BGH Urteil v. - X ZR 18/22

(Reiseleistungen als Gegenstand einer Gattungsschuld; Ausübung des Bestimmungsrechts durch einen Reiseveranstalter)

Leitsatz

1. Reiseleistungen können nur dann Gegenstand einer Gattungsschuld sein, wenn die als gattungsgemäß in Frage kommenden Leistungen durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind und sich dadurch von Gegenständen anderer Art abheben. Hieran fehlt es, wenn die geschuldeten Reiseleistungen lediglich als "Fahrt ins Blaue" bezeichnet sind.

2. Hat sich der Reiseveranstalter die Bestimmung der zu erbringenden Reiseleistungen vorbehalten, liegt in der Aushändigung eines Reiseprogramms bei Antritt der Reise in der Regel die Ausübung des Bestimmungsrechts im Sinne von § 315 Abs. 2 BGB.

Gesetze: § 243 Abs 1 BGB, § 243 Abs 2 BGB, § 275 BGB, § 313 BGB, § 315 Abs 2 BGB, § 651m Abs 2 S 1 BGB

Instanzenzug: LG Osnabrück Az: 4 S 197/21 Urteilvorgehend AG Lingen Az: 4 C 136/21

Tatbestand

1Der Kläger macht Ansprüche auf Minderung wegen mangelhafter Reiseleistungen geltend.

2Der Kläger buchte über ein Reisebüro bei der Beklagten für elf Personen zu einem Gesamtpreis von 2.138 Euro eine als "Fahrt ins Blaue" beworbene Busreise mit Hotelübernachtungen, die vom 13. bis stattfinden sollte. In Abhängigkeit davon, ob Einzel- oder Doppelzimmer gebucht wurden, betrug der Teilnehmerpreis pro Person 194,67 oder 253,67 Euro. Reiseziel und Reiseprogramm waren den Teilnehmern vor Antritt der Reise nicht bekannt.

3Zu Beginn der Reise wurde den Reisenden ein Reiseprogramm ausgehändigt, welches neben zwei Hotelübernachtungen in Hamburg, einer Führung im Speicherstadtmuseum und einer großen Hafenrundfahrt den Besuch des Musicals "Cirque du Soleil Paramour" mit einer Veranstaltungsdauer von zweieinhalb Stunden vorsah.

4Am Nachmittag des Anreisetages wurde den Reiseteilnehmern bekannt gegeben, dass der Besuch des Musicals infolge der Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht stattfinden könne. Stattdessen führte die Beklagte eine von einer Reiseführerin begleitete dreistündige Stadtrundfahrt durch Hamburg durch.

5Das Amtsgericht hat die auf Zahlung eines Minderungsbetrags von 65 Euro pro Teilnehmer, insgesamt also 715 Euro, und Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagte unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels zur Zahlung von 320 Euro und Erstattung anteiliger außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt.

6Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren der vollständigen Klageabweisung weiter. Der Kläger tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

7Die zulässige Revision ist unbegründet.

8I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

9Der Ausfall des geplanten Musicalbesuchs stelle einen zur Minderung berechtigenden Reisemangel dar.

10Bei einer Überraschungsreise ohne vorherige Kenntnis von Reiseziel und Reiseprogramm stehe dem Reiseveranstalter ein Leistungsbestimmungsrecht zu. Durch Aushändigung des Reiseprogramms habe die Beklagte den zunächst nur gattungsmäßig geschuldeten Leistungsinhalt gemäß § 243 Abs. 2 BGB durch eine nach außen erkennbare Handlung konkretisiert und verbindlich gemacht.

11Der Reisemangel sei mit der Durchführung der Stadtrundfahrt nicht behoben worden. Eine Austauschbarkeit der Programmpunkte könne nicht angenommen werden, da eine Stadtrundfahrt gegenüber einem Musicalbesuch nicht gleichartig sei und nicht wie dieser zu den weiteren Programmpunkten einen Kontrast bilde.

