Fahrtenbuchanordnung; Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren; Zugang zu Rohmessdaten
Leitsatz
1. Wird eine Fahrtenbuchanordnung auf die mit einem standardisierten Messverfahren ermittelte Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gestützt, muss das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung von Amts wegen nur überprüft werden, wenn der Adressat der Anordnung plausible Anhaltspunkte für einen Messfehler vorträgt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben.
2. Wendet sich der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, kann er sich nicht mit Erfolg auf die Verweigerung des Zugangs zu bei der Bußgeldstelle gespeicherten Daten berufen, wenn er nicht seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den gewünschten Zugang von der Bußgeldstelle zu erhalten.
Gesetze: § 31a Abs 1 S 1 StVZO, § 113 Abs 1 S 4 VwGO
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Az: 1 A 8/21 Urteilvorgehend Verwaltungsgericht des Saarlandes Az: 5 K 736/20 Urteil
Tatbestand
1Der Kläger wendet sich gegen eine Fahrtenbuchanordnung und begehrt nach deren Erledigung die Feststellung, dass sie rechtswidrig war.
2Am wurde auf der Bundesautobahn A 8 mit einem mobilen Lasermessgerät des Typs VITRONIC PoliScan FM 1 gemessen, dass die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit dem auf den Kläger zugelassenen PKW um 41 km/h (nach Toleranzabzug) überschritten wurde.
3Die Zentrale Bußgeldstelle des Polizeipräsidiums Rheinland-Pfalz (im Folgenden: Bußgeldstelle) übersandte dem Kläger einen Zeugenfragebogen mit der Bitte, die Personalien der verantwortlichen Person mitzuteilen; das Schreiben blieb unbeantwortet. Ebenfalls ohne Reaktion blieb das an die Ehefrau des Klägers übersandte Anhörungsschreiben, in dem der Vorwurf erhoben wurde, sie sei die Fahrerin gewesen. Nachdem auch weitere Ermittlungsbemühungen erfolglos geblieben waren, stellte die Bußgeldstelle das Ordnungswidrigkeitenverfahren ein und bat den Beklagten um Prüfung, ob das Führen eines Fahrtenbuchs angeordnet werden könne.
4Mit Bescheid vom , dem Kläger zugestellt am , gab der Beklagte ihm unter Anordnung des Sofortvollzugs auf, für sein Fahrzeug für die Dauer von sechs Monaten ab Zustellung der Verfügung ein Fahrtenbuch zu führen, es zu benannten Daten zur Kontrolle vorzulegen und nach Ablauf dieser Zeit für weitere sechs Monate aufzubewahren. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung drohte der Beklagte ein Zwangsgeld an. Für die Verfügung setzte er eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 150 € und Auslagen in Höhe von 3,68 € fest.
5Der Kläger legte Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Bezug nehmend auf das Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom - Lv 7/17 - machte er geltend, die Verwertung der Messdaten sei unzulässig, da die zur Überprüfung der Messung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien. Das Verwaltungsgericht wies den Eilantrag durch Beschluss vom zurück. Auf die Beschwerde des Klägers änderte das Oberverwaltungsgericht diese Entscheidung und stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her. In einem Hauptsacheverfahren sei zu klären, ob das verwendete Messgerät die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur nachträglichen Überprüfung eines Messergebnisses erforderlichen Rohmessdaten speichere. Am legte der Kläger dem Beklagten das Fahrtenbuch zur Kontrolle vor und erhielt es unbeanstandet mit der Aufforderung zurück, es für weitere sechs Monate aufzubewahren.
6Nach erfolglosem Widerspruch hat der Kläger am Klage mit dem Antrag erhoben, die Rechtswidrigkeit der Anordnung festzustellen, für sechs Monate ab Bescheidzustellung ein Fahrtenbuch zu führen. Das Verwaltungsgericht des Saarlandes hat die Klage abgewiesen. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage; jedenfalls sei sie unbegründet. Es könne gesichert davon ausgegangen werden, dass das verwendete Messgerät die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes für erforderlich angesehenen Rohmessdaten zuverlässig speichere und eine nachträgliche Überprüfung ermögliche. Dass der Kläger diese Daten im Verwaltungsverfahren nicht angefordert habe, gehe mit ihm heim. Die zu einem Bußgeldverfahren ergangene Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sei nicht einschlägig. Für den Erlass einer Fahrtenbuchanordnung genüge, dass der Verkehrsverstoß mit hinreichender Sicherheit feststehe. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichte die Behörde nicht, das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung "ins Blaue hinein" zu hinterfragen. Ermittlungen seien erst geboten, wenn der Fahrzeughalter Unstimmigkeiten der Messung aufzeige oder sie sich der Behörde aufdrängen müssten. Dazu müsse er substanziierte Angaben machen. Das sei hier mit dem pauschalen Verweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht geschehen.
