BGH Urteil v. - X ZR 15/20

Anspruch auf Ausgleichszahlung bei Verspätung eines Fluges; Begriff des direkten Anschlussfluges

Leitsatz

Der Begriff "direkte Anschlussflüge" im Sinne von Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO kann auch einen Beförderungsvorgang erfassen, der aus mehreren Flügen besteht, die von unterschiedlichen, nicht durch eine besondere rechtliche Beziehung miteinander verbundenen Luftfahrtunternehmen ausgeführt werden. Ausreichend dafür ist, dass die Flüge von einem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurden, das einen einheitlichen Flugschein im Sinne von Art. 2 Buchst. f FluggastrechteVO ausgegeben hat (im Anschluss an , NJW 2022, 3343 Rn. 25-31).

Gesetze: Art 2 Buchst f EGV 261/2004, Art 2 Buchst h EGV 261/2004, Art 5 Abs 1 Buchst c EGV 261/2004, Art 7 EGV 261/2004

Instanzenzug: Az: C-436/21 Urteilvorgehend Az: X ZR 15/20 EuGH-Vorlagevorgehend Az: 5 S 93/19vorgehend AG Nürtingen Az: 12 C 96/19

Tatbestand

1Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf Leistung einer Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

2Die Zedentin buchte über ein Reisebüro für den einen Flug mit der Fluggesellschaft Swiss von Stuttgart nach Zürich und Flüge mit der Beklagten von Zürich nach Philadelphia und von Philadelphia nach Kansas City. Der erste und der zweite Flug wurden planmäßig durchgeführt. Auf der letzten Teilstrecke startete der Flug verspätet. Die Zedentin erreichte Kansas City mit einer Verspätung von mehr als vier Stunden. Mit ihrer Klage hat die Klägerin eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro begehrt.

3Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren erstinstanzlichen Klageantrag weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

4Der Senat hat mit Beschluss vom (RRa 2021, 224) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung von Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO vorgelegt. Der Gerichtshof hat mit Urteil vom (C-436/21, NJW 2022, 3343) über die Vorlage entschieden.

Gründe

5Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur antragsgemäßen Verurteilung.

6I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung verpflichtet.

7Die Fluggastrechteverordnung sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union anwendbar, wenn ein Fluggast einen Flug auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats antrete. Ausweislich der vorgelegten Rechnung des Reisebüros seien im Streitfall einzelne Flüge unterschiedlicher Luftfahrtunternehmen zusammengestellt worden, um das gewünschte Endziel zu erreichen. Aus der Sicht des Fluggasts handele es sich um eine einheitliche Buchung. Es könne keinen Unterschied machen, ob er seine Flugreise zu dem von ihm gewählten Endziel direkt bei einem Luftfahrtunternehmen oder über ein Reisebüro buche.

8Die Beklagte sei jedoch nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen eines Flugs, der vom Gebiet eines Mitgliedstaats gestartet sei. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagte sich gegenüber der Zedentin vertraglich verpflichtet habe, die Beförderung von Stuttgart nach Kansas City durchzuführen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte die Beförderung im Rahmen einer Codesharing-Vereinbarung übernommen habe. Die einzelnen Luftfahrtunternehmen hätten die Teilflüge jeweils in eigener Verantwortung durchgeführt. Die Beklagte habe daher lediglich die Beförderung auf den beiden Teilstrecken von Zürich über Philadelphia nach Kansas City geschuldet.

9II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

101. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 FluggastrechteVO in Verbindung mit § 398 BGB.

11a) Die Fluggastrechteverordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a anwendbar für Fluggäste, die ihren Flug im Gebiet eines Mitgliedstaats antreten. Aus Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO folgt, dass die Verordnung auch anzuwenden ist, wenn der Fluggast seinen endgültigen Zielort über direkte Anschlussflüge erreicht.

12b) Beide Voraussetzungen sind im Streitfall nach den getroffenen Feststellungen erfüllt.

13aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Anwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung bei einem Flug mit direkten Anschlussflügen unter Berücksichtigung des ersten Abflugorts und des Endziels zu beurteilen, wenn der Flug als eine Gesamtheit anzusehen ist (, NJW 2018, 2032 Rn. 25 f. - Wegener/Royal Air Maroc; Urteil vom - C-502/18, NJW 2019, 2595 = RRa 2019, 222 Rn. 16 - České aerolinie; Beschluss vom - C-367/20, RRa 2021, 125 Rn. 19 - KLM).

14Der Begriff "direkte Anschlussflüge" im Sinne von Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO ist dahin zu verstehen, dass er zwei oder mehr Flüge bezeichnet, die für die Zwecke des in der Verordnung geregelten Ausgleichsanspruchs von Fluggästen eine Gesamtheit darstellen. Eine solche Gesamtheit liegt vor, wenn zwei oder mehrere Flüge Gegenstand einer einzigen Buchung waren (EuGH, NJW 2022, 3343 Rn. 20; NJW 2018, 2032 Rn. 18 f. - Wegener/Royal Air Maroc). Die von der Revisionserwiderung angesprochene Frage, wie das Gepäck befördert wird, ist hierbei grundsätzlich unerheblich.