12Bei Bemessung der Minderungsquote sei zu berücksichtigten, dass der Besuch des Musicals zwar nicht buchungsentscheidend gewesen sei, er aber nach Konkretisierung der Reise einen Hauptprogrammpunkt darstelle. Ausgehend davon, dass Anreise, Übernachtung und Verpflegung bereits mit 60 % des Werts der Pauschalreise zu veranschlagen seien, sei es unter Berücksichtigung von Hafenrundfahrt und Museumsführung angemessen, die mit dem Wegfall des Musicals eingetretene Minderung mit 15 % des Gesamtpreises zu bewerten.

13II. Dies hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

141. Dem Kläger steht gemäß § 651m Abs. 2 Satz 1 BGB ein Anspruch auf Erstattung des über den geminderten Reisepreis der gebuchten Pauschalreise hinaus gezahlten Betrags zu.

15a) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Beklagten für die Auswahl und Gestaltung des Reiseprogramms der gebuchten "Fahrt ins Blaue" ein Leistungsbestimmungsrecht zustand.

16aa) Dieses Recht hat entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts allerdings seine Grundlage nicht in § 243 Abs. 2 BGB.

17Reiseleistungen können in entsprechender Anwendung von § 243 Abs. 1 BGB zwar grundsätzlich Gegenstand einer Gattungsschuld sein (, BGHZ 100, 157, 174 = NJW 1987, 1931, 1935). Dies setzt aber voraus, dass eine Leistung mittlerer Art und Güte bestimmt werden kann. Letzteres ist nur dann möglich, wenn die als gattungsgemäß in Frage kommenden Leistungen durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind und sich dadurch von Gegenständen anderer Art abheben (vgl. Staudinger/Rieble (2020), § 315 BGB Rn. 204).

18Bei lediglich mit "Fahrt ins Blaue" bezeichneten Reiseleistungen fehlt es an gattungsbildenden Merkmalen, die die Aussonderung eines Leistungsgegenstandes mittlerer Art und Güte erlauben.

19bb) Mit dem Recht, die Reiseleistungen erst nach Abschluss des Reisevertrages festzulegen, hat sich die Beklagte als Reiseveranstalter jedoch ein Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 Abs. 1 BGB ausbedungen, das mangels abweichender Regelung nach billigem Ermessen auszuüben ist.

20Dass ein solches Bestimmungsrecht auch in einem Pauschalreisevertrag vereinbart werden kann, hat der Senat bereits im Zusammenhang mit der Bestimmung von Abflugzeiten entschieden (, NJW 2014, 1168 Rn. 21). Für die Bestimmung von Reisezielen oder Programmpunkten gilt nichts anderes.

21b) Das ihr zustehende Bestimmungsrecht hat die Beklagte im Streitfall durch Aushändigung des Reiseprogramms ausgeübt.

22aa) Die Ausübung des Bestimmungsrechts erfolgt gemäß § 315 Abs. 2 BGB durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil.

23Es handelt sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, mit der der Leistungsinhalt konkretisiert wird. Eine solche Erklärung ist unwiderruflich (, NJW 2002, 1421, 1424; Urteil vom - VIII ZR 139/04, NJW-RR 2005, 762, 765).

24bb) Im Streitfall hat die Beklagte ihr Bestimmungsrecht nicht erst (konkludent) mit der tatsächlichen Leistungserbringung ausgeübt, sondern bereits mit der Aushändigung des Reiseprogramms bei Antritt der Busreise.

25Unter der Überschrift "Ihr persönliches Reiseprogramm" werden die Reiseleistungen und der zeitliche Ablauf der Reise im Einzelnen benannt. Der Besuch des Musicals "Cirque du Soleil Paramour" wird als Höhepunkt der Reise bezeichnet.

26Diese Mitteilung bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie vorläufigen Charakter hat und einzelne Programmpunkte und insbesondere der Reisehöhepunkt noch austauschbar sein sollten. Bei verständiger Würdigung aus Empfängersicht konnte und durfte die Mitteilung vielmehr als Festlegung des zuvor noch unbestimmten Inhalts der gebuchten "Fahrt ins Blaue" aufgefasst werden.

27Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht zu erwarten sind, kann der Senat diese Würdigung selbst vornehmen.

282. Ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht den Wegfall des Musicalbesuchs als zur Minderung berechtigenden Reisemangel bewertet.

29a) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung liegt kein Fall der rechtlichen Unmöglichkeit im Sinne von § 275 BGB vor.

30Wird bei einer Pauschalreise eine nach dem Vertrag geschuldete Leistung aus Gründen, die nicht allein in der Person des Reisenden liegen, ganz oder teilweise nicht erbracht, handelt es sich grundsätzlich um einen Reisemangel (, BGHZ 97, 255, 259 = NJW 1986, 1748, 1749; Urteil vom - VII ZR 37/86, BGHZ 100, 157, 180 f. = NJW 1987, 1931, 1937). Ob die Erbringung der Reiseleistung nach Vertragsschluss unmöglich geworden ist oder ob den Reiseveranstalter ein Verschulden trifft, ist ohne Belang. Die reiserechtliche Gewährleistung genießt insoweit Vorrang vor den Regelungen des allgemeinen Leistungsstörungsrechts (MünchKommBGB/Tonner, 9. Aufl. 2023, § 651i Rn. 29 ff.).

31b) Dass das Berufungsgericht in der durchgeführten Stadtrundfahrt keine gegenüber dem Musicalbesuch gleichartige und gleichwertige den Mangel behebende Ersatzleistung gesehen hat, lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen und wird von der Revision nicht gesondert angegriffen.

323. Entgegen der Auffassung der Revision führt § 313 BGB nicht zu einer abweichenden Beurteilung.

33Das Pauschalreiserecht enthält umfassende Regelungen über die Folgen von Störungen der erbrachten Leistung. Hierunter fallen, wie insbesondere die Regelung in § 651h Abs. 3 BGB zeigt, auch Störungen, die auf außergewöhnliche, nicht vorhersehbare Umstände zurückzuführen sind. Vor diesem Hintergrund ist die ergänzende Heranziehung der allgemeinen Regeln über Störung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage wie schon nach früher geltendem Recht (dazu , NJW 2013, 1674 Rn. 18) ausgeschlossen.

344. Ohne Erfolg rügt die Revision, das Berufungsgericht habe den Minderungsbetrag rechtsfehlerhaft ermittelt.

35a) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass gemäß § 651m Abs. 1 Satz 2 BGB der Reisepreis in dem Verhältnis herabzusetzen ist, in welchem der tatsächliche Wert der Gesamtreise zu dem Wert der mangelfreien Reise steht (, NJW 2013, 3170 Rn. 33).

36b) Die vom Berufungsgericht in Übereinstimmung mit § 651m Abs. 1 Satz 3 BGB vorgenommene Schätzung des auf den Musicalbesuch entfallenden Teils der Vergütung und der daraus abzuleitenden Minderungsquote lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

37Entgegen der Auffassung der Revision ist von Rechts wegen auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den so ermittelten Minderungsbetrag im Hinblick auf die als Ersatzleistung durchgeführte Stadtrundfahrt nicht weiter reduziert hat. Der Wert einer solchen Ersatzleistung kann zwar zu berücksichtigen sein (MünchKommBGB/Tonner, 9. Aufl. 2023, § 651m Rn. 13). Im Streitfall hat das Berufungsgericht diesem Aspekt aber ausreichend Rechnung getragen, indem es - ebenfalls rechtsfehlerfrei - festgestellt hat, dass die Stadtrundfahrt nicht mit dem geschuldeten Musicalbesuch gleichwertig ist, und die Schätzung der Minderungsquote auf dieser Grundlage vorgenommen hat.

38III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:140223UXZR18.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 20
NJW-RR 2023 S. 755 Nr. 11
DAAAJ-38562