Urlaubsabgeltung - zusätzliche Urlaubsvergütung - Tarifvertragsauslegung
Gesetze: Art 7 EGRL 88/2003, § 1 TVG, Art 31 Abs 2 EUGrdRCh, Art 3 Abs 1 GG, Art 9 Abs 3 GG, § 3 Abs 2 AGG, § 7 Abs 2 AGG
Instanzenzug: ArbG Oldenburg (Oldenburg) Az: 4 Ca 319/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 8 Sa 115/21 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte dem Kläger weitere Urlaubsabgeltung und zusätzliche Urlaubsvergütung zu zahlen hat.
2Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war bei der Beklagten vom bis zum mit einem Bruttogehalt iHv. zuletzt 6.038,50 Euro beschäftigt. Der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbare Manteltarifvertrag für die Metallindustrie im Nordwestlichen Niedersachsen (MTV) in der Fassung vom regelt ua.:
3Am trafen die Parteien eine „Freistellungsvereinbarung im Rahmen des Lebensarbeitszeitkontos - A Invest for Life Wertkontensystem zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit“. Diese Vereinbarung enthält ua. folgende Regelungen:
4In der Zeit vom bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am war der Kläger krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses galt die Beklagte sieben Arbeitstage Urlaub ab und zahlte an den Kläger die hierauf entfallende zusätzliche Urlaubsvergütung.
5Der Kläger hat mit seiner Klage die Abgeltung von weiteren 28 Urlaubstagen und Zahlung zusätzlicher Urlaubsvergütung verlangt. Er hat insbesondere die Auffassung vertreten, ihm stehe für 2020 ein Anspruch auf den vollen tariflichen Jahresurlaub zzgl. des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen zu. Der Tarifbegriff „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV verlange nicht, dass tatsächlich Arbeitsleistung erbracht worden sei. Es genüge, dass ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen sei.
6Der Kläger hat beantragt,
7Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und ausgeführt, langjährig beschäftigte Arbeitnehmer könnten den vollen Mehrurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV nur verlangen, wenn sie im Austrittsjahr tatsächlich gearbeitet hätten. Dies sei während der Zeit einer Arbeitsunfähigkeit nicht der Fall.
8Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und die Beklagte - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - zur Zahlung von Urlaubsabgeltung und zusätzlicher Urlaubsvergütung für 15 Arbeitstage in Höhe von insgesamt 6.246,75 Euro brutto nebst Zinsen verurteilt. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger verfolgt mit der Anschlussrevision sein ursprüngliches Klageziel weiter.
Gründe
9Die Revision der Beklagten hat überwiegend Erfolg, die Anschlussrevision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger zu Unrecht unter teilweiser Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils Urlaubsabgeltung und zusätzliche Urlaubsvergütung iHv. 6.246,75 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Die zulässige Klage ist lediglich im Umfang von 937,02 Euro brutto nebst Zinsen begründet.
10A. Die Revision ist überwiegend begründet. Dem Kläger stehen die von ihm reklamierten Zahlungsansprüche nicht für die ihm durch das Landesarbeitsgericht zugesprochenen 15 Urlaubstage, sondern lediglich für 2,25 Urlaubstage zu.
11I. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts sind Arbeitstage, an denen ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt und zugleich von der Arbeitspflicht freigestellt ist, nicht als „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten. Das ergibt die Auslegung der Tarifnorm.
121. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags, die in der Revisionsinstanz in vollem Umfang überprüfbar ist, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt. Außerdem sind Tarifnormen, soweit sie dies zulassen, grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben. Gesetze sind wiederum - soweit Unionsrecht umgesetzt wird - unionsrechtskonform auszulegen, wenn dies möglich ist. Die richtlinienkonforme Auslegung eines nationalen Gesetzes kann sich demnach auf die Auslegung eines Tarifvertrags auswirken ( - Rn. 13).
132. Nach diesen Grundsätzen gelten bei gesetzeskonformem Verständnis des Begriffs „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 MTV Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub als Arbeitsleistung, nicht aber Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während der Freistellung von der Arbeitspflicht während eines Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit.
14a) Der Wortlaut der Tarifnorm verlangt für das Entstehen des Anspruchs auf Mehrurlaub eine Arbeitsleistung im Austrittsjahr. Gemäß § 10 Nr. 4.1.3 MTV haben Arbeitnehmer bei Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Davon abweichend erhält ein ausscheidender Beschäftigter nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV den vollen Jahresurlaub, sofern er wegen der Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet und dem Betrieb zehn Jahre ununterbrochen angehört hat, jedoch höchstens so viele Tage, wie er im Urlaubsjahr „gearbeitet“ hat.
