Anwendung von Jugendstrafrecht: Anforderungen an Darlegungen im Urteil zum Erziehungsgedanken
Gesetze: § 2 Abs 1 JGG, § 18 Abs 2 JGG
Instanzenzug: LG Gera Az: 9 KLs 128 Js 25554/22 jug
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Landfriedensbruch, zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Zudem hat es eine Kompensationsentscheidung getroffen, wonach drei Monate der Jugendstrafe als vollstreckt gelten. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und ist im Übrigen unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2Die erhobene Sachrüge deckt zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf; der Strafausspruch hält hingegen revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.
31. Es ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei dem Angeklagten – zur Tatzeit Heranwachsender – Jugendstrafrecht angewendet und wegen Schwere der Schuld Jugendstrafe verhängt hat. Die Erwägungen des Landgerichts zur Höhe der Jugendstrafe erweisen sich hingegen als rechtsfehlerhaft; sie entsprechen nicht den Anforderungen des § 18 Abs. 2 JGG.
4a) Nach dieser Vorschrift ist auch dann, wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen Schwere der Schuld verhängt wird, bei der Bemessung der Strafhöhe der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist zwar die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck kommende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu beachten. Die Begründung darf aber nicht wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe unter erzieherischen Gesichtspunkten abzuwägen. Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Eine formelhafte Erwähnung der erzieherischen Erforderlichkeit der verhängten Jugendstrafe genügt insoweit nicht (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; Urteile vom – 2 StR 217/19 und vom – 2 StR 433/20, juris Rn. 29; , juris Rn. 14; Urteil vom – 4 StR 177/22, juris Rn. 6; Beschluss vom – 3 StR 481/22, juris Rn. 14 ff.).
5Zwar verliert der Erziehungsgedanke mit fortschreitendem Alter des Täters an Bedeutung, wohingegen – insbesondere bei besonders gravierenden Straftaten – das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs immer mehr in den Vordergrund tritt. Gleichwohl müssen grundsätzlich auch dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Verhängung der Jugendstrafe bereits das 21. Lebensjahr vollendet hat, die erzieherischen Auswirkungen der Strafe beachtet und abgewogen werden (vgl. Senat, Beschluss vom – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; vgl. zum Sonderfall eines fehlenden Erziehungsbedarfs Senat, Urteil vom – 2 StR 217/19, NStZ 2020, 301).
6b) Ungeachtet des Umstandes, dass in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Frage, in welchem Ausmaß dies zu geschehen hat, nicht abschließend geklärt ist, lassen die Urteilsgründe im vorliegenden Fall besorgen, dass es die zu berücksichtigenden erzieherischen Gesichtspunkte nicht hinreichend in den Blick genommen und das Gewicht des Tatunrechts nicht gegen die Folgen der Strafe gerade für die weitere Entwicklung des im Tatzeitraum 19 Jahre alten Angeklagten abgewogen hat.
7Es ist bereits im Ausgangspunkt bedenklich, wenn das Landgericht gestützt auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats des , StV 2019, 466) davon ausgeht, bei einem 23 Jahre alten Angeklagten rücke statt des Erziehungsgedankens entsprechend dem Erwachsenenstrafrecht der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs in den Vordergrund. Eine solche Festlegung ist der genannten Entscheidung nicht zu entnehmen. Der Senat hat dort vielmehr betont, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Erziehungsgedanke bei der Bemessung der Jugendstrafe grundsätzlich immer einzustellen sei und die Urteilsgründe in jedem Fall erkennen lassen müssten, dass diesem die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden sei. Soweit andere Strafzwecke, etwa derjenige eines gerechten Schuldausgleichs, ebenfalls in Ansatz zu bringen seien, sei vom Tatgericht im Rahmen einer umfassenden Abwägung festzulegen, welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen im Einzelfall zukomme.
8Ungeachtet des rechtlich bedenklichen Maßstabs, den das Landgericht seiner Würdigung zugrunde gelegt hat, hat es nicht lediglich den Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs „in den Vordergrund“ gerückt. Es hat sich vielmehr fast ausschließlich an im Erwachsenenstrafrecht geltenden Strafzumessungserwägungen orientiert, indem es vor allem das Geständnis des Angeklagten, seinen jeweiligen Tatbeitrag sowie das Maß der aufgewendeten kriminellen Energie, das Ausmaß der verursachten Verletzungen bzw. deren Fehlen, den Zeitablauf seit Begehung der Taten, den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Taten, die lange Verfahrensdauer, die Belastung durch die erlittene Untersuchungshaft und die Vorstrafen herangezogen hat. Eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten und dem sich hieraus ergebenden konkreten Erziehungsbedarf hat es demgegenüber nicht vorgenommen. Der Erziehungsgedanke wird in den Urteilsgründen lediglich einmal formelhaft erwähnt, wenn die Strafkammer mitteilt, dass „bereits die Vollstreckung der – knapp 3-wöchigen – Untersuchungshaft nicht unerheblich erzieherisch auf den Angeklagten eingewirkt“ habe. Angesichts dessen und nicht zuletzt auch mit Blick auf die die Strafbemessung abschließende Erwägung des Landgerichts, wonach „unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände eine Jugendstrafe in der ausgeurteilten Höhe als „tat- und schuldangemessen“ erachtet werde, besorgt der Senat, dass es die Ausrichtung der Höhe der Jugendstrafe am Erziehungsgedanken vollständig aus dem Blick verloren hat.
92. Die Kompensationsentscheidung wird dabei von der Aufhebung des Strafausspruchs nicht erfasst (vgl. , juris Rn. 16).
103. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:
11Das neu zur Entscheidung berufene Landgericht wird Gelegenheit haben, Feststellungen zum Vollstreckungsstand der (ausnahmslos nicht einbezogenen) Vorverurteilungen zu treffen, insbesondere zu der mit Beschluss des Amtsgerichts Erfurt vom nachträglich gebildeten Gesamtgeldstrafe und der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Gera vom verhängten Geldstrafe. Denn erst dann kann der Senat beurteilen, ob das Landgericht zu Recht von der nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG grundsätzlich vorgeschriebenen Einbeziehung der Vorverurteilungen gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1, § 105 Abs. 2 JGG abgesehen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 383/22 und vom – 3 StR 85/22) oder ob es rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, eine Einbeziehung nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG habe zu unterbleiben, wenn der Angeklagte die zugrundeliegenden Taten nach Vollendung seines 21. Lebensjahrs, d.h. als Erwachsener begangen hat (vgl. , juris Rn. 24).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:060623B2STR78.23.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-46189