BGH Beschluss v. - IX ZB 9/22

Wiedereinsetzung in vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde

Gesetze: § 78 Abs 1 S 1 ZPO, § 114 ZPO, § 117 Abs 2 S 1 ZPO, § 233 ZPO, § 517 ZPO, § 522 Abs 1 ZPO

Instanzenzug: Az: 4 S 210/21vorgehend Az: 5 C 2236/21

Gründe

I.

1Mit Urteil vom , dem Kläger zugestellt am , hat das Amtsgericht die Klage auf Zahlung von 800 € abgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger persönlich mit Schreiben vom , beim Landgericht eingegangen am , Berufung eingelegt und zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Mit Beschluss vom hat das Landgericht die Berufung gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen, weil der Kläger die Berufung nicht durch einen Rechtsanwalt eingelegt habe, und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil die Berufung gegen das Urteil mangels Zulässigkeit des Rechtsmittels keine Aussicht auf Erfolg habe.

2Gegen die Verwerfung der Berufung als unzulässig wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde. Der Senat hat am Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren und mit Beschluss vom Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdefrist bewilligt. Für die Begründung der Rechtsbeschwerde beantragt der Kläger nunmehr ebenfalls Wiedereinsetzung in die versäumte Frist.

II.

3Dem Kläger war gemäß § 233 Satz 1 ZPO antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen.

III.

41. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat durch seine Vorgehensweise das Grundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Dieses verbietet es den Gerichten, Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. , BGHZ 151, 221, 227; vom - VIII ZB 55/10, NJW 2011, 230 Rn. 10; vom - XII ZB 289/15, FamRZ 2016, 209 Rn. 4; vom - VI ZB 36/16, NJW-RR 2017, 895 Rn. 4; vom - VIII ZB 22/18, NJW-RR 2018, 1271 Rn. 5).

52. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, dass sie nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 1 Satz 1 ZPO entsprechend durch einen Rechtsanwalt eingelegt (und begründet) worden ist. Denn der Kläger hat innerhalb der Berufungsfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.

6a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste (vgl. nur aaO Rn. 6; vom , aaO Rn. 6; vom , aaO Rn. 7). Dies gilt auch dann, wenn neben dem Prozesskostenhilfegesuch eine unzulässige Berufung eingelegt worden ist. Da die Prozesskostenhilfe beantragende Partei wegen ihrer Hilfebedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung im Berufungsverfahren zu beauftragen, ist ihr, wenn sie nach den gegebenen Umständen nicht mit der Ablehnung ihres Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (, FamRZ 2016, 209 Rn. 6; vom , aaO Rn. 6). Das Berufungsgericht hat folglich vorab über das Prozesskostenhilfegesuch einschließlich der Frage der Beiordnung eines Rechtsanwalts zu entscheiden, um so der Partei Gelegenheit zu geben, anschließend einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen, falls sie beabsichtigt, das Berufungsverfahren - im Falle der Versagung von Prozesskostenhilfe gegebenenfalls auf eigene Kosten - durchzuführen (vgl. aaO).

7b) Vorliegend hat der Kläger seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beifügung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO sowie der Belege hierzu innerhalb der Berufungsfrist gestellt. Das Berufungsgericht hat Prozesskostenhilfe allein im Hinblick auf die fehlende Vertretung des Klägers durch einen Rechtsanwalt bei der Berufungseinlegung versagt. Es durfte allerdings das Prozesskostenhilfegesuch weder mit dieser - zirkelschlüssigen - Begründung ablehnen, noch die Berufung verwerfen, ohne zunächst seine Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch bekanntzugeben. Der Beklagte hätte dann die Möglichkeit gehabt, auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt zu beauftragen und diesen Berufung, verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag, einlegen zu lassen. Die gegenteilige Verfahrensweise des Berufungsgerichts hat dem Kläger diesen Weg von vornherein versperrt und verletzt ihn daher in seinem Verfahrensgrundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).

83. Die angefochtene Entscheidung kann demnach, soweit die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, keinen Bestand haben; sie ist insoweit aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht wird zunächst neu über das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers zu befinden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:241122BIXZB9.22.0

Fundstelle(n):
BAAAJ-35158