15b) Systematisch handelt es sich bei § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV damit um eine privilegierende Spezialnorm für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer. Diese erhalten im Falle eines Ausscheidens wegen Inanspruchnahme von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente im Ausscheidensjahr statt eines bloßen Teilurlaubsanspruchs den vollen Jahresurlaub, sofern im Austrittsjahr eine Arbeitsleistung erbracht wird. Voll- statt Teilurlaub soll nur Arbeitnehmern zugutekommen, bei denen im Jahr des Ausscheidens keine erhebliche Störung des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung eingetreten ist. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist aber in einer dem Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV entgegenstehenden Weise gestört, wenn der Arbeitnehmer im Austrittsjahr durchgängig arbeitsunfähig und daher nicht in der Lage ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Auch eine vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer im Austrittsjahr keine Arbeitsleistung erbringt und auch nicht erbringen kann.
16c) Auch eine gesetzeskonforme Auslegung verlangt ein solches Verständnis nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landesarbeitsgericht den Tarifbegriff „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV allerdings zu Recht nicht im Wortverständnis abschließend verstanden, sondern gesetzeskonform erweiternd ausgelegt.
17aa) Die Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, weitgehend frei regeln (vgl. - Rn. 18; - 9 AZR 321/16 - Rn. 52; - 9 AZR 328/16 - Rn. 33). Sie dürfen deshalb die Gewährung von tariflichem Mehrurlaub grundsätzlich von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig machen. Soweit allerdings die tarifvertraglichen Bestimmungen (auch) die Inanspruchnahme gesetzlichen Mindesturlaubs gefährden können, muss die Tarifnorm - soweit möglich - gesetzeskonform ausgelegt und angewandt werden.
18bb) Danach ist die Inanspruchnahme von gesetzlichem Mindesturlaub als Arbeitsleistung iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten. Gölten Urlaubszeiten nicht als „gearbeitet“, könnten Konstellationen entstehen, in denen sich der Arbeitnehmer im Jahr seines Ausscheidens aus wirtschaftlichen Gründen gehalten sähe, auch auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu verzichten, um auf diese Weise seinen Anspruch auf Abgeltung des Mehrurlaubs nicht zu gefährden. Dies wäre dann der Fall, wenn er bis zu seinem Ausscheiden nur auf diese Weise an genügend Tagen tatsächlich arbeitet, um auch den Mehrurlaub abgegolten zu erhalten. Die Schaffung jedes wirtschaftlichen Anreizes, den Erholungsurlaub nicht zu nehmen, wäre aber mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG nicht zu vereinbaren ( - [Koch Personaldienstleistungen] Rn. 32). Dem ist durch eine gesetzeskonforme Auslegung zu begegnen, der zufolge auch Urlaubszeiten als „gearbeitet“ gelten.
19d) Die weitergehende Auslegung des Landesarbeitsgerichts, auch Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht bei gleichzeitig bestehender Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als „gearbeitet“ iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV anzusehen, verlangt das Gesetz nicht.
20aa) Eine Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen eines „Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit“ steht nicht Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit gleich. Anders als Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub, bei denen es mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG unvereinbar wäre, wenn man sie nicht als „gearbeitet“ im Tarifsinne ansähe (vgl. oben unter Rn. 18), gebietet es der Zweck des Modells, die erwirtschafteten Zeitguthaben in den letzten Monaten des Arbeitsverhältnisses durch Vereinbarung einer bezahlten Freistellung in Natur einzulösen, nicht, die Freistellung Zeiten tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen. Für die Altersteilzeit im Blockmodell hat der Senat bereits entschieden, dass die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die Verteilung der Arbeitszeit treffen, die den Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht entbindet und sich auf die Berechnung des Urlaubsanspruchs auswirkt (vgl. - Rn. 26, BAGE 168, 70). Auch wenn - im Gegensatz zur Altersteilzeit im Blockmodell - Regelungsgegenstand der Freistellungsvereinbarung nicht die Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit, sondern die Verwendung eines außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegenden Wertguthabens ist, bestehen auch vorliegend keine gesetzlichen Vorgaben, die Freistellungzeiten im Anwendungsbereich der privilegierenden Spezialnorm des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV als Arbeitszeit zu bewerten. Den Tarifvertragsparteien war bei der Ausgestaltung der Tarifnorm nicht verwehrt, für den Anspruch auf den vollen tarifvertraglichen Urlaub weitere Anspruchsvoraussetzungen vorzusehen und ihn grundsätzlich von der Erbringung einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig zu machen. Der ungekürzte Teilurlaubsanspruch des Klägers bleibt durch § 10 Nr. 4.1 MTV unberührt. Der Anspruch auf den durch §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG eingeräumten gesetzlichen Mindesturlaub bei einem Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit in der zweiten Jahreshälfte wird durch die in § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG angeordnete Unabdingbarkeit des durch das BUrlG vermittelten Mindestschutzes sichergestellt (vgl. - Rn. 49 f.), ohne dass es einer gesetzeskonformen Auslegung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV bedürfte.
