Relativer Revisionsgrund im Strafverfahren: Verfahrensfehlerhafte Nichtausschließung der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge; strafmildernde Wirkung eines Geständnisses im letzten Wort des Angeklagten
Gesetze: § 46 StGB, § 267 Abs 3 S 1 StPO, § 337 Abs 1 StPO, § 171b Abs 1 GVG, § 171b Abs 2 GVG, § 171b Abs 3 S 2 GVG
Instanzenzug: LG Hagen (Westfalen) Az: 41 KLs 2/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 13 Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, und in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt und von einer Maßregelanordnung abgesehen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensbeanstandung sowie die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt mit der Verfahrensrüge ungesetzlich erweiterter Öffentlichkeit (§ 171b GVG) zur Aufhebung des Strafausspruchs und mit der Sachrüge zur Aufhebung der Schuldsprüche in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
21. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 171b Abs. 3 GVG ist begründet und führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.
3a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4In der Hauptverhandlung wurde die Öffentlichkeit gemäß § 171b Abs. 1 und Abs. 2 GVG während der Vernehmung der geschädigten Kinder mit der Begründung ausgeschlossen, im Rahmen ihrer Vernehmung würden Tatsachen aus der „Intimsphäre der Zeugen und des Angeklagten“ zur Sprache kommen, durch deren öffentliche Erörterung die schutzwürdigen Interessen der Zeugen verletzt würden. Während der Schlussanträge und des letzten Wortes des Angeklagten war die Öffentlichkeit hergestellt.
5b) Diese Verfahrensweise verstieß gegen § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG. Nach dieser Vorschrift ist die Öffentlichkeit zwingend für die Schlussanträge, zu denen auch das letzte Wort des Angeklagten zählt (vgl. , NStZ-RR 2021, 84, 85; Beschluss vom ‒ 1 StR 487/16, StV 2017, 369, 370), auszuschließen, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 oder Abs. 2 GVG ganz oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat ( Rn. 4; Beschluss vom – 4 StR 605/18, BGHSt 64, 64 Rn. 8; Beschluss vom ‒ 4 StR 240/17, BGHSt 63, 23 Rn. 12; Beschluss vom – 5 StR 396/16 Rn. 5).
6c) Der Senat vermag ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem Rechtsfehler ungesetzlich erweiterter Öffentlichkeit nicht auszuschließen (§ 337 Abs. 1 StPO). Auch unter Berücksichtigung der dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden der Strafkammer, der Angeklagte habe die ihm wiederholt aufgezeigte Möglichkeit, durch ein Geständnis Strafmilderung zu erlangen, ungenutzt verstreichen lassen, erscheint es möglich, dass der zu den verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfen schweigende Angeklagte sich, wie von der Revision vorgetragen, in seinem letzten Wort geäußert hätte, wenn ihm dieses unter Ausschluss der Öffentlichkeit erteilt worden wäre, und dies die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätte.
7Zwar hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift darauf hingewiesen, dass das Tatgericht von Rechts wegen nicht gehindert wäre, einem Geständnis des Angeklagten ‒ ausnahmsweise ‒ strafmilderndes Gewicht mit der Begründung abzusprechen, es beruhe nicht auf Unrechtseinsicht und Reue, sondern auf „erdrückenden Beweisen“ oder sei rein prozesstaktisch motiviert (vgl. ‒ 4 StR 502/13, wistra 2014, 180; Urteil vom – 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195, 209; Beschluss vom – 4 StR 606/98, DAR 1999, 195, 196; siehe auch ‒ 2 StR 589/18 Rn. 15). Regelmäßig ist ein Geständnis aber als ein bestimmender Strafmilderungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzusehen (vgl. ‒ 4 StR 481/16, NStZ-RR 2017, 105, 106; Urteil vom ‒ 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195, 210). Dies gilt auch in Fällen, in denen prozesstaktische Überlegungen mitbestimmend waren (vgl. ‒ 5 StR 444/13, NStZ 2014, 169; Beschluss vom ‒ 4 StR 414/13, NStZ-RR 2014, 10; Beschluss vom ‒ 1 StR 193/07; Urteil vom ‒ 5 StR 121/96, BGHSt 42, 191, 195; siehe auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 679 f.). Die Würdigung und Bewertung des Geständnisses sowie die Bestimmung seines strafmildernden Gewichts ist dem Tatgericht vorbehalten, das bei seiner Überzeugungsbildung den Zweifelssatz zu beachten hat (vgl. ‒ 4 StR 606/98, DAR 1999, 195, 196). Es wäre rechtlich bedenklich, allein aus dem Zeitpunkt der Äußerung des sich zuvor schweigend verteidigenden Angeklagten im Rahmen des letzten Wortes auf eine rein prozesstaktische Motivation zu schließen (vgl. ‒ 3 StR 68/21, StV 2021, 477, 478). Ein Beruhenszusammenhang kann daher nicht mit der Begründung verneint werden, ein etwa abgelegtes Geständnis hätte auf die Strafzumessung keinen Einfluss genommen, weil es nicht von Schuldgefühl und Reue, sondern von auf Eigennutz beruhenden prozesstaktischen Überlegungen getragen gewesen wäre. Schließlich vermag der Senat auch jenseits der Frage, ob der Angeklagte bei Gewährung des letzten Wortes unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Geständnis abgelegt hätte, ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem Rechtsfehler nicht gänzlich auszuschließen.
