BGH Beschluss v. - XIII ZB 64/20

Beschwerde in einer Abschiebehaftsache wegen Verlängerung der Sicherungshaft: Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung; Auswirkung eines weiteren Asylverfahrens auf die Ausreisepflicht des Betroffenen; zwingende erneute persönliche Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht

Gesetze: § 55 Abs 1 AsylVfG, § 71 Abs 5 AsylVfG, § 71 Abs 8 AsylVfG, Art 6 Abs 1 MRK, § 58 FamFG, §§ 58ff FamFG, § 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 420 FamFG

Instanzenzug: LG Paderborn Az: 5 T 195/20vorgehend AG Paderborn Az: 11 XIV (B) 117/20

Gründe

1I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste 2002 unerlaubt in das Bundesgebiet ein. Seinen unter Angabe falscher Personalien gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit - zwischenzeitlich - bestandskräftigem Bescheid vom als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung auf, das Bundesgebiet zu verlassen. Mit Bescheid vom erließ die Ausländerbehörde Potsdam gegen den Betroffenen eine Ausweisungsverfügung. Dagegen erhob der Betroffene, nachdem er am festgenommen worden war und anschließend eine Haftstrafe verbüßte, am Klage. Einen weiteren Asylantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom wiederum als offensichtlich unbegründet ab, wobei ihm abermals die Abschiebung angedroht wurde, falls er das Bundesgebiet nicht innerhalb von 30 Tagen verlassen haben sollte. Dagegen legte der Betroffene Klage zum Verwaltungsgericht Berlin ein, das seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom zurückwies. Mit Beschluss vom stellte das Verwaltungsgericht Berlin unter Abänderung seines Beschlusses vom fest, dass die Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom aufschiebende Wirkung hat.

2Nachdem das Amtsgericht zuvor Abschiebungshaft bis zum angeordnet hatte und eine für den geplante Abschiebung an der fehlenden Genehmigung der russischen Behörden gescheitert war, hat es mit Beschluss vom auf Antrag der beteiligten Behörde die Haft bis zum verlängert.

3Ebenfalls am hat die beteiligte Behörde in Ergänzung ihres Bescheids vom dem Betroffenen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Mit Bescheid vom hat auch das Bundesamt unter Neufassung von Ziff. 5 des Bescheids vom eine weitere Abschiebungsandrohung erlassen und eine Frist zur freiwilligen Ausreise von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung mit der Maßgabe gesetzt, dass die Vollziehung ausgesetzt wird bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und - bei fristgerechter Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage - bis zur Bekanntgabe einer ablehnenden Entscheidung über den Eilantrag.

4Mit Beschluss vom hat das Landgericht die gegen die Haftanordnung des gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf des Haftzeitraums die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.

5II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

61. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Verlängerung der Haft sei rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Bescheid des Bundesamts vom enthalte nunmehr eine vollziehbare Abschiebungsandrohung. Gegen diese Androhung habe der Betroffene nach Kenntnis des Gerichts auch kein Rechtsmittel eingelegt. Die Klagefrist sei mittlerweile abgelaufen. Überdies habe die beteiligte Behörde bereits am eine für sofort vollziehbar erklärte Abschiebungsandrohung ohne Gewährung einer Ausreisefrist erlassen. Es sei nicht erforderlich, dass die Haftandrohung vor der Haftentscheidung vorliege. Es genüge vielmehr, wenn deren Erlass während der Haftzeit zu erwarten sei.

72. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlte bereits an einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen.

8a) Eine solche ergab sich nicht aus dem Bescheid des Bundesamts vom , weil die Abschiebungsandrohung, wie das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom festgestellt hat, nicht sofort vollziehbar war.

9b) Auch die Abschiebungsandrohung im Bescheid der beteiligten Behörde vom bot keine Grundlage für die Annahme, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Zwar hat sie ihm darin die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Dieser Bescheid ergänzte aber lediglich die frühere Verfügung vom , enthielt jedoch keine selbständige Ausweisungsentscheidung. Die Ausweisungsentscheidung aus dem Jahr 2015 konnte die Ausreisepflicht des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftentscheidung nicht mehr begründen, weil das Bundesamt auf Antrag des Betroffenen ein weiteres Asylverfahren durchgeführt hatte und diesem daher der Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 55 Abs. 1 AsylG gestattet war (vgl. , juris Rn. 20).

10c) Das Beschwerdegericht konnte sich schließlich nicht auf den Änderungsbescheid des Bundesamts vom und die darin enthaltene Abschiebungsandrohung stützen.

11aa) Für den vor Bekanntgabe des Bescheids vom angeordneten Haftzeitraum konnte dieser Bescheid schon keine tragfähige Grundlage bilden, weil die Abschiebungsandrohung, die nach § 59 Abs. 1 AufenthG eine unabdingbare Vollstreckungsvoraussetzung bildet, nicht wie erforderlich (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 60/17, InfAuslR 2020, 28 Rn. 9; vom - XIII ZB 97/19, NVwZ-RR 2022, 115 Rn. 11) im Zeitpunkt der Verlängerung der Sicherungshaft vorlag.

12bb) Aber auch für den darüber hinaus gehenden Zeitraum konnte sich das Beschwerdegericht auf den Bescheid des Bundesamts vom nicht stützen, ohne den Betroffenen zuvor dazu anzuhören.

13Das Beschwerdegericht kann von der nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG an sich vorgeschriebenen und vom Gesetzgeber wegen der Bedeutung des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht für nicht begründungsbedürftig gehaltenen (erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen (vgl. § 420 FamFG) nach Satz 2 der genannten Vorschrift - auch bei der gebotenen Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - absehen, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (näher , juris Rn. 24). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht im Ermessen des Beschwerdegerichts (, InfAuslR 2016, 54 Rn. 4). Die erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist aber zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung erwarten lässt, sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen der Betroffene noch nicht gehört worden ist (, juris Rn. 24, mwN). Eine solche neue Tatsache ist ebenso wie das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, 8 AsylG, § 51 Abs. 5 VwVfG (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 274/11, InfAuslR 2013, 77 Rn. 11; vom - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24) auch die erstmalige Androhung der Abschiebung. Damit hat sich die Grundlage für die Haftanordnung nicht nur geändert. Mit der Abschiebungsandrohung vom sind vielmehr erstmals die Voraussetzungen für die Haftanordnung geschaffen worden.

143. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da die hier nach § 68 Abs. 3, § 420 Abs. 1 FamFG erforderliche Anhörung wegen der Ausreise des Betroffenen nicht mehr möglich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 39/15, juris Rn. 10; vom - XIII ZB 101/19, juris Rn. 31; vom - XIII ZB 80/19, juris Rn. 16).

154. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:251022BXIIIZB64.20.0

Fundstelle(n):
CAAAJ-30052