21bb) In der Beschränkung des Anspruchs auf Mehrurlaub im Austrittsjahr auf die Anzahl der gearbeiteten Tage liegt keine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Schlechterstellung von arbeitsunfähigen gegenüber Arbeitnehmern, die ihre arbeitsvertragliche Leistung tatsächlich erbringen können.
22(1) Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt als fundamentale Gerechtigkeitsnorm auch die Tarifautonomie. Dementsprechend ist Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen. Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch zu beachten, dass den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht. Sie bestimmen in diesem Rahmen nicht nur den Zweck einer tariflichen Leistung. Ihnen kommt zudem eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind und ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, dass die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Wahrnehmung eines tariflichen Anspruchs jeder Besonderheit gerecht werden und im Tarifvertrag entsprechende Ausnahmen vorsehen. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Die in einer Tarifregelung vorgesehenen Differenzierungsmerkmale müssen allerdings im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen ( - Rn. 47, BAGE 172, 313).
23(2) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält sich die Regelung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV, den Anspruch auf Mehrurlaub als zusätzliche tarifliche Leistung nur Arbeitnehmern zugutekommen zu lassen, die im Austrittsjahr Arbeitsleistung erbracht haben, in den Grenzen, die Art. 3 Abs. 1 GG auch den Tarifvertragsparteien bei der Normsetzung nach Art. 9 Abs. 3 GG setzt. Die vorgenommene Differenzierung, die sich auf die Entstehung und auf den Umfang des tariflichen Anspruchs auf Mehrurlaub im Austrittsjahr erstreckt, ist nicht unverhältnismäßig. Bei gleicher Gewichtung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer lässt sich der angestrebte Zweck nicht durch ein milderes Mittel erreichen. Die Differenzierung ist nicht unangemessen. Die Zweck-Mittel-Relation lässt die Schwere des Eingriffs im Verhältnis zur Bedeutung des Ziels zurücktreten. Als Ergebnis kollektiv ausgehandelter Tarifvereinbarungen hat die Begrenzung der Höhe des Mehrurlaubs die Vermutung der Angemessenheit für sich (vgl. - Rn. 33; - 10 AZR 300/18 - Rn. 15; - 4 AZR 50/13 - Rn. 29, BAGE 148, 139).
24cc) Ein anderes Ergebnis ergibt sich nicht mit Blick auf das Verbot einer Benachteiligung von Arbeitnehmern mit Behinderung nach § 7 Abs. 1 AGG. Eine mittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 Halbs. 1 AGG kann vorliegen, wenn eine Regelung - wie hier - zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Inhaber der geschützten persönlichen Eigenschaft betrifft als vergleichbare Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen, es sei denn, mit der Regelung oder Maßnahme wird ein rechtmäßiges Ziel verfolgt und das hierfür eingesetzte Mittel ist verhältnismäßig, dh. angemessen und erforderlich (vgl. - Rn. 61, BAGE 172, 313). Auch insoweit gilt, dass sich die Begrenzung des tariflichen Anspruchs auf Mehrurlaub als gerechtfertigt erweist und die Tarifvertragsparteien ihren Regelungsspielraum nicht überschritten haben.
253. Danach hat der Kläger, der aufgrund der Inanspruchnahme einer Altersrente zum aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist, keinen Anspruch nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV auf Abgeltung des vollen tariflichen Jahresurlaubs für das Jahr 2020. Zwar gehörte er zum Zeitpunkt seines Ausscheidens mehr als zehn Jahre ununterbrochen dem Betrieb der Beklagten an. Allerdings arbeitete er im Jahr 2020 nicht. Seit dem war er durchgängig bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses krankheitsbedingt arbeitsunfähig.
