen.
6Der Antragsgegner tritt der Anschlussrevision entgegen.
Gründe
7Die zulässige Revision des Antragsgegners ist begründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat im Hinblick auf § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung unter Verstoß gegen Bundesrecht die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags bejaht, der daher auch insoweit abzulehnen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Zwar richtet sich der Normenkontrollantrag gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO (1.), doch fehlt den Antragstellern insgesamt das Rechtsschutzinteresse (2.). Aus diesem Grunde ist die Anschlussrevision unbegründet (3.).
81. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Annahme des Normenkontrollgerichts, die angegriffenen Regelungen seien Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Dessen Anwendung durch den Verwaltungsgerichtshof unterliegt revisionsgerichtlicher Kontrolle, obwohl die Norm nur eine Ermächtigung an den Landesgesetzgeber enthält, den Normenkontrollantrag für andere im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften zu öffnen. Davon hat Baden-Württemberg durch § 4 AGVwGO BW Gebrauch gemacht; allein diese Vorschrift kommt als unmittelbare Rechtsgrundlage der Statthaftigkeit eines Normenkontrollverfahrens in Betracht. Der Verwaltungsgerichtshof hat indessen die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags am Maßstab beider Vorschriften geprüft, ohne zwischen ihnen zu differenzieren. Sein Verständnis der landesrechtlichen Vorschrift beruht auf der Auslegung der revisiblen Norm des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, an die er sich gebunden gefühlt hat. § 4 AGVwGO BW hat danach mit dem Begriff der "Rechtsvorschrift" den entsprechenden bundesrechtlichen Begriff in § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO übernommen (vgl. 7 CN 1.15 - BVerwGE 154, 247 Rn. 13 f.).
9Wie der Verwaltungsgerichtshof im Einklang mit Bundesrecht ausgeführt hat, sind nach dem gebotenen weiten Begriffsverständnis auch solche abstrakt-generellen Regelungen der Exekutive als Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO anzusehen, die rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bürger entfalten und auf diese Weise dessen subjektiv-öffentliche Rechte unmittelbar berühren. Einer Regelung kommt unmittelbare Außenwirkung zu, wenn sie nicht nur binnenrechtlich wirkt, sondern Bindungswirkung auch gegenüber den Bürgern oder anderen Rechtssubjekten entfaltet und durch sie gleichsam als "Schlussstein" die gesetzlichen Vorgaben konkretisiert werden ( 6 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 7 m. w. N.). Das hat der Verwaltungsgerichtshof hier angenommen und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass nach seiner irrevisiblen Auslegung des § 6 Abs. 3 FlüAG BW, an die der Senat gebunden ist (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO), § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung selbstständige, abstrakt-generelle Rechtssätze mit Eingriffsbefugnissen darstellten. Dieses Verständnis ist mit dem bundesrechtlichen Begriff der Rechtsvorschrift vereinbar.
102. Den Antragstellern fehlt indessen ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der angegriffenen Regelungen, die während der Anhängigkeit des Normenkontrollverfahrens außer Kraft getreten sind.
11Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Zwar geht § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Regelfall der noch geltenden Rechtsvorschrift aus. Ist die angegriffene Norm während der Anhängigkeit des Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, bleibt er aber zulässig, wenn der Antragsteller weiterhin geltend machen kann, durch die zur Prüfung gestellte Norm oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt oder verletzt worden zu sein. Darüber hinaus muss er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung haben, dass die Rechtsvorschrift unwirksam war (stRspr, vgl. 3 CN 1.21 - NVwZ 2023, 1000 Rn. 9 m. w. N.). An diesem berechtigten Interesse mangelt es den Antragstellern.
12Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen und bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses anzunehmen. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht trotz Erledigung unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann (stRspr, vgl. - BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.; Kammerbeschlüsse vom - 2 BvR 2601/17 - juris Rn. 32 ff. und vom - 2 BvR 676/20 - juris Rn. 30 f.; 3 CN 1.21 - NVwZ 2023, 1000 Rn. 13). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
13Die Hausordnung stellt bereits keine Maßnahme dar, die sich typischerweise erledigt, bevor gerichtlicher Rechtsschutz dagegen erlangt werden kann. Eine Hausordnung einer Flüchtlingsaufnahmeeinrichtung ist, wie der Verwaltungsgerichtshof richtig erkannt hat, nicht auf eine nur kurzfristige Geltung angelegt, sondern soll grundsätzlich dauerhaft das Benutzungsverhältnis hinsichtlich der Einrichtung regeln. Dies gilt auch für die hier zur Prüfung gestellten Regelungen. Dem entspricht es, dass die Hausordnung zwar das Datum ihres Inkrafttretens, aber nicht den Tag ihres Außerkrafttretens bestimmt (vgl. § 14 der Hausordnung). Sie wurde erst nach knapp zweijähriger Geltungsdauer zum durch eine Neuregelung ersetzt.