82. Der Schuldspruch wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe hält einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand.
9a) Nach den insoweit getroffenen Feststellungen griff der Angeklagte jeweils von hinten mit beiden Armen um den zur Tatzeit höchstens zehnjährigen Geschädigten, der sich in der Wohnung des Angeklagten aufhielt und auf einem Stuhl sitzend in ein Computerspiel vertieft war, herum und „legte beide Hände oberhalb der Hose auf den Genitalbereich des Zeugen“.
10b) Diese Feststellungen lassen keine abschließende Bewertung zu, ob das Landgericht die Berührungen des Genitalbereichs des Kindes oberhalb der Bekleidung rechtsfehlerfrei als sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB gewertet hat.
11aa) Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. ‒ 2 StR 490/18, StV 2019, 550; Beschluss vom ‒ 3 StR 122/17, NStZ 2017, 527; Urteil vom – 3 StR 437/15, BGHSt 61, 173 Rn. 8; Urteil vom – 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; Urteil vom – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338). Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es regelmäßig einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. , BGHSt 61, 173 Rn. 8; Urteil vom – 2 StR 582/90, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 184h Rn. 5; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 184h Rn. 20; Lackner/Kühl/Heger StGB, 29. Aufl., § 184h Rn. 5; vgl. SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 184h Rn. 8; MüKo-StGB/Hörnle, 4. Aufl., § 184h Rn. 10; LK-StGB/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl., § 184g Rn. 10 mwN; Eisele in Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl., § 184h Rn. 14). Für die Bewertung einer sexuellen Handlung als erheblich in diesem Sinne sind in erster Linie Art, Intensität sowie Dauer der sexualbezogenen Handlung von Bedeutung; weitere Umstände wie der konkrete Handlungsrahmen oder das Verhältnis zwischen Täter und Opfer können Bedeutung gewinnen, wenn sie das Gewicht des Übergriffs erhöhen (vgl. Rn. 6 mwN aus der Rechtsprechung).
12Bei Tatbeständen, die ‒ wie § 176 Abs. 1 StGB ‒ dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit der sexuellen Handlung zwar geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener (vgl. , NStZ 2017, 528, 529; Beschluss vom – 1 StR 201/07, NStZ 2007, 700; Beschluss vom – 3 StR 255/83, NStZ 1983, 553; kritisch MüKo-StGB/Hörnle, 4. Aufl., § 184h Rn. 25). Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen für das geschützte Rechtsgut unbedeutende Berührungen genügen jedoch auch im Anwendungsbereich der §§ 174 ff. StGB grundsätzlich nicht (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2017, 527, 528; Urteil vom – 2 StR 574/16, NStZ-RR 2017, 277, 278; Urteil vom – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; Beschluss vom – 1 StR 476/98, NStZ 1999, 45).
13bb) Gemessen hieran stellt das Berühren des Geschlechtsteils eines Kindes über der Bekleidung nicht ohne Weiteres eine erhebliche sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Abs. 1 StGB dar (vgl. ‒ 2 StR 543/19, StV 2021, 307; Beschluss vom – 3 StR 122/17, NStZ 2017, 527; Urteil vom – 3 StR 87/17, StV 2018, 240, 241; vgl. auch Rn. 4; a.A. Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 184h Rn. 22; Laubenthal, Streng-FS 2017, S. 87, 94: „Berühren der unbekleideten oder bekleideten Geschlechtsteile […] zweifellos von einiger Erheblichkeit“). Der flüchtige Griff an die Genitalien eines Kindes über der Bekleidung ist daher ‒ anders als der feste Griff (vgl. , NStZ 2018, 156; Urteil vom ‒ 2 StR 490/91, NStZ 1992, 432), das Streicheln oder längere Betasten (vgl. ‒ 4 StR 23/92, BGHSt 38, 212, 213) oder der Griff an das unbekleidete Geschlechtsteil (vgl. , BGHSt 35, 76, 78) ‒ nicht stets als erhebliche sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB anzusehen (vgl. ‒ 2 StR 543/19, StV 2021, 307, 308 mwN; Schönke/Schröder StGB/Eisele, aaO, § 184h Rn. 15b). In Grenzfällen bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller für das gefährdete Rechtsgut wesentlichen Umstände, die insbesondere Art, Dauer und Intensität der Berührungen, die Bekleidung des Kindes und den Handlungsrahmen in den Blick nimmt (vgl. ‒ 2 StR 543/19, StV 2021, 307; Urteil vom – 1 StR 447/11).
14cc) An der erforderlichen Gesamtbetrachtung fehlt es. Das Landgericht hat das Berühren des „Genitalbereichs“ über der Bekleidung ohne nähere Begründung als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB gewertet. Feststellungen zur Dauer oder Intensität der sexuellen Handlungen sind den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen. Einen festen Griff des Angeklagten an den Penis des geschädigten Kindes hat das Landgericht ‒ trotz der im Rahmen der Beweiswürdigung wiedergegebenen Aussage des Kindes, das „Anpacken“ durch den Angeklagten nicht gemocht zu haben ‒ nicht festgestellt. An der sonach erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände fehlt es.
153. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Demgegenüber hält die Nichtanordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung rechtlicher Überprüfung stand. Sie ist von der Urteilsaufhebung nicht betroffen und erwächst daher in Teilrechtskraft (vgl. ‒ 4 StR 443/16, NStZ-RR 2017, 187).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:240522B4STR72.22.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-33387