7Das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 31a Abs. 1 StVZO hätten vorgelegen. Bei der mit zwei Punkten und einem Fahrverbot von einem Monat bewehrten Geschwindigkeitsüberschreitung handele es sich um eine schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne dieser Vorschrift. Bei einer Fahrtenbuchanordnung gelte wie im Bußgeldverfahren, dass die Ergebnisse standardisierter Messverfahren zugrunde gelegt werden könnten, solange keine substanziierten Einwände gegen ihre Richtigkeit erhoben würden. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom - Lv 7/17 - verlange das Gebot eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens in Bußgeldverfahren, dem Betroffenen auf Anfrage Zugang zu den Informationen zu gewähren, die er zur Verteidigung gegen den Vorwurf benötige, eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben. Komme die Bußgeldbehörde dieser Verpflichtung nicht nach, sei es, weil sie dem Einsichtsersuchen nicht Folge leiste und vorhandene digitale Dateien nicht vollständig zu Verfügung stelle, sei es, weil das Messgerät keine Rohmessdaten aufgezeichnet oder gespeichert habe, könnten gerichtliche Entscheidungen keinen Bestand haben, die auf dieser Messung beruhten. Für eine Fahrtenbuchanordnung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung gelte das ebenso. Doch treffe die Behauptung des Klägers, das Messgerät habe die zur Überprüfung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert, nicht zu; das habe die Sachaufklärung im Berufungsverfahren ergeben. Ebenso wenig dringe der Kläger mit dem Vortrag durch, diese Daten seien ihm auf Anfrage nicht vollständig zur Verfügung gestellt worden, weil die Bußgeldstelle ihm auf seinen Antrag vom nicht auch die Rohmessdaten der gesamten Messreihe übermittelt habe. Der Beklagte habe zu dem für die Überprüfung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung von der Richtigkeit und Verwertbarkeit des Messergebnisses ausgehen dürfen. Der Bundesgerichtshof habe entschieden, dass die Ergebnisse standardisierter Messverfahren zugrunde gelegt werden dürften, solange keine substanziierten Einwände gegen ihre Richtigkeit erhoben würden. Der Kläger habe den Datenzugang erst beantragt, als die ihm gegenüber ergangene Anordnung bereits in der Hauptsache erledigt gewesen sei. Nach dem - sei die Möglichkeit, die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf über die Rohmessdaten erlangte Informationen geltend zu machen, zeitlich begrenzt. Der Betroffene könne sich nur dann erfolgreich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen verteidigen, wenn er ihn rechtzeitig im Bußgeldverfahren beantragt habe. Das sei auf das gefahrenabwehrrechtlich ausgerichtete Fahrtenbuchverfahren zu übertragen. Nach dem einschlägigen Fach- und Verfahrensrecht sei dort der Antrag auf Zugang zu weiteren Informationen nur dann rechtzeitig erfolgt, wenn er zu einem Zeitpunkt gestellt worden sei, zu dem die Verfügung, deren Rechtmäßigkeit damit in Zweifel gezogen werden solle, noch rechtswirksam gewesen sei. Habe sich die Fahrtenbuchanordnung bereits in der Hauptsache erledigt und sei der entscheidungserhebliche Zeitpunkt damit verstrichen, könne der Betroffene ihre Rechtmäßigkeit nicht mehr dadurch in Frage stellen, dass er das Messergebnisses durch einen Sachverständigen überprüfen lassen wolle.
8Zur Begründung seiner Revision, die das Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat, macht der Kläger geltend: Das Oberverwaltungsgericht sei unzutreffend von der entsprechenden Anwendbarkeit von § 77 Abs. 2 OWiG im verwaltungsrechtlichen Verfahren ausgegangen. Des Weiteren habe es zu Unrecht angenommen, er habe den Antrag auf Zugang zu den Rohmessdaten nicht rechtzeitig gestellt. Er habe aufgrund einer sachverständigen Mitteilung davon ausgehen können, dass keine Rohmessdaten gespeichert worden seien. Als sich diese Annahme als unrichtig herausgestellt habe, habe er deren Übermittlung beantragt. Die Behörde habe ihm jedoch nur die Messdaten zu dem Vorfall mit seinem PKW, nicht aber auch die Messdaten der gesamten Messreihe sowie weitere angeforderte Daten zur Verfügung gestellt. Die nur teilweise übermittelten Daten ermöglichten keine vollständige Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung. Dass das Oberverwaltungsgericht die Messung dennoch verwertet habe, verletze ihn in seinen Grund- und Verfahrensrechten.
9Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Gründe
10Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass der Kläger das gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, hier in entsprechender Anwendung, erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der zeitlich erledigten Fahrtenbuchanordnung hat (1.). Dass das Oberverwaltungsgericht die in Bußgeldverfahren geltenden Grundsätze für die Verwertbarkeit der Ergebnisse standardisierter Messverfahren und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch der Beurteilung der Fahrtenbuchanordnung des Beklagten zugrunde gelegt hat, ist ebenfalls mit Bundesrecht vereinbar (2.). Nicht im Einklang mit Bundesrecht steht dagegen, dass das Oberverwaltungsgericht dem Umstand, dass die Bußgeldstelle dem Kläger auf seinen Antrag Zugang nur zu einem Teil der begehrten Daten gewährt hat, eine Bedeutung für die Rechtmäßigkeit der Fahrtenbuchanordnung bereits deshalb abgesprochen hat, weil der Kläger den Antrag erst gestellt hat, als die Fahrtenbuchanordnung erledigt war (3.). Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Kläger kann sich gegenüber der Fahrtenbuchanordnung des Beklagten auf die Nichtgewährung eines weitergehenden Datenzugangs durch die Bußgeldstelle nicht berufen, weil er nicht alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den behaupteten umfassenden Anspruch auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle durchzusetzen, der seiner Auffassung nach nicht nur die seinen PKW betreffenden Rohmessdaten, sondern auch die Rohmessdaten Dritter und die Statistikdatei einschließt (4.).
111. Gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, das auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Fahrtenbuchanordnung gerichtete Fortsetzungsfeststellungsbegehren des Klägers sei zulässig, ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Der Kläger verfügt über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung.
12a) Die gegen den Kläger gerichtete Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, hat sich mit dem Ende der Sechs-Monats-Frist, die nach der vom Beklagten im Bescheid vom getroffenen Regelung mit dessen Zustellung am zu laufen begann und somit am endete, durch ihre Befolgung bereits vor der Klageerhebung am erledigt. In einem solchen Fall ist § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zwar nicht unmittelbar, jedoch entsprechend anwendbar (stRspr, vgl. etwa 8 C 30.87 - BVerwGE 81, 226 <227> m. w. N.).
13b) Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht, hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder - wie hier - anders erledigt, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Das ist hier der Fall.
14Das Oberverwaltungsgericht hat ein berechtigtes Feststellungsinteresse bejaht, weil die Fahrtenbuchanordnung den Kläger im Falle ihrer Rechtswidrigkeit in seinem grundrechtlich geschützten Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt hätte und es das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gebiete, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings tatsächlich überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn sich die direkte Belastung nach dem typischen Geschehensablauf - wie hier - auf eine Zeitspanne beschränke, in der der Betroffene eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren kaum erlangen könne. In der Offenlegung der in das Fahrtenbuch einzutragenden Angaben hat das Oberverwaltungsgericht eine schwere Grundrechtsbeeinträchtigung gesehen (UA S. 16 ff.).
15Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit der dem Kläger auferlegten Pflicht, über einen Zeitraum von sechs Monaten ein Fahrtenbuch zu führen und offen zu legen, wer sein Fahrzeug während dieser Zeit wann geführt hat, ist ein hinreichend gewichtiger Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) verbunden, der es rechtfertigt, ihm auch noch nach der Erledigung der Fahrtenbuchanordnung, die in solchen Fällen typischerweise vor dem Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens eintritt, ein Interesse an der verwaltungsgerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit zuzuerkennen (vgl. dazu u. a. - BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.; Kammerbeschlüsse vom - 2 BvR 2601/17 - juris Rn. 32 ff. und vom - 2 BvR 676/20 - juris Rn. 30 f.; 2 C 5.19 - BVerwGE 170, 319 Rn. 15 und vom - 3 CN 1.21 - Rn. 13, jeweils m. w. N.). Es kommt danach nicht mehr darauf an, inwieweit der Adressat der Fahrtenbuchanordnung nach deren zeitlicher Erledigung ein Rehabilitationsinteresse hat oder Wiederholungsgefahr besteht und daraus das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse hergeleitet werden kann (verneinend u. a. 11 ZB 14.1129 - juris Rn. 13 ff.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 31a StVZO Rn. 83 m. w. N.).
162. Dass das Oberverwaltungsgericht die in Bußgeldverfahren geltenden Grundsätze für die Verwertbarkeit der Ergebnisse standardisierter Messverfahren und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch der Beurteilung der Fahrtenbuchanordnung des Beklagten zugrunde gelegt hat, ist ebenfalls mit Bundesrecht vereinbar.
17a) Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer zeitlich erledigten Fahrtenbuchanordnung ist mit Blick darauf, dass es sich dabei um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt (vgl. 3 C 13.14 - BVerwGE 152, 180 Rn. 12 m. w. N.), dessen Rechtmäßigkeit die Behörde während der gesamten Geltungsdauer unter Kontrolle halten muss, und der Kläger seinen Antrag nicht zeitlich beschränkt hat, die Sach- und Rechtslage im Geltungszeitraum (vgl. allgemein zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei einem erledigten Verwaltungsakt: 8 B 62.11 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 39 Rn. 14).
18Die Voraussetzungen für den Erlass einer Fahrtenbuchanordnung ergeben sich aus § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO. Nach dieser Bestimmung in der hier maßgeblichen Fassung kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war.
19b) Außer Streit steht, dass im vorliegenden Fall die Feststellung des Fahrzeugführers trotz ausreichender Aufklärungsbemühungen nicht möglich war (vgl. zu diesem Erfordernis u. a. 7 C 77.74 - Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 5 = juris Rn. 15 f. und vom - 7 C 3.80 - Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 12 = juris Rn. 7, jeweils m. w. N.). Strittig ist allein, ob der Beklagte auch vom Vorliegen der zweiten Tatbestandsvoraussetzung des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO, einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften, ausgehen durfte.
