Verdeckte Arbeitnehmerüberlassung - Darlegungslast
Gesetze: § 1 Abs 1 S 2 AÜG, § 1 Abs 1 S 5 AÜG, § 1 Abs 1 S 6 AÜG, § 9 Abs 1 Nr 1b AÜG, § 10 Abs 1 S 1 AÜG, § 12 Abs 1 S 2 AÜG, § 611a Abs 1 S 6 BGB
Instanzenzug: ArbG Darmstadt Az: 5 Ca 182/18 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 5 Sa 1082/21 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen infolge verdeckter Arbeitnehmerüberlassung ein Arbeitsverhältnis besteht.
2Der Kläger war seit Januar 2012 als Systemingenieur bei der Firma E GmbH zu einem monatlichen Bruttogehalt von ca. 5.000,00 Euro angestellt. Er wurde bei der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilindustrie, eingesetzt, um dort innerhalb eines der Abteilung SPS (Service Programming System) zugeordneten Teams Steuergeräte für produzierte Fahrzeuge zu betreuen. Dem Team gehörten sowohl Mitarbeiter der Beklagten als auch Arbeitnehmer aus Fremdfirmen an.
3Der Kläger hat die Auffassung vertreten, zwischen den Parteien sei ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen, weil er bei der Beklagten nicht aufgrund eines Werkvertrags, sondern im Rahmen einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung eingesetzt worden sei. Er hat behauptet, der zwischen der Beklagten und der E GmbH vertraglich festgelegte Leistungsgegenstand betreffe die Überlassung von Arbeitnehmern, deren konkrete Aufgaben sich nach den Weisungen der Beklagten richteten. Es sei daher Sache der Beklagten gewesen, den Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen vorzulegen und Tatsachen vorzutragen, die gegen eine Arbeitnehmerüberlassung sprächen.
4Der Kläger hat beantragt,
5Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der Kläger sei als Erfüllungsgehilfe der E GmbH im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags (Rahmenvertrags) tätig gewesen, der die zu erbringenden Leistungen ua. in dem Bereich SPS einschließlich Leistungsverzeichnis enthalte. Die Verteilung der Arbeit innerhalb der Teams sei anhand einer zuvor zwischen der Beklagten und der E GmbH abgestimmten Zuordnung der Fremdfirmenmitarbeiter erfolgt. Da der Kläger nicht substantiiert zur tatsächlichen Durchführung des Vertragsverhältnisses, insbesondere zur Eingliederung und Weisungsstruktur, vorgetragen habe, obliege es ihr nicht, nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast den Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen mit dessen Vertragsarbeitgeberin konkret darzulegen.
6Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung des Klägers abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Gründe
7Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht abgeändert und der Klage stattgegeben.
8I. Die allgemeine Feststellungsklage ist zulässig.
91. Ein Arbeitnehmer kann mit der allgemeinen Feststellungsklage das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zu einem Entleiher auf Grundlage der Vorschriften des AÜG geltend machen ( - Rn. 17).
102. Der Feststellungsantrag genügt den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die essentialia negotii des Arbeitsvertrags (vgl. dazu - Rn. 41 mwN) können dem Klageantrag unter Berücksichtigung der Klagebegründung, die - wie bei anderen auslegungsbedürftigen Klageanträgen - zur Ermittlung des Inhalts des erstrebten Arbeitsverhältnisses herangezogen werden kann (vgl. - Rn. 18), entnommen werden. Der Antrag bezeichnet die Arbeitsvertragsparteien und den Beschäftigungsbeginn. Die Art der Arbeitsleistung sowie deren zeitlicher Umfang ergeben sich aus der Klagebegründung. Danach bezieht sich der Klageantrag auf eine Tätigkeit als Systemingenieur mit einer sich aus den Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie für das Land Hessen ergebenden wöchentlichen Arbeitszeit.
11II. Die Klage ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler erkannt, dass zwischen den Parteien infolge verdeckter Arbeitnehmerüberlassung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 iVm. § 9 Abs. 1 Nr. 1a Halbs. 1 AÜG kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis begründet worden ist.
121. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AÜG kommt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zustande, wenn der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer unwirksam ist. Das ist regelmäßig der Fall, wenn die Arbeitnehmerüberlassung entgegen § 1 Abs. 1 Satz 5 und 6 AÜG nicht ausdrücklich als solche bezeichnet und die Person des Leiharbeitnehmers nicht konkretisiert worden ist (§ 9 Abs. 1 Nr. 1a Halbs. 1 AÜG).
132. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung die rechtlichen Grundsätze zugrunde gelegt, anhand deren der Senat die Arbeitnehmerüberlassung von der Tätigkeit eines Arbeitnehmers bei einem Dritten aufgrund eines Werk- oder Dienstvertrags abgrenzt. Dabei ist es zutreffend von einer abgestuften Darlegungslast ausgegangen.
14a) Eine den Vorschriften des AÜG unterfallende Überlassung liegt nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG vor, wenn der Arbeitnehmer in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert ist und dessen Weisungen unterliegt. Arbeitnehmerüberlassung iSd. AÜG ist durch eine spezifische Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Verleiher und Entleiher einerseits (dem Arbeitnehmerüberlassungsvertrag) und zwischen Verleiher und Arbeitnehmer andererseits (dem Leiharbeitsvertrag) sowie durch das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Entleiher gekennzeichnet. Notwendiger Inhalt eines Arbeitnehmerüberlassungsvertrags ist die Verpflichtung des Verleihers gegenüber dem Entleiher, diesem zur Förderung von dessen Betriebszwecken Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Seine Vertragspflicht ist erfüllt, wenn er den Arbeitnehmer ausgewählt und dem Entleiher zur Verfügung gestellt hat ( - Rn. 31; - 9 AZR 337/21 - Rn. 44).
15b) Von der Arbeitnehmerüberlassung zu unterscheiden ist die Tätigkeit eines Arbeitnehmers bei einem Dritten aufgrund eines Werk- oder Dienstvertrags. In diesen Fällen wird der Unternehmer für einen anderen tätig. Er organisiert die zur Erreichung eines wirtschaftlichen Erfolgs notwendigen Handlungen nach eigenen betrieblichen Voraussetzungen und bleibt für die Erfüllung der in dem Vertrag vorgesehenen Dienste oder für die Herstellung des geschuldeten Werks gegenüber dem Drittunternehmen verantwortlich. Die zur Ausführung des Dienst- oder Werkvertrags eingesetzten Arbeitnehmer unterliegen den Weisungen des Unternehmers und sind dessen Erfüllungsgehilfen. Der Werkbesteller kann jedoch, wie sich aus § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt, dem Werkunternehmer selbst oder dessen Erfüllungsgehilfen Anweisungen für die Ausführung des Werks erteilen. Entsprechendes gilt für Dienstverträge. Solche Dienst- oder Werkverträge werden vom AÜG nicht erfasst ( - Rn. 32; - 9 AZR 323/21 - Rn. 18).
16c) Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist von der projektbezogenen werkvertraglichen Anweisung iSd. § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden. Die werkvertragliche Anweisung ist sachbezogen und ergebnisorientiert. Sie ist gegenständlich auf die zu erbringende Werkleistung begrenzt. Das arbeitsrechtliche Weisungsrecht ist demgegenüber personenbezogen, ablauf- und verfahrensorientiert. Es beinhaltet Anleitungen zur Vorgehensweise und weiterhin die Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts sind ( - Rn. 33; - 9 AZR 323/21 - Rn. 19; allg. zum arbeitsvertraglichen Weisungsrecht vgl. - Rn. 35 ff., BAGE 173, 111).
17d) Der Inhalt der Rechtsbeziehung ist sowohl auf Grundlage der ausdrücklichen Vereinbarungen der Vertragsparteien als auch unter Berücksichtigung der praktischen Durchführung des Vertrags zu bestimmen. § 12 Abs. 1 Satz 2 AÜG bestimmt, dass letztere maßgeblich ist, wenn Vertrag und dessen tatsächliche Durchführung einander widersprechen.
18aa) In einem auf Arbeitnehmerüberlassung gerichteten Vertrag verpflichtet sich der Verleiher gegenüber dem Entleiher, diesem zur Förderung von dessen Betriebszwecken Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Ergibt bereits die Auslegung der ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen, dass das Rechtsverhältnis der kooperierenden Unternehmen als Arbeitnehmerüberlassung ausgestaltet ist, liegt Arbeitnehmerüberlassung vor, ohne dass es auf die praktische Handhabung der Vertragsbeziehung ankommt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Entleiher das ihm übertragene Weisungsrecht gegenüber dem überlassenen Arbeitnehmer in der betrieblichen Praxis tatsächlich ausübt (vgl. - Rn. 46).
