NWB Nr. 20 vom Seite 1409

Dynamische DBA?

Dr. Lukas Hilbert | Diplom-Kaufmann, M.I.Tax, Bonn | Herausgeber des Steuer-Stichwort-Kommentars Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer | www.lhilbert.de

BMF zu Musterkommentar und Abkommensauslegung

Als stark vernetzte Wirtschaftsnation verfügt Deutschland über eine respektable Zahl an Doppelbesteuerungsabkommen (DBA). Diese werden durchaus öfter angepasst (Revision) oder gar durch neue Abkommen ersetzt. Gleichwohl zeigt der Blick auf die jeweils zu Jahresbeginn vom BMF veröffentlichte Übersicht auch so manches „in die Jahre gekommene“ DBA, was nicht weiter verwundert, sind Abschluss oder Überarbeitung dieser bilateralen Verträge doch aufwendige und nicht selten langwierige Unterfangen.

Das OECD-Musterabkommen – Blaupause für die meisten DBA – und ferner der dazu bestehende Musterkommentar werden in aller Regel weit häufiger überarbeitet als die einzelnen Abkommen selbst. Das BMF hat unlängst ein Schreiben vom herausgebracht und sich darin – mit Bezug auf das BFH-Urteil I R 44/16 vom – zur Bedeutung des Musterkommentars für die Abkommensauslegung geäußert. Der Kommentar soll – im Sinne einer Indizwirkung – bei Bestimmung der Auslegung von dem Musterabkommen entsprechenden Vorschriften zwischen Mitgliedstaaten in seiner jeweils zum Anwendungszeitpunkt geltenden Fassung herangezogen werden. Dies gilt insbesondere für nachträgliche Ergänzungen und Präzisierungen. Nach Art. 31 Abs. 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) werde die Auslegung eines DBA nicht auf den Zeitpunkt seines Abschlusses „eingefroren“. Die Finanzverwaltung legt mithin eine dynamische Betrachtung an, was gerade beim Rekurs auf die vorgenannte BFH-Entscheidung erstaunt, hat sich der I. Senat doch in ständiger Spruchpraxis gegen einen solchen Ansatz positioniert.

Folgt der andere Vertragsstaat dem Vorgehen nicht, besteht die Gefahr unterschiedlicher Abkommensauslegung nebst drohender Doppelbesteuerung. Dabei enthalten die Überarbeitungen des Musterkommentars keineswegs nur eher unbedeutende Kleinigkeiten oder „Klarstellungen“, sondern – insbesondere im Zusammenhang mit dem BEPS-Projekt – teils massive Veränderungen, etwa rund um den Betriebsstätten- und den Vertreterbegriff. Dass gerade Deutschland aus wohlerwogenen Gründen nicht jeder dieser Anpassungen folgen will, zeigen beispielsweise die eigenen Auswahlentscheidungen zum MLI. Um bei der Heranziehung des Musterkommentars Berücksichtigung zu finden, müssen Positionen der Mitgliedstaaten allerdings als von ihnen gemachte Bemerkungen („observations“) im Kommentar selbst enthalten sein.

Generell macht der dynamische Ansatz die Rechtsanwendung nicht leichter, insbesondere im Zusammenspiel mit der abweichenden Rechtsprechung. Sofern sich ein anderes Abkommensverständnis aus einem BMF-Schreiben oder einer sonstigen Verwaltungsanweisung ergibt, soll die Indizwirkung des OECD-Kommentars für die innerstaatliche Anwendung nach Willen der Finanzverwaltung widerlegt sein. Mehr noch klare Grenze beim Heranziehen einer Position aus dem Musterkommentar wird aber stets der jeweilige Wortlaut des konkreten Abkommens sein. Nur was sich dort widerspiegelt oder der jeweiligen Formulierung zumindest nicht zuwiderläuft, kann Anwendung finden.

Lukas Hilbert

Fundstelle(n):
NWB 2023 Seite 1409
EAAAJ-39645