20Von einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann nur bei einem Verkehrsverstoß von einigem Gewicht ausgegangen werden (stRspr, vgl. etwa 11 C 12.94 - BVerwGE 98, 227 <229>). Ein solches Gewicht ist u. a. dann zu bejahen, wenn die Zuwiderhandlung - wie die hier in Rede stehende Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 41 km/h (nach Toleranzabzug) - nach dem ab dem geltenden gefährdungsorientierten Fahreignungsbewertungssystem mit mindestens einem Punkt im Fahreignungsregister zu bewerten ist (so zutreffend Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 31a StVZO Rn. 19).
21c) Das Vorliegen eines Verkehrsverstoßes muss zur vollen richterlichen Überzeugung und nicht lediglich mit hinreichender Sicherheit feststellen (so aber - wie das Berufungsgericht - - juris Rn. 4 m. w. N.; anders noch im Beschluss vom - 8 B 1213/14 - juris Rn. 4; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023; § 31a StVZO Rn. 19 m. w. N.). Es dürfen keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass eine solche Zuwiderhandlung begangen wurde. Dass es sich bei der Fahrtenbuchanordnung um eine Maßnahme zum Zwecke der Gefahrenabwehr handelt (stRspr, vgl. u. a. 3 C 13.14 - BVerwGE 152, 180 Rn. 19 m. w. N.), ändert daran nichts. § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO setzt das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften voraus; die Gefahr oder die Möglichkeit, dass es zu einer solchen Zuwiderhandlung gekommen ist, genügt danach nicht. Der Blick auf den Sinn und Zweck der Regelung bestätigt diese Auslegung. Die gefahrenabwehrrechtliche Ausrichtung der Fahrtenbuchanordnung liegt darin, mit der Verpflichtung zum Führen eines Fahrtenbuchs dafür Sorge zu tragen, dass künftig die Feststellung des Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften ohne Schwierigkeiten möglich ist (stRspr, vgl. u. a. 3 C 13.14 - a. a. O.). Das rechtfertigt indes keine Herabsetzung des Überzeugungsmaßstabs für das Vorliegen des in § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO tatbestandlich vorausgesetzten Verkehrsverstoßes. Hierbei handelt es sich um einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalt; er bildet den Ausgangspunkt für die daran anknüpfende Gefahrenprognose, ist aber nicht deren Gegenstand.
22d) Die in Straf- und Bußgeldverfahren geltenden Grundsätze zum Umfang der Amtsermittlung bei der Verwertung von Ergebnissen standardisierter Messverfahren sind auch bei der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle von Fahrtenbuchanordnungen anzuwenden.
23aa) Unter einem standardisierten Messverfahren wird anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren verstanden, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass das nicht bedeutet, dass die Messung in einem vollautomatisierten, menschliche Handhabungsfehler praktisch ausschließenden Verfahren stattfinden muss. Diesen Anforderungen werden daher grundsätzlich auch Lasermessverfahren gerecht, bei denen die Geschwindigkeitsmessung von besonders geschultem Messpersonal unter Beachtung der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und der Zulassungsbedingungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt durchgeführt wird (vgl. - BGHSt 43, 277 = juris Rn. 27; anknüpfend daran - wie das Berufungsgericht - u. a. - NZV 2021, 41 Rn. 41; - juris Rn. 9 ff. jeweils m. w. N.). Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (UA S. 19) kam bei dem hier eingesetzten Messgerät des Typs VITRONIC PoliScan Speed FM 1 ein solches standardisiertes Messverfahren zur Anwendung (ebenso zu einem Messgerät dieses Typs: - a. a. O. Rn. 2, 40; vgl. auch Kammerbeschluss vom - 2 BvR 1451/18 - juris Rn. 1). Auch der Kläger zweifelt das nicht an.
24bb) In der straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Gericht bei einer Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren nur dann gehalten ist, sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn der Betroffene konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler darlegt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben (vgl. - BGHSt 39, 291 = juris Rn. 28; 2 Ss OWi 598/06 - juris Rn. 13; OLG Celle, Beschluss vom - 311 SsBs 58/09 - juris Rn. 12; IV-1 RBs 50/14 - juris Rn. 20). Diesen Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlicher Sicht gebilligt. Es sei im Ausgangspunkt von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren im Falle eines standardisierten Messverfahrens von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht ausgingen. Mit dieser Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsverstößen werde gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht jedes Amtsgericht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüfen müsse (vgl. - NZV 2021, 41 Rn. 39, 47 ff.). Die damit verbundene Minderung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht ist gerechtfertigt, weil die Zulassung solcher Messgeräte durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die Berücksichtigung eines Toleranzwerts grundsätzlich eine ausreichende Gewähr dafür bieten, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Einsatzbedingungen auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefern wird (vgl. - BGHSt 43, 277 = juris Rn. 26; 2 (7) SsBs 212/15 - juris Rn. 6 m. w. N.).