26II. Die Verurteilung der Beklagten zur Abgeltung von weiteren Urlaubstagen nebst zusätzlicher Urlaubsvergütung erweist sich allerdings im Umfang von 937,02 Euro brutto aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Dies kann der Senat selbst entscheiden, da die maßgeblichen Tatsachen feststehen (§ 563 Abs. 3 ZPO).
271. Da dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am ein Anspruch von 9,25 Urlaubstagen zustand, der ihm wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden konnte, und die Beklagte bisher Abgeltung für lediglich sieben Urlaubstage geleistet hat, besteht nach § 7 Abs. 4 BUrlG noch ein Abgeltungsanspruch für 2,25 Urlaubstage.
28a) Der Umfang des Urlaubsanspruchs für das Kalenderjahr 2020 war nach § 10 Nr. 4.1.3 MTV zu ermitteln. Da das tarifliche Regelungsregime nicht zwischen Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub nach § 10 Nr. 2 Satz 1 MTV differenziert, ist auch der Mehrurlaub anteilig abzugelten (zum Gleichlauf von gesetzlichem Urlaubsanspruch und dem Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub vgl. - Rn. 47).
29b) Rechnerisch ergibt sich, dass die Beklagte Urlaub für drei Monate des Bestehens des Arbeitsverhältnisses im Jahr 2020 3/12 abzugelten hat. Bei 30 Tagen, die dem Kläger nach § 10 Nr. 2 Satz 1 MTV jährlich zustehen, entspricht dies 7,5 Tagen, die nach § 10 Nr. 4.2 Satz 1 MTV auf acht Tage aufzurunden sind. Außerdem kann der Kläger für diesen Zeitraum Abgeltung von Zusatzurlaub, der ihm aufgrund seiner Schwerbehinderung zusteht, in anteiligem Umfang iHv. 1,25 Tagen (3/12 von fünf Tagen) verlangen. Insgesamt ergibt sich damit ein Abgeltungsanspruch für 9,25 Tage. Unter Abzug der bereits abgegoltenen sieben Tage verbleiben noch 2,25 abzugeltende Tage.
30c) Urlaubsabgeltung für 2,25 Tage entspricht bei einem - zwischen den Parteien außer Streit stehenden - Tagessatz von 277,63 Euro brutto einem Betrag iHv. 624,67 Euro brutto.
312. Neben den Abgeltungsanspruch tritt ein Anspruch auf zusätzliche Urlaubsvergütung für 2,25 Tage. Dieser Anspruch beläuft sich bei einem - ebenfalls unstreitigen - Tagessatz von 138,82 Euro brutto auf 312,35 Euro brutto. Insgesamt ergibt sich ein von der Beklagten an den Kläger zu zahlender Betrag iHv. 937,02 Euro brutto.
323. Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.
334. Weitergehende Ansprüche ergeben sich weder aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz noch aus betrieblicher Übung.
34a) Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem - auch vermeintlichem - Normenvollzug ( - Rn. 44). Um Letzteren geht es hier. Daher kann sich der Kläger nicht mit Erfolg auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen.
35b) Ein weiterer Anspruch auf Urlaubsabgeltung ergibt sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung setzt voraus, dass sich für den Arbeitnehmer aus den Gesamtumständen der Eindruck ergibt, der Arbeitgeber wolle sich über die bisher vereinbarten vertraglichen und tarifvertraglichen Pflichten hinaus zu einer weiteren Leistung verpflichten (vgl. - Rn. 68, BAGE 102, 251). Der Kläger konnte hier nach den Umständen nicht annehmen, dass die Beklagte übertarifliche Leistungen gewähren wollte.
36B. Die hinreichend auf die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils eingehende Anschlussrevision ist zulässig, aber unbegründet. Mit ihr hat der Kläger geltend gemacht, dass der gesamte Zeitraum seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in 2020 als „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten sei. Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht entschieden, dass die Tarifnorm nicht entsprechend auszulegen ist.
37C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:280323.U.9AZR219.22.0
Fundstelle(n):
BB 2023 S. 2025 Nr. 36
DB 2023 S. 2765 Nr. 47
DB 2024 S. 464 Nr. 8
DB 2024 S. 464 Nr. 8
GAAAJ-44892