BSG Beschluss v. - B 12 KR 45/22 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Gebot des gesetzlichen Richters - Zurückverweisung

Gesetze: § 12 Abs 1 S 2 Alt 1 SGG, § 33 Abs 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: SG Lüneburg Az: S 16 KR 198/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 4 KR 349/20 Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin auf Leistungen aus einer Kapitallebensversicherung Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und sozialen Pflegeversicherung (sPV) zu zahlen hat.

2Die Klägerin ist als nicht hauptberuflich Selbstständige seit dem bei der Beklagten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Am erhielt sie im Alter von 60 Jahren eine Kapitallebensversicherung in Höhe von 60 947,74 Euro ausgezahlt. Die Beklagte setzte Beiträge zur GKV und sPV auf Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen, Kapitalerträge und sonstige Einnahmen in Höhe von insgesamt 320,97 Euro monatlich fest, wobei der Betrag der Leistung aus der Kapitallebensversicherung mit 1/120 des Zahlbetrags für 120 Monate zugeordnet wurde (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Die Klage ist erfolglos geblieben (). Das LSG hat die auf Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils sowie des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und in der Fassung des Bescheids vom gerichtete Berufung der Klägerin durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG zurückgewiesen (Beschluss vom ).

3Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem oben genannten Beschluss. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache insbesondere wegen der unterschiedlichen beitragsrechtlichen Belastung von freiwillig Versicherten und Pflichtversicherten aufgrund des ab geltenden Freibetrags nach § 226 Abs 2 SGB V geltend.

4II. Die Entscheidung des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist wegen eines Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.

5Das Berufungsgericht hat vorliegend durch Beschluss allein der Berufsrichter entschieden und damit die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) missachtet. Die Möglichkeit des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ohne die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (vgl § 33 Abs 1 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 Alt 1 SGG) war hier nicht eröffnet. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung ist ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen, da ein Verstoß gegen tragende Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens vorliegt (vgl - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 11 ff).

6Gegenstand des Klageverfahrens war zunächst der Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom . Der während des Berufungsverfahrens ergangene weitere Bescheid vom ist - nach den Entscheidungsgründen des LSG - gemäß § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Die unabhängig vom Willen der Beteiligten kraft Gesetzes eintretende Klageänderung hindert die Beteiligten zwar nicht, über den Verfahrensgegenstand im Rahmen ihrer allgemeinen Dispositionsbefugnis zu verfügen und die Klage ausdrücklich auf die Anfechtung des Ausgangsverwaltungsakts zu beschränken. Eine solche Begrenzung des Streitgegenstands liegt aber nicht vor, da der Bescheid ausdrücklich in den Antrag miteinbezogen worden ist.

7Über erst während des Berufungsverfahrens wirksam erlassene Verwaltungsakte, die einen mit dem Rechtsmittel bereits angefochtenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen iS des § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG, hat das Berufungsgericht nicht zweitinstanzlich auf Berufung, sondern erstinstanzlich auf Klage zu befinden (stRspr; vgl - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 13 mwN). Daher hätte vorliegend aufgrund mündlicher Verhandlung oder nach Zustimmung der Beteiligten (§ 124 Abs 2 SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil unter Beteiligung ehrenamtlicher Richter entschieden und - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - die Klage gegen den im Berufungsverfahren erlassenen Beitragsbescheid abgewiesen werden müssen (vgl - SozR 4-1500 § 153 Nr 15 RdNr 15). Für die notwendige erstinstanzliche Entscheidung bietet § 153 Abs 4 SGG keine Grundlage. Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus deren Regelungszweck. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 153 Abs 4 SGG ist nicht danach zu differenzieren, ob die im Berufungsverfahren nach § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 SGG einzubeziehenden Verwaltungsakte eine wesentliche Änderung der prozessualen Situation mit sich bringen oder nicht (vgl im Einzelnen - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 14 ff).

8Der mit der gesetzeswidrigen Entscheidung des LSG im Wege des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 SGG einhergehende Verstoß einerseits gegen den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) und andererseits gegen den das sozialgerichtliche Verfahren prägenden Grundsatz der Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (§ 33 SGG) ist als absoluter Revisionsgrund (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen. Den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ist nicht die Rechtsmacht eingeräumt, durch prozessuales Verhalten die Unbeachtlichkeit einer Verletzung des der Rechtsstaatlichkeit dienenden grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter herbeizuführen (stRspr; vgl - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 17 mwN).

9Der angefochtene Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG lässt sich auch nicht in eine gesetzeskonforme Zurückweisung der Berufung mit ordnungsgemäßer Besetzung des Spruchkörpers und eine rechtswidrige Entscheidung unter Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters über die Klage aufspalten. Das LSG hat das Verfahren als Ganzes geführt, ohne dass ein Teil des streitbefangenen Zeitraums abgetrennt worden ist. Die gesetzeswidrige Entscheidung auch über die Klage "infiziert" den gesamten Beschluss (vgl - BSGE 129, 186 = SozR 4-1500 § 153 Nr 18, RdNr 21 mwN).

10Der Verfahrensmangel steht der Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage, ob die Freibetragsregelung des § 226 Abs 2 SGB V in der Fassung des GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetzes vom (BGBl I 2913) auf die Festsetzung der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung anzuwenden ist (hierzu anhängig B 12 KR 3/23 R), entgegen. Die Klärung würde im Übrigen auch Feststellungen zur Beitragsfestsetzung für die Zeit ab voraussetzen.

11Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

12Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.Heinz                Beck                Bergner

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:060623BB12KR4522B0

Fundstelle(n):
EAAAJ-44135