25cc) Es ist revisionsrechtlich nichts dagegen zu erinnern, dass das Berufungsgericht (UA S. 19) diese Grundsätze - in Übereinstimmung mit weiteren Obergerichten und der Literatur (vgl. etwa VGH Mannheim, Beschluss vom - 10 S 278/15 - juris Rn. 7; - juris Rn. 4 f.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023 § 31a StVZO Rn. 16 f. m. w. N.) – in einem Verfahren anwendet, das eine Fahrtenbuchanordnung zum Gegenstand hat. Das ist deshalb von Bedeutung, weil auch die Behörde, die das Führen eines Fahrtenbuchs anordnet, und das Verwaltungsgericht in einem anschließenden Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung selbständig das Vorliegen aller (objektiven) Tatbestandsmerkmale der straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorschrift zu prüfen haben, deren Verletzung einen Verstoß gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO begründen soll (stRspr, vgl. u. a. - juris Rn. 18 sowie Dauer a. a. O., m. w. N.). Sie sind danach nicht verpflichtet, ohne konkreten Anlass gewissermaßen "ins Blaue hinein" das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren zu hinterfragen.
26Die Einwände, die der Kläger gegen die Heranziehung dieser Grundsätze in Fahrtenbuchverfahren geltend macht, sind unbegründet. Zwar mag zutreffen, dass es sich bei einer Fahrtenbuchanordnung, weil deren Erlass gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO außer dem Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften zusätzlich voraussetzt, dass der dafür Verantwortliche nicht festgestellt werden konnte, zahlenmäßig in einem geringeren Umfang um Massenverfahren handelt, als das bei straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfahren der Fall ist, die eine Geschwindigkeitsüberschreitung ahnden sollen. Daher mag - wie der Kläger geltend macht - bei Fahrtenbuchverfahren die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die einer der Gesichtspunkte für den reduzierten Umfang der Amtsermittlungspflicht bei durch standardisierte Messverfahren gewonnenen Geschwindigkeitsmessungen ist (so u. a. - NZV 2021, 41 Rn. 35), nur in einem geringeren Umfang berührt sein. Auch in Bezug auf Fahrtenbuchanordnungen ist eine Reduzierung der behördlichen und gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gleichwohl deshalb gerechtfertigt, weil mit Blick auf die Zulassungs- und Konformitätsüberprüfungsverfahren, die die entsprechenden Messgeräte durchlaufen müssen, sowie auf deren regelmäßige Eichung von einer ausreichenden Gewähr für die Richtigkeit der ermittelten Messergebnisse ausgegangen werden kann.
27e) Nach der Rechtsprechung des - NZV 2021, 41) korrespondiert in Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung mit dem Erfordernis, plausible Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des Messergebnisses vorzutragen, ein aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. auch VerfGH SL, Urteil vom - Lv 7/17 - LVerfGE 30, 325 zu Art. 60 Abs. 1 Verf SL i. V. m. Art. 20 Verf SL) hergeleiteter Anspruch des Betroffenen darauf, nach Maßgabe dort näher beschriebener Voraussetzungen den Zugang zu Rohmessdaten zu erhalten, die ihm eine eigenständige und unabhängige Überprüfung des Messergebnisses erst ermöglichen. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordere - so das Bundesverfassungsgericht - "Waffengleichheit" zwischen den Bußgeldbehörden einerseits und dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren andererseits (a. a. O. Rn. 50, 53).
28Das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akten befindlichen Informationen gilt aber nicht unbegrenzt. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssten - so das Bundesverfassungsgericht - in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern sei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend sei, ob er eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten dürfe (Kammerbeschluss vom - 2 BvR 1616/18 - NZV 2021, 41 Rn. 57). Abgesehen davon sei der Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu außerhalb der Akten befindlichen Informationen auch zeitlich begrenzt. Zwar stehe ihm ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Der Betroffene könne sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er ihn rechtzeitig im Bußgeldverfahren beantragt habe. Von Verfassungs wegen sei dies nicht zu beanstanden (a. a. O. Rn. 60). Die Rechtzeitigkeit des Antrags auf Zugang zu weiteren Daten hat das Bundesverfassungsgericht im damaligen Fall bejaht; der Betroffene hatte ihn bereits bei der Anhörung durch die Bußgeldstelle gestellt (a. a. O. Rn. 3, 66).
29f) Diese vom Bundesverfassungsgericht aus Anlass eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens entwickelten Grundsätze sind auf die Fahrtenbuchverfahren zu übertragen. Das folgt wegen des Gegenstandes des verfassungsgerichtlichen Verfahrens zwar nicht aus § 31 Abs. 1 BVerfGG. Doch auch wenn die Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, anders als die Verhängung einer Kriminalstrafe oder eines Bußgeldes nicht repressiv der Sanktionierung eines Fehlverhaltens, sondern - wie gezeigt - präventiv der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dient (vgl. zur präventiven Ausrichtung 3 C 13.14 - BVerwGE 152, 180 Rn. 19 m. w. N.), handelt es sich um ein hoheitliches Vorgehen, das einen Eingriff in die Rechte des Fahrzeughalters bewirkt. Zugleich ist - wie gezeigt - in Fahrtenbuchverfahren der Umfang der Amtsermittlung begrenzt. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitete Recht auf ein faires Verfahren gebietet deshalb auch hier, dass dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung unter den vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet wird, die Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, auf der die Annahme des Verkehrsverstoßes beruht, eigenständig zu überprüfen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die ihm den von ihm geforderten Vortrag plausibler Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Geschwindigkeitsmessung erst ermöglichen können.
