Gewerberaummiete: Mehrkostenerstattung bei unterlassener Zurverfügungstellung der angemieteten Räumlichkeiten; Beweiserhebung über Mietdifferenzschaden
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: I-10 U 167/21vorgehend LG Krefeld Az: 11 O 47/20
Gründe
I.
1Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin nach Scheitern eines Mietvertrags die Mehrkosten für die Anmietung einer Ersatzimmobilie zu erstatten.
2Mit Vertrag vom mietete die in der Modebranche tätige Klägerin von der Beklagten noch herzustellende Gewerberäume mit einer Größe von 383 qm in einem in W. gelegenen, zur Sanierung vorgesehenen alten Wasserwerk sowie zwei im Außenbereich des Grundstücks gelegene Pkw-Stellplätze. Die auf fünf Jahre befristete Mietzeit sollte am beginnen. Als monatlich zu entrichtende Miete vereinbarten die Parteien eine Nettomiete in Höhe von 4.215,59 €, entsprechend einer Quadratmetermiete von 10,99 €, zuzüglich 70 € monatlich für die beiden Stellplätze.
3Nachdem die Beklagte, der die beabsichtigte Sanierung des Gebäudes mangels finanzierungswilliger Investoren nicht gelungen war, der Klägerin eine - von dieser nicht gewünschte - Aufhebung des Mietvertrags angeboten hatte, mietete die Klägerin im Februar 2019 andere in einer sanierten Gewerbeimmobilie im Hafenviertel von D. gelegene Räumlichkeiten mit einer Fläche von 454 qm an. Als monatliche Miete vereinbarte die Klägerin mit der Vermieterin der ersatzweise angemieteten Gewerberäume pro Quadratmeter einen Betrag von 12 €, wobei ein auf 50 qm entfallender Teilbetrag als Entgelt für die Mitbenutzung einer ca. 279 qm großen Gemeinschaftsfläche gelten sollte. Für die Anmietung von vier Tiefgaragenstellplätzen vereinbarten die Vertragsparteien eine Miete von weiteren 200 € monatlich. Beginn der ebenfalls auf fünf Jahre befristeten Mietzeit war der .
4Mit Schreiben vom erklärte die Klägerin die fristlose Kündigung des mit der Beklagten geschlossenen Mietvertrags wegen Nichtgewährung des vertragsgemäßen Gebrauchs und machte Schadensersatzansprüche in Höhe der Differenz der für die Räumlichkeiten in D. monatlich zu zahlenden Miete gegenüber dem mit der Beklagten vereinbarten Nutzungsentgelt in Höhe von monatlich 410,41 € geltend.
5Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 6.976,97 € nebst Zinsen, zur laufenden Erstattung der monatlichen Mietdifferenz in Höhe von 410,41 € für die Zeit von Juni 2021 bis zum Ende der mit der Beklagten vereinbarten Mietzeit, begrenzt durch die Laufzeit des Mietvertrags über die Ersatzimmobilie, sowie zur Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil aufgehoben und die Klage vollständig abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen.
6Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie eine Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt.
II.
7Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
81. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klägerin könne von der Beklagten die Erstattung der geltend gemachten Mietdifferenz nicht verlangen, weil dem höheren Mietpreis für die ersatzweise angemieteten Räumlichkeiten in D. ein entsprechend höherer Gebrauchswert gegenüberstehe, den sich die Klägerin im Wege eines Vorteilsausgleichs anrechnen lassen müsse. Der höhere Gebrauchswert ergebe sich nicht nur aus der - auch verkehrsmäßig - besseren Lage der Gewerberäume in der als „Modestadt“ bekannten Landeshauptstadt, sondern auch aus der Aufteilung und Gestaltung des Gebäudes in D., der nur bei der Ersatzimmobilie möglichen Mitnutzung von Gemeinschaftsflächen, dem dort vorhandenen Angebot einer Kinderbetreuung, der dortigen Existenz eines großen Fahrstuhls sowie aus dem zusätzlichen Komfort von Tiefgaragenparkplätzen.
92. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Denn die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass dem angefochtenen Urteil ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zugrunde liegt, weil das Berufungsgericht versäumt hat, den von der Klägerin zu entscheidungserheblichem Sachvortrag angebotenen Sachverständigenbeweis zu erheben.
10a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs soll dabei als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (Senatsbeschlüsse vom - XII ZR 54/20 - FamRZ 2021, 964 Rn. 12 mwN und vom - XII ZR 152/19 - FamRZ 2021, 1297 Rn. 10 mwN). Das gilt auch und insbesondere dann, wenn diese Nichtberücksichtigung auf einer vorweggenommenen tatrichterlichen Beweiswürdigung beruht, also der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZR 54/20 - FamRZ 2021, 964 Rn. 12 und vom - XII ZR 54/16 - NJW-RR 2018, 74 Rn. 7 mwN).
11b) Gemessen daran beanstandet die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht, dass das Berufungsgericht den Beweisantrag der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die ursprünglich angemieteten Räumlichkeiten in W. mit den in D. gemieteten Gewerberäumen nach Art und Lage gleichwertig sind, übergangen hat. Die Nichtberücksichtigung des Beweisantrags der Klägerin findet im Prozessrecht keine Stütze.
12aa) Von der Einholung eines beantragten Sachverständigengutachtens zu entscheidungserheblichem Parteivortrag darf das Tatsachengericht nur absehen, wenn es selbst über die notwendige Sachkunde verfügt, um den Wahrheitsgehalt der unter Beweis gestellten Behauptung zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. - NJW 2018, 2730 Rn. 16 mwN). Etwa vorhandene eigene Sachkunde, derentwegen es die Einholung eines Sachverständigengutachtens für verzichtbar hält, hat es in der Entscheidung darzulegen (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZR 153/19 - juris Rn. 17 mwN).