14Eine besondere Schutzwürdigkeit des von den Antragstellern geltend gemachten Klärungsinteresses ist ferner deswegen zu verneinen, weil die angegriffenen Regelungen nicht als unmittelbar geltende Gebote und Verbote in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreifen. Damit bewirken sie noch keinen Grundrechtseingriff, gegen den nach dem typischen Geschehensablauf gerichtlicher Rechtsschutz nach Erledigung nur im Wege des Normenkontrollverfahrens erlangt werden kann. Daher kommt es entgegen der Auffassung des Normenkontrollgerichts auch nicht darauf an, für welchen Zeitraum sich die asylsuchenden Ausländer nach Maßgabe des § 47 AsylG in der Aufnahmeeinrichtung und damit im räumlichen Geltungsbereich der Hausordnung aufhalten.
15Die unmittelbare Belastung der Betroffenen tritt vielmehr erst durch die aufgrund der angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen ein. Hiergegen stehen den Betroffenen Rechtsschutzmöglichkeiten im verfassungsrechtlich gebotenen Umfang zur Verfügung.
16Nach der insoweit bindenden (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO) Auslegung der landesrechtlichen Normen durch das Normenkontrollgericht handelt es sich bei diesen um abstrakt-generelle Rechtssätze mit Eingriffsbefugnissen (UA S. 17). Auch wenn diese Rechtssätze nach der Auffassung des Normenkontrollgerichts die subjektive Rechtsstellung der Benutzer der Einrichtung unmittelbar berühren konnten, stellen sie für sich genommen noch keinen direkten Eingriff in subjektive Rechtspositionen dar. Ein solcher erfolgt erst durch die Wahrnehmung dieser Befugnisse gegenüber bestimmten Betroffenen im Einzelfall. Dabei eröffnen die angegriffenen Regelungen zudem, wie sich aus der Verwendung der Worte "in der Regel" (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 der Hausordnung), "dürfen" (vgl. § 11 Abs. 3 der Hausordnung) und "können" (vgl. § 11 Abs. 4 der Hausordnung) ergibt, gewisse Spielräume, von deren Wahrnehmung im Einzelfall Umfang und Intensität des jeweiligen Eingriffs abhängen. Dieses Verständnis der angegriffenen Regelungen als Rechtsgrundlagen für Einzelfallmaßnahmen liegt auch dem Normenkontrollurteil zugrunde, nach dem die in der Einrichtung tätigen Personen die Befugnisse aus der Hausordnung regelmäßig gegenüber den Antragstellern in Anspruch genommen und angewandt haben (UA S. 25 f.).
17Einzelfallmaßnahmen, für welche die Hausordnung als Rechtsgrundlage herangezogen wird, unterliegen in vollem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, die den verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutz gewährleistet. Das gilt unabhängig davon, dass sich diese Maßnahmen ihrerseits typischerweise durch ihren Vollzug und damit kurzfristig erledigen. Sie können in diesem Fall - soweit es sich um Verwaltungsakte handelt - mittels der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) und im Übrigen mittels der Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) überprüft werden. Namentlich setzt in derartigen Fällen die Zulässigkeit verwaltungsgerichtlicher Rechtsbehelfe nicht voraus, dass sich diese gegen Verwaltungsakte richten. Ein schutzwürdiges ideelles Interesse an der Rechtswidrigkeitsfeststellung im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO kann im Hinblick auf die Art des Eingriffs, insbesondere im grundrechtlich geschützten Bereich, verbunden mit dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, zu bejahen sein ( 1 C 2.95 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 127 S. 7 f.). Auch im Übrigen ist es zumutbar, gerichtlich gegen Einzelmaßnahmen vorzugehen (vgl. 3 BN 1.15 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 210 Rn. 5).
18Darüber hinaus wird die verfassungsrechtliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes dadurch gesichert, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch vorbeugender Rechtsschutz erlangt werden kann. Zwar stellt die Verwaltungsgerichtsordnung ein System nachgängigen Rechtsschutzes bereit und geht davon aus, dass dieses zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich ausreicht. Vorbeugende Rechtsbehelfe sind aber dann zulässig, wenn ein besonderes schützenswertes Interesse gerade an der Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes besteht, wenn mit anderen Worten der Verweis auf den nachgängigen Rechtsschutz - einschließlich des einstweiligen Rechtsschutzes - mit für den Kläger unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (stRspr, vgl. 6 C 7.13 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 104 Rn. 17 m. w. N.). Ob eine solche Unzumutbarkeit vorliegt, bedarf der Prüfung im Einzelfall, erscheint aber etwa mit Blick auf Zimmerkontrollen nach Maßgabe von Regelungen, wie sie hier zur Prüfung gestellt sind, nicht von vornherein ausgeschlossen.