30g) Nicht entschieden hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Kammerbeschluss dagegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang bei der Anwendung eines standardisierten Messverfahrens Rohmessdaten gespeichert und vorgehalten werden müssen, und was für die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung daraus folgt, wenn das nicht geschehen ist. Demgegenüber hatte der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes (Urteil vom - 1 Lv 7/17 - LVerfGE 30, 325) aus Art. 60 Abs. 1 i. V. m Art. 20 der Verfassung des Saarlandes ein Grundrecht auf ein faires Verfahren hergeleitet, das - in Verbindung mit Art. 14 Abs. 3 Verf SL - ein Grundrecht auf wirksame Verteidigung einschließe (a. a. O. S. 335 ff. = juris Rn. 78 ff.). Es sei verletzt, wenn beim Einsatz eines standardisierten Messverfahrens die Rohmessdaten nicht gespeichert wurden, die dem Betroffenen eine Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung erst ermöglichten. Das führe dazu, dass in einem solchen Fall die Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar sei (a. a. O. Rn. 80, 125; anders dagegen u. a. VerfGH Rheinland-Pfalz, VGH B 19/19 - NZV 2020, 92 Rn. 48; - juris Rn. 27 ff.).
31Im vorliegenden Verfahren bedarf das keiner Entscheidung. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die der Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat und die deshalb für die revisionsgerichtliche Überprüfung des angegriffenen Urteils bindend sind (§ 137 Abs. 2 VwGO), hat das verwendete Messgerät die für eine Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung erforderlichen Rohmessdaten gespeichert (UA S. 25).
32h) Ebenso wenig ist vorliegend zu entscheiden, ob dem Betroffenen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung Zugang zu mehr als zu den zum eigenen Fahrzeug gespeicherten Rohmessdaten zu gewähren ist, insbesondere nicht, ob und inwieweit ihm auch ein Recht auf Einsichtnahme in die Rohmessdaten Dritter zusteht (ablehnend etwa OLG Zweibrücken, Beschluss vom - 1 OWi 2 SsRs 19/21 - NZV 2022, 27 sowie OLG Frankfurt, Beschluss vom - 2 Ss-OWi 589/16 - und BayOblG München, Beschluss vom - 202 ObOWi 1532/20 - DAR 2021, 104 = juris Rn. 11; bejahend dagegen OLG Jena, Beschluss vom - 1 OLG 331 SsBs 23/20 - und 4 Rb 12 Ss 1094/20 - VRS 140, 319; offen gelassen von - NZV 2022, 287).
33Der Einwand des Klägers, ihm sei der beantragte Zugang zu Rohmess- und sonstigen Daten nicht im gebotenen Umfang gewährt worden, erweist sich - wie den nachfolgenden Ausführungen zu entnehmen ist - bereits deshalb nicht als tragfähig, weil er gegenüber der Bußgeldstelle nicht alles ihm Zumutbare unternommen hat, um von ihr den begehrten Datenzugang zu erhalten.
343. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Beklagte habe beim Erlass der Fahrtenbuchanordnung von einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 41 km/h (nach Toleranzabzug) und damit von einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO ausgehen dürfen, weil der Kläger den Zugang zu den Rohmessdaten zur Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung nicht rechtzeitig bei der Bußgeldstelle beantragt habe, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Für die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, ein solcher Antrag sei nur dann rechtzeitig im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt, wenn der Datenzugang vor Ablauf der Geltungsdauer der Fahrtenbuchanordnung beantragt worden sei, findet sich im Bundesrecht keine rechtliche Grundlage.
35Unzutreffend ist allerdings die Rüge des Klägers, das Oberverwaltungsgericht habe § 77 Abs. 2 OWiG entsprechend angewandt. Es leitet die von ihm angenommene Beschränkung vielmehr aus dem einschlägigen Fach- und Verfahrensrecht ab (UA S. 29).
36Fraglich erscheint indes bereits, ob das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom mit dem Kriterium eines "rechtzeitigen" Zugangsantrags (2 BvR 1616/18 - NZV 2021, 41 Rn. 60) eine Anspruchsvoraussetzung in Form eines für alle Bußgeldverfahren gleichermaßen geltenden festen Zeitpunkts gemeint hat, oder nicht vielmehr - worauf die Erwähnung von § 77 Abs. 2 OWiG hindeutet - auf die prozessualen Möglichkeiten hingewiesen hat, die dem Gericht in Bußgeldverfahren in Abhängigkeit vom jeweiligen Verfahrensstand eröffnet sind, um verspäteten, insbesondere zu einer Verfahrensverzögerung führenden Sachvortrag zurückzuweisen.
37Aber auch unabhängig davon können weder dem Verwaltungsprozessrecht (a) noch dem für Fahrtenbuchanordnungen geltenden Fachrecht (b) Anhaltspunkte für den vom Oberverwaltungsgericht als maßgeblich angesehenen Zeitpunkt für die "Rechtzeitigkeit" eines Antrags auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle entnommen werden.