15Wie der Gerichtshof auf das im Streitfall ergangene Vorlageersuchen entschieden hat, kann der Begriff "direkte Anschlussflüge" auch einen Beförderungsvorgang erfassen, der aus mehreren Flügen besteht, die von unterschiedlichen, nicht durch eine besondere rechtliche Beziehung miteinander verbundenen ausführenden Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden. Ausreichend dafür ist, dass die Flüge von einem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurden, das einen einheitlichen Flugschein im Sinne von Art. 2 Buchst. f FluggastrechteVO ausgegeben hat (EuGH, NJW 2022, 3343 Rn. 25-31). Auch in diesem Zusammenhang sind Einzelheiten der Gepäckbeförderung grundsätzlich nicht von Bedeutung.

16bb) Im Streitfall ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass das Reisebüro einen einheitlichen Flugschein für alle Teilsegmente ausgegeben hat.

17Das Reisebüro hat eine Rechnung zu einem "Vermittlungsauftrag" erteilt, die für die hier interessierenden Flüge sowie für den Rückflug von Kansas City über Chicago und Heathrow nach Stuttgart einen einheitlichen "Teilnehmerpreis" ausweist. Aus der Rechnung ergibt sich ferner, dass das Reisebüro für die Flüge ein einheitliches elektronisches Ticket ausgegeben hat, dessen Nummer - zum Teil ergänzt durch zusätzliche Ziffern - auch auf den Bordkarten für die drei hier interessierenden Flüge wiedergegeben ist.

18Vor diesem Hintergrund sind die drei von der Zedentin gebuchten Flüge als einheitlicher Flug anzusehen.

19cc) Dies hat zur Folge, dass der Abflugort Stuttgart ist und damit auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a FluggastrechteVO liegt.

202. Die Voraussetzungen für einen Ausgleichsanspruch wegen großer Ankunftsverspätung sind erfüllt, weil die Zedentin mehr als drei Stunden später als vorgesehen in Kansas City angekommen ist.

21a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für die Entstehung eines Ausgleichsanspruchs maßgeblich, ob ein Zeitverlust von drei Stunden oder mehr am Endziel eingetreten ist (, NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 Rn. 57 - Sturgeon; Urteil vom - C-581/10, NJW 2013, 671 = RRa 2012, 272 Rn. 40 - Nelson).

22Endziel ist gemäß der auch in diesem Zusammenhang maßgeblichen Definition in Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein, bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges (, NJW 2013, 1291 = RRa 2013, 78 Rn. 37 - Folkerts).

23b) Im Streitfall ist danach Kansas City das Endziel der Flugreise, die in Stuttgart begonnen hat.

24Die drei Teilflüge sind auch in diesem Zusammenhang als Gesamtheit zu betrachten, weil der Klägerin eine einheitliche bestätigte Buchung erteilt worden ist.

253. Der Entschädigungsanspruch richtet sich gegen die Beklagte als ausführendes Luftfahrtunternehmen.

26a) Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass jedes ausführende Luftfahrtunternehmen, das an der Durchführung mindestens eines Teilflugs eines als Gesamtheit anzusehenden Flugs beteiligt ist, die Ausgleichszahlung unabhängig davon schuldet, ob der von ihm durchgeführte Flug die große Verspätung des Fluggastes bei der Ankunft an seinem Endziel verursacht hat oder nicht (, NJW 2019, 2595 = RRa 2019, 222 Rn. 20-26 - České aerolinie; Beschluss vom - C-367/20, RRa 2021, 125 Rn. 28 f. - KLM).

27b) Der Anspruch ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte nicht unmittelbar an der Buchung des Fluges beteiligt war.

28Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen haftet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch dann, wenn der Beförderungsvertrag über einen Dritten geschlossen wurde, zum Beispiel über eine elektronische Plattform (, RRa 2022, 86 Rn. 52 f. - Laudamotion; Urteil vom - C-302/16, RRa 2017, 172 Rn. 26 - Krijgsman).

29In der im Streitfall ergangenen Entscheidung hat der Gerichtshof bestätigt, dass dies auch für den Fall einer Buchung durch ein Reisebüro gilt. Das ausführende Luftfahrtunternehmen, das die von der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung hat leisten müssen, ist nach der Verordnung nicht gehindert, sich zwecks Ausgleich dieser finanziellen Belastung namentlich an die Person zu halten, über die die Flugscheine ausgegeben wurden, wenn diese Person gegen ihre Verpflichtungen verstoßen hat (EuGH, NJW 2022, 3343 Rn. 30).

30III. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).

311. Wie bereits oben dargelegt wurde, ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt, dass die Beklagte dem Grunde nach zur Zahlung einer Ausgleichsleistung verpflichtet ist.

322. Die Höhe des Anspruchs steht nicht in Streit.

333. Der Anspruch auf Zahlung von Verzugszinsen ergibt sich aus § 288 Abs. 1 BGB.

34IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:090523UXZR15.20.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 9 Nr. 27
NJW-RR 2023 S. 1029 Nr. 15
BAAAJ-42140