19Ein weitergehendes Verständnis des Rechtsschutzinteresses folgt nicht aus der von den Antragstellern ins Feld geführten objektiven Kontrollfunktion der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle. Diese weist eine doppelte Funktion als subjektives Rechtsschutzverfahren und als objektives Prüfungsverfahren auf. Die erforderliche subjektive Betroffenheit ist als eine Voraussetzung der Zulässigkeit des Verfahrens ausgestaltet. Sie und die weiteren prozessualen Voraussetzungen des Normenkontrollverfahrens bestimmen die Frage, ob und in welcher Hinsicht das Normenkontrollgericht tätig werden darf. Erst wenn das Gericht auf der Grundlage eines in dieser Weise zulässigen Antrags in eine materielle Prüfung der Gültigkeit der angegriffenen Vorschrift eingetreten ist, tritt die Funktion des Normenkontrollverfahrens als eines auch objektiven Verfahrens in den Vordergrund (vgl. 4 NB 3.91 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 59 S. 84). Das Vorliegen der erforderlichen subjektiven Voraussetzungen, zu denen das fortbestehende Rechtsschutzinteresse im Falle der Erledigung der angegriffenen Regelungen gehört, kann daher nicht durch den Verweis auf die objektive Kontrollfunktion ersetzt werden. Dies gilt für die Normenkontrolle auch deswegen, weil die Gewährleistung des Individualrechtsschutzes durch die Neufassung des § 47 VwGO im Rahmen des 6. VwGO-Änderungsgesetzes ein stärkeres Gewicht erhalten hat (BT-Drs. 13/3993 S. 10).
20Art. 19 Abs. 4 GG erfordert auch im Übrigen nicht, den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Antragsteller zu bejahen, um ihnen den Zugang zur Normenkontrolle trotz Erledigung der angegriffenen Regelungen zu eröffnen. Das Normenkontrollverfahren ist verfassungsrechtlich nicht geboten, da über die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten jedes subjektive Recht durchgesetzt werden kann (stRspr, vgl. 7 CN 1.15 - BVerwGE 157, 247 Rn. 21 m. w. N.). Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gebietet zudem selbst bei tiefgreifenden Eingriffen in Grundrechte nicht, ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse anzunehmen, wenn dies nicht zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes erforderlich ist (vgl. zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 31). Schließlich gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG keine Hauptsacheentscheidung in jedem Einzelfall oder gar einen vollständigen Instanzenzug ( 8 C 39.12 - juris Rn. 32).
21Nach diesen Maßstäben bietet die Verwaltungsgerichtsordnung den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Rechtsschutzmöglichkeiten gegen behördliches Vorgehen auf der Grundlage von Regelungen wie den hier angegriffenen. Derartige Maßnahmen können verwaltungsgerichtlich überprüft werden; hierfür stehen die Fortsetzungsfeststellungsklage, die Feststellungsklage und bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen vorbeugende Rechtsbehelfe zur Verfügung. Dabei unterliegen auch die als Rechtsgrundlage in Anspruch genommenen Regelungen der Kontrolle. Einer zusätzlichen Überprüfung nach ihrem Außerkrafttreten im Wege der Normenkontrolle bedarf es daher von Verfassungs wegen nicht. Abgesehen davon betrug die Geltungsdauer der angegriffenen Regelungen nahezu zwei Jahre, so dass während dieser Zeit die Durchführung eines Normenkontrollverfahrens jedenfalls nicht von vornherein typischerweise ausgeschlossen war.
223. Die Anschlussrevision hat keinen Erfolg, da sie unbegründet ist. Im Ergebnis zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof den Normenkontrollantrag für unzulässig erachtet, soweit er sich gegen § 11 Abs. 1 der Hausordnung richtet. Hierfür fehlt den Antragstellern aus den dargelegten Gründen ebenfalls das Rechtsschutzinteresse. Ob dieses darüber hinaus aus den im Normenkontrollurteil angeführten Gründen zu verneinen ist, bedarf daher keiner Entscheidung.
234. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2 VwGO. Der Senat hat die offensichtlich unrichtige Bezeichnung der Antragsteller als Kläger und des Normenkontrollverfahrens als Berufungsverfahren in der Urteilsformel, die in der mündlichen Verhandlung verkündet wurde, in entsprechender Anwendung des § 118 VwGO berichtigt.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:150623U1CN1.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 42
HAAAJ-49150