38a) Für die Beantwortung der Frage, welche Erkenntnisse das Verwaltungsgericht für die Beurteilung heranziehen darf, ob es zu einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO gekommen ist, sind der Umstand und der Zeitpunkt der Erledigung der Fahrtenbuchanordnung aus verwaltungsprozessualer Sicht grundsätzlich ohne Bedeutung. Mit der Möglichkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage in direkter oder entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eröffnet die Verwaltungsgerichtsordnung dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung die Möglichkeit, deren Rechtmäßigkeit auch noch dann gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn sie sich erledigt hat und damit keine unmittelbaren Rechtswirkungen mehr zeitigt. Voraussetzung hierfür ist - wie gezeigt -, dass der Betroffene ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit hat. Besteht ein solches berechtigtes Interesse, erfolgt eine umfassende verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung, ohne dass der Umstand der Erledigung zu einer Reduzierung des Prüfungsumfangs führt. Dementsprechend sind vom Verwaltungsgericht grundsätzlich auch erst nach dem Erledigungseintritt gewonnene Erkenntnisse zu tatsächlichen Umständen zu berücksichtigen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts maßgeblich sind, also auch solche Erkenntnisse, zu denen das Verwaltungsgericht erst in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO), etwa durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens, gelangt ist. Es wäre widersprüchlich, die verwaltungsgerichtliche Überprüfung eines bereits erledigten Verwaltungsakts zu eröffnen, jedoch Erkenntnisse, die dem Verwaltungsgericht für die Beurteilung eines in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalts zur Verfügung stehen, von der Berücksichtigung ausschließen. Damit würde der Anspruch auf verwaltungsgerichtliche Überprüfung, der im Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) wurzelt, zum Teil wieder entwertet.
39Hinzu kommt, dass die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, erst nach der Erledigung der Fahrtenbuchanordnung gewonnene Erkenntnisse könnten nicht verwertet werden, in der Sache eine Präklusion zur Folge hat. Das setzt jedoch eine rechtliche Regelung voraus, die einen solchen Einwendungsausschluss mit der gebotenen Rechtsklarheit anordnet. Hieran fehlt es.
40b) Aus dem maßgeblichen Fachrecht folgt nichts Anderes. Die Beurteilung, ob die gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO erforderliche Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften vorliegt, hat - wie bereits ausgeführt - einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Vorgang zum Gegenstand. Es handelt sich nicht um eine Prognose, bei der nach allgemeinen Grundsätzen auf eine ex-ante-Betrachtung abzustellen wäre. Sollte sich das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung als unzutreffend erweisen, etwa weil sich herausstellt, dass das Messgerät defekt war oder dass es zu einem Bedienungsfehler gekommen ist, kann hierauf die Annahme einer Geschwindigkeitsüberschreitung und damit einer Zuwiderhandlung im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO nicht gestützt werden. Das gilt unabhängig davon, ob sich der Messfehler und dessen Ursache noch während der Wirksamkeit der Anordnung oder erst nach deren Erledigung, etwa im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, herausstellen.
41Etwas Anderes kann entgegen der Annahme des Oberverwaltungsgerichts nicht daraus hergeleitet werden, dass die für den Erlass der Fahrtenbuchanordnung zuständige Behörde und das deren Entscheidung überprüfende Verwaltungsgericht bei Anwendung eines standardisierten Messverfahrens solange von der Richtigkeit der Messung ausgehen können, wie der Betroffene keine plausiblen Anhaltspunkte gegen deren Richtigkeit vorträgt. Ergeben sich solche Anhaltspunkte erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, sind sie - vorbehaltlich der verwaltungsprozessualen Möglichkeiten, die etwa nach § 87 b VwGO bestehen, um eine Verfahrensverzögerung durch verspätetes Vorbringen zu verhindern (vgl. zu § 77 Abs. 2 OWiG in Ordnungswidrigkeitenverfahren - NZV 2021, 41 Rn. 60) - bei der Feststellung zu berücksichtigen, ob es zu einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO gekommen ist (zur Berücksichtigung von nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens gewonnenen Erkenntnissen 3 B 1.22 - NVwZ 2023, 265 Rn. 13 f., dort zum Arzneimittelrecht).
424. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts erweist sich aber aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Kläger hat weder im Verwaltungs- noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - wie geboten - konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorgetragen. Daher durfte das Oberverwaltungsgericht von der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung ausgehen (a). Das Recht auf ein faires Verfahren steht dem nicht entgegen. Es ist nicht verletzt, da der Kläger nicht alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle durchzusetzen (b).
43a) Wie eingangs gezeigt, können auch die für den Erlass einer Fahrtenbuchanordnung zuständige Behörde und das Verwaltungsgericht bei deren gerichtlicher Überprüfung das durch ein standardisiertes Messverfahren gewonnene Messergebnis zugrunde legen, solange und soweit der Adressat der Anordnung keine plausiblen Anhaltspunkte für einen Messfehler darlegt.