19bb) Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 AÜG ist die Bezeichnung im Vertrag nur dann unbeachtlich, wenn die Vertragsparteien abweichend von den getroffenen Vereinbarungen tatsächlich Arbeitnehmerüberlassung praktizieren. Die Vorschrift löst den Widerspruch zwischen Vertrag und seiner tatsächlichen Durchführung - ebenso wie § 611a Abs. 1 Satz 6 BGB im Hinblick auf den Arbeitnehmerstatus - zugunsten der Arbeitnehmerüberlassung auf (NK-GA/Ulrici 2. Aufl. AÜG § 12 Rn. 10; Schüren/Hamann/Hamann AÜG 6. Aufl. § 1 Rn. 170; Thüsing/Thüsing AÜG 4. Aufl. § 12 Rn. 17a; aA HWK/Höpfner 10. Aufl. AÜG § 12 Rn. 5, dem zufolge der Vorrang der Vertragsdurchführung in beide Richtungen gilt). Dem liegt die Wertung zugrunde, dass es für die Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes keinen Unterschied machen kann, ob sich der auf Arbeitnehmerüberlassung gerichtete wirkliche Wille der Vertragsparteien unmittelbar aus dem schriftlich niedergelegten Vertragstext oder erst aus der vom Willen der Vertragsparteien getragenen praktischen Durchführung des Vertrags ergibt ( - zu II 2 der Gründe, BAGE 67, 124). Mit der Regelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 AÜG hat der Gesetzgeber die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts umgesetzt (BT-Drs. 18/9232 S. 28), der zufolge sich die Vertragsparteien dem Anwendungsbereich des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes nicht durch Vertragsgestaltung entziehen können. Das Eingreifen zwingender Schutzvorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes lässt sich nicht dadurch vermeiden, dass die Vertragsparteien einen vom Geschäftsinhalt abweichenden Vertragstyp wählen (vgl. - Rn. 21; - 7 AZR 269/07 - Rn. 15 mwN).
20e) Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen darzulegen und zu beweisen, aus denen sich ergeben soll, dass gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher als zustande gekommen gilt. Die Grundsätze der sekundären Darlegungslast können jedoch eine Abstufung der Darlegungs- und Beweislast verlangen. Kann eine darlegungspflichtige Partei die erforderlichen Tatsachen nicht vortragen, weil sie außerhalb des für ihren Anspruch erheblichen Geschehensablaufs steht, genügt das einfache Bestreiten durch den Gegner nicht, wenn dieser die wesentlichen Umstände kennt und ihm nähere Angaben zuzumuten sind. Hier kann von ihm das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsache unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden. Erleichterungen der sekundären Darlegungslast greifen aber nur ein, wenn die darlegungspflichtige Partei alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft hat und sie dennoch ihrer primären Darlegungslast nicht nachkommen kann (vgl. - Rn. 35; - 9 AZR 323/21 - Rn. 21).
213. Danach ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG für eine Arbeitnehmerüberlassung vorliegen. Der Kläger hat vorgetragen, bei der Beklagten nicht aufgrund eines Werkvertrags, sondern im Rahmen einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung eingesetzt worden zu sein. Dazu hat er behauptet, der zwischen der Beklagten und der E GmbH vertraglich festgelegte Leistungsgegenstand sei derart unbestimmt, dass er erst durch die Weisungen der Beklagten konkretisiert werden müsse, und damit zum Ausdruck gebracht, der Inhalt der Vereinbarung zwischen der Beklagten und seiner Vertragsarbeitgeberin habe eine Arbeitnehmerüberlassung zum Gegenstand. Zudem hat er auf einen gegen die Beklagte verhängten Bußgeldbescheid des Hauptzollamts Darmstadt verwiesen, dem zufolge der Rahmenvertrag zwischen der Beklagten und seiner Vertragsarbeitgeberin Hinweise auf eine Arbeitnehmerüberlassung enthalte. Zu einem weitergehenden Tatsachenvortrag war der Kläger nicht in der Lage, weil ihm der konkrete Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen nicht bekannt war. Es wäre nunmehr im Wege der sekundären Darlegungslast Sache der Beklagten gewesen, dem entgegenzutreten und den Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen darzulegen. Dies ist nicht erfolgt, obwohl das Landesarbeitsgericht der Beklagten mit Beschluss vom entsprechende Hinweise und Auflagen erteilt hat.
224. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Kläger und seiner Vertragsarbeitgeberin ist gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG unwirksam. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass bei der Beschäftigung des Klägers die Vorgaben des § 1 Abs. 1 Satz 5 und 6 AÜG eingehalten worden sind, dh. dass die Arbeitnehmerüberlassung im Überlassungsvertrag ausdrücklich als solche bezeichnet und die Person des Klägers vor der Überlassung konkretisiert worden ist.
23III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:250723.U.9AZR278.22.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 2291 Nr. 40
NJW 2023 S. 10 Nr. 44
TAAAJ-48388