13bb) Dem hat das Berufungsgericht nicht Rechnung getragen. Es hätte den von der Klägerin zu erheblichem Sachvortrag angebotenen Sachverständigenbeweis erheben müssen und hiervon nicht aufgrund eigener Wertung absehen dürfen.
14(1) Ist der Vermieter nicht in der Lage, dem Mieter die angemieteten Räumlichkeiten wie geschuldet zur Verfügung zu stellen, kann der Mieter zur Anmietung von Ersatzräumen berechtigt sein und gegebenenfalls die Mehrkosten als Schadensersatz beim Vermieter geltend machen (vgl. Senatsurteil vom - XII ZR 153/15 - NJW 2017, 1104 Rn. 11, 19 mwN und - NZM 2013, 675 Rn. 10). Voraussetzung hierfür ist, dass der Mieter die Vertragsverletzung durch den Vermieter berechtigterweise zum Anlass nimmt, den Umständen nach angemessene neue Räume anzumieten (vgl. BGH aaO).
15(2) Bereits in der Klageschrift hat die Klägerin beantragt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Gleichwertigkeit der von der Beklagten angemieteten Gewerberäume und des Ersatzobjekts nach Art und Lage einzuholen. Der damit unter Beweis gestellte Vortrag ist entscheidungserheblich, weil die behauptete Gleichwertigkeit der Räumlichkeiten in D. und in W. für die Beurteilung der Angemessenheit der angemieteten Ersatzräumlichkeiten von Bedeutung ist.
16(3) Das Berufungsgericht hätte dem auf ausreichende Anknüpfungstatsachen gestützten Beweisantrag der Klägerin entsprechen, mithin das beantragte Sachverständigengutachten einholen und zur Grundlage seiner Entscheidung machen müssen. Es hat indes weder den von der Klägerin angebotenen Sachverständigenbeweis erhoben noch ausgeführt, warum es aus seiner Sicht der beantragten Beweiserhebung nicht bedurfte. Vielmehr hat es, ohne den Beweisantrag der Klägerin anzusprechen und die eigene Sachkunde für die Bewertung von Gewerbeimmobilien darzulegen, den Gebrauchswert der beiden Räumlichkeiten selbst beurteilt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass der höheren Miete der von der Klägerin in D. angemieteten Gewerberäume ein entsprechend höherer Nutz- und Gebrauchswert gegenüberstehe. Dies kommt einer vorweggenommenen Beweiswürdigung gleich, die im Prozessrecht keine Stütze findet.
17(a) Bei dem von der Klägerin durch Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellten Vortrag handelt es sich um eine dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung. Zwar ist die Frage der Gleichwertigkeit der Mietobjekte von Wertungen abhängig; diese knüpfen aber ihrerseits an beweisbare Eigenschaften der Mieträumlichkeiten sowie Bedürfnisse und Wertvorstellungen der maßgeblichen Verkehrskreise, mithin äußere und innere Tatsachen an. Für die Ermittlung einer Gebrauchswertdifferenz im Sinne eines Mietdifferenzschadens bedarf es daher regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens ( - NJW 2017, 2819 Rn. 42).
18(b) Das Berufungsgericht hat nicht dargelegt, dass und woher es über ausreichende eigene Sachkunde für die Beurteilung des unter Beweis gestellten Gebrauchswerts der Immobilien verfügt haben könnte, aufgrund deren es von der Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens hätte absehen dürfen. Für die Bewertung von Gewerbeimmobilien bedarf es regelmäßig besonderer Erfahrungen und Kenntnisse über ortsbezogene und wirtschaftliche Begleitumstände sowie die Interessen der am Wirtschaftsleben beteiligten Verkehrskreise, die sich nicht allein aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergeben und die bei den an der Berufungsentscheidung beteiligten Richtern auch nicht aufgrund ihrer richterlichen Tätigkeit zu unterstellen sind. Eine unterschiedliche Wertigkeit der beiden Räumlichkeiten, die gegebenenfalls einen Vorteilsausgleich jedenfalls in Höhe der hier streitigen Mietdifferenz gerechtfertigt hätte, liegt auch nicht etwa bereits aufgrund der Lage der Immobilien und den bei der Ersatzimmobilie zusätzlich gegebenen, vom Berufungsgericht angesprochenen Nutzungsvorteilen auf der Hand. Der Gebrauchswert einer Immobile ergibt sich aus einer Gesamtschau einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren von gegebenenfalls unterschiedlichem Gewicht. So kann bereits eine einzelne Eigenschaft von Räumlichkeiten - beispielsweise ein besonders hervorstechendes, einzigartiges Erscheinungsbild - den Wert anderer Eigenschaften auf- oder überwiegen und daher den Gebrauchswert maßgeblich bestimmen. Die für die Entscheidung erforderliche Vergleichsbetrachtung kann sich daher nicht in einer Gegenüberstellung einzelner wertbildender Eigenschaften erschöpfen.
19cc) Die gerügte Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
203. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Die Sache ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil der Senat die erforderlichen Feststellungen zur Gleichwertigkeit der beiden Räumlichkeiten nicht selbst treffen und daher nicht abschließend in der Sache entscheiden kann.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:260423BXIIZR83.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 8 Nr. 25
NJW-RR 2023 S. 1128 Nr. 17
SAAAJ-40857