44Solche Anhaltspunkte hat der Kläger weder im Verwaltungs- noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgezeigt. Er hat sich, nachdem sich sein Einwand, das Messgerät habe keine Rohmessdaten gespeichert, nach der Sachaufklärung im Berufungsverfahren als unzutreffend erwiesen hat, darauf beschränkt vorzutragen, ihm seien von der Bußgeldstelle nicht alle aus seiner Sicht zur Überprüfung des Messergebnisses erforderlichen Daten zur Verfügung gestellt worden; insbesondere habe er nicht die bei der Messreihe angefallenen Rohmessdaten Dritter und die Statistikdatei erhalten.
45b) Seine auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom - Lv 7/17 - gestützte Rüge, das Recht auf ein faires Verfahren sei deshalb verletzt und das Messergebnis demzufolge nicht verwertbar, geht fehl.
46Wurde bei einer Geschwindigkeitsmessung ein standardisiertes Messverfahren verwendet, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) zwar ein Anspruch des Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung auf Zugang zu bei der Bußgeldstelle vorhandenen Daten innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Grenzen. Das Recht auf ein faires Verfahren, bei dem - wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat (Kammerbeschluss vom - 2 BvR 1616/18 - NZV 2021, 41 Rn. 33) - die Gesamtheit des Verfahrens in den Blick zu nehmen ist, begründet aber nicht nur Rechte, sondern auch Obliegenheiten des Betroffenen. Es handelt sich nicht um eine "Einbahnstraße". Der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung ist der Sachverwalter seiner Interessen. Das gilt auch und gerade dann, wenn es um den Zugang zu Daten geht, die sich außerhalb der Akten des Fahrtenbuchverfahrens befinden, und die Bußgeldstelle, bei der die gewünschten Daten gespeichert sind, - wie in der Regel - nicht Beteiligte des Verfahrens auf Erlass und anschließende gerichtliche Überprüfung der Fahrtenbuchanordnung ist. Es obliegt dem Adressaten der Fahrtenbuchanordnung, alle ihm zumutbaren Schritte zu unternehmen, um den aus seiner Sicht bestehenden Anspruch auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle geltend zu machen und gegebenenfalls ihr gegenüber gerichtlich durchzusetzen. Eine solche gerichtliche Durchsetzung findet außerhalb des die Fahrtenbuchanordnung betreffenden Rechtsstreits in einem gesonderten, gegen die Bußgeldstelle zu richtenden Verfahren statt. Verweigert die Bußgeldstelle dem Adressaten der Fahrtenbuchanordnung den Zugang zu bei ihr vorhandenen Informationen ganz oder teilweise, führt das auch nicht dazu, dass dann das Verwaltungsgericht die Bußgeldstelle von Amts wegen oder auf Antrag des Klägers gemäß § 86 Abs. 1, § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO auffordern müsste, ihm die vom Kläger begehrten Informationen zugänglich zu machen. Die verwaltungsgerichtliche Amtsermittlungspflicht setzt - wie gezeigt - erst dann ein, wenn plausible Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren dargelegt sind. Nur wenn der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung seine im Zusammenhang mit dem gewünschten Datenzugang bestehenden Obliegenheiten erfüllt, kann es im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren geboten sein, ihm nicht die Möglichkeit zu nehmen, auf der Grundlage der begehrten Informationen konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorzutragen.
47Der Kläger hat nicht alles ihm Zumutbare unternommen, um von der Bußgeldstelle die nach seiner Einschätzung für eine Überprüfung des Messergebnisses erforderlichen Daten zu erhalten. Einen Antrag auf Datenzugang hat er bei der Bußgeldstelle erst am gestellt. Auf diesen Antrag hin hat sie ihm mit Schreiben vom unter anderem die seinen PKW betreffenden Rohmessdaten zur Verfügung gestellt, allerdings nicht - wie vom Kläger beantragt - zusätzlich auch die Rohmessdaten der gesamten Messreihe oder hilfsweise die des Messtages, was auch die Daten zu anderen Verkehrsteilnehmern eingeschlossen hätte. Ebenso wenig hat sie dem Kläger - wie er ebenfalls beantragt hatte - die Statistikdatei übermittelt. Zur Begründung hat die Bußgeldstelle unter Bezugnahme auf den - (NZV 2021, 41) darauf abgestellt, dass durch die Einsichtnahme in Messunterlagen, die Dritte beträfen, deren Rechte tangiert sein könnten. Der Kläger habe nicht plausibel gemacht, weshalb die Kenntnis vom Inhalt andere Verkehrsteilnehmer betreffender Daten für seine Verteidigung Bedeutung gewinnen könne und er deshalb auf diese Informationen angewiesen sei. Weitere, auch gerichtliche Schritte, um den von ihm behaupteten Zugangsanspruch gegenüber der Bußgeldstelle durchzusetzen, hat der Kläger - wie sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt hat - nicht unternommen. Auch aus den ihm von der Bußgeldstelle zur Verfügung gestellten Daten hat der Kläger keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des Messergebnisses abgeleitet.
48Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:020223U3C14.21.0
Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 20
NJW 2023 S. 2658 Nr. 36
DAAAJ-39158