BGH Urteil v. - X ZR 97/21

(Notwendigkeit eines Vortrags eines Luftfahrtunternehmens zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung)

Leitsatz

1. Zu den zