Anhörungsrüge: Anforderungen an das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung und geänderte Zusammensetzung des Spruchkörpers
Leitsatz
1. NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, soweit ein Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen im Beschwerdeverfahren vorgebrachten rechtlichen Gesichtspunkt gestützt wurde.
2. NV: Der über die Anhörungsrüge befindende Spruchkörper muss nicht personenidentisch mit demjenigen sein, der die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde getroffen hat.
Gesetze: FGO § 133a; FGO § 96 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Der erkennende Senat hat auf die Beschwerde des Beklagten, Beschwerdeführers und Rügegegners (Finanzamt —FA—) wegen Nichtzulassung der Revision das durch Beschluss vom - XI B 1/22 (BFH/NV 2023, 269) nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgehoben und den Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen. Er führte dazu aus, dass das angefochtene Urteil an einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO leide. Das FG habe den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit ihnen erörtert habe.
2 Hiergegen richtet sich die Anhörungsrüge der Klägerin, Beschwerdegegnerin und Rügeführerin (Klägerin), mit der sie geltend macht, der Senat habe durch seinen Beschluss ihr Recht auf Gehör verletzt, indem er einen Verfahrensfehler habe durchgreifen lassen, der im Beschwerdeverfahren vom FA nicht gerügt worden sei, so dass sie sich dazu nicht habe äußern können. Außerdem sei dem FG der gerügte Verfahrensfehler nicht unterlaufen. Überdies könne das Urteil des FG aufgrund der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des FG nicht auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen.
3 Das FA tritt der Anhörungsrüge entgegen und bringt vor, es habe im Beschwerdeverfahren ausdrücklich —und nicht nur beiläufig— auf die unzulässige Überraschungsentscheidung und damit auf die Verletzung rechtlichen Gehörs hingewiesen.
Gründe
II.
4 Die Anhörungsrüge ist unbegründet. Der Beschluss des Senats verletzt nicht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs; er enthält insbesondere keine Überraschungsentscheidung.
5 1. Gemäß § 133a Abs. 1 Satz 1 FGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
6 a) Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es u.a., für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen (vgl. , BFH/NV 2021, 459, Rz 17). Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn ein Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste. Dies kann u.a. der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Gericht erst mit der abschließenden Entscheidung in das Verfahren eingebracht wird (, BFH/NV 2020, 611, Rz 7; , BFH/NV 2022, 812, Rz 13).
7 b) Das Gericht ist jedoch grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet; der fachkundig vertretene Beteiligte hat vielmehr von sich aus alle vertretbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte in Erwägung zu ziehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom - X B 52/13, BFH/NV 2014, 860, Rz 72; vom - XI B 133/13, BFH/NV 2014, 1560, Rz 19). Auf rechtliche Umstände, die ein Beteiligter selbst hätte erkennen können und müssen, muss er nicht hingewiesen werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom - X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042, Rz 13; vom - VIII B 117/19, BFH/NV 2020, 1262, Rz 4).
8 2. Gemessen daran ist die Anhörungsrüge unbegründet.
9 a) Die fachkundig vertretene Klägerin musste mit der Prüfung der Gehörsverletzung rechnen, da das FA seine Nichtzulassungsbeschwerde auch darauf gestützt hat (Beschwerdebegründungsschrift vom , Seite 3). Der Senat hat in dem angefochtenen Beschluss in BFH/NV 2023, 269 (Rz 16) ausgeführt, dass das FA mit seinem Beschwerdevorbringen eine Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt habe (und der Vortrag zur Erfüllung der Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO ausreichend sei). Dass die Klägerin den Vortrag des FA zum Vorliegen einer Überraschungsentscheidung zur Kenntnis genommen hat, ergibt sich im Übrigen aus ihrer Beschwerdeerwiderung vom . Sie hat dort unter Rz 9 auch zur Frage des Vorliegens einer Überraschungsentscheidung vortragen. Dies zeigt, dass der Klägerin auch insoweit rechtliches Gehör gewährt worden ist.
10 b) Es begründet keine Verletzung rechtlichen Gehörs, dass der Senat dem Beschwerdevorbringen der Klägerin, aus ihrer Sicht sei das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung „fernliegend“, nicht gefolgt ist. Ein Anspruch darauf, dass das Gericht einen Verfahrensbeteiligten „erhört“, d.h. sich seinen rechtlichen Ansichten oder seiner Sachverhaltswürdigung anschließt, ergibt sich aus dem Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht (vgl. , BFH/NV 2023, 140, Rz 16). Die Klägerin musste damit rechnen, dass sich der Senat auch der Gegenauffassung des FA, es liege eine Verletzung rechtlichen Gehörs vor, anschließen könnte.
11 c) Mit der Rüge, dem FG sei der vom Senat bejahte Gehörsverstoß tatsächlich nicht unterlaufen, dringt die Anhörungsrüge wegen der Beweiskraft des Protokolls, auf die der Senat im angefochtenen Beschluss in BFH/NV 2023, 269 hingewiesen hat (Rz 14, m.w.N.), nicht durch.
12 d) Soweit die Rüge geltend macht, das Urteil des FG könne aufgrund der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des FG auf dem vom Senat bejahten Verfahrensfehler nicht beruhen, weist der Senat nur ergänzend darauf hin, dass dies nicht zutrifft. Der Senat hat in seinem zurückverweisenden Beschluss in BFH/NV 2023, 269 ausführlich dargelegt (Rz 20 ff.), dass auf Basis der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des FG und der des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), an die das FG als vorlegendes Gericht gebunden ist (vgl. , BFHE 272, 240, Rz 29; vom - V R 48/20 (V R 20/17), BFHE 276, 394, Rz 19), eine andere Entscheidung möglich ist. Das EuGH-Urteil Aquila Part Prod Com vom - C-512/21 (EU:C:2022:950, Rz 64 ff., 67) zur Zurechnung des Wissens von beauftragten Personen bestätigt diese Ausführungen des Senats.
13 3. Der Senat entscheidet gemäß § 133a Abs. 4 Sätze 2 und 3, § 10 Abs. 3 Halbsatz 2 FGO in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung im Beschlusszeitpunkt (vgl. , BFH/NV 2018, 643, Rz 11, m.w.N.). Die Richterbank hat sich zwar aufgrund des Wechsels in der Person des Senatsvorsitzenden geändert. Es liegt jedoch im Spielraum des Gesetzgebers, die Anhörungsrüge so auszugestalten, dass der darüber befindende Spruchkörper nicht personenidentisch mit dem zusammengesetzt sein muss, der die Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat (vgl. , BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 160).
14 4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133a Abs. 4 Satz 4 FGO).
15 5. Die gemäß § 143 Abs. 1 FGO zu treffende Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO (vgl. , BFH/NV 2018, 533, Rz 9). Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr in Höhe von 66 € erhoben (Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2023:B.140623.XIS2.23.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 1953 Nr. 35
BFH/NV 2023 S. 1095 Nr. 9
NJW 2023 S. 10 Nr. 35
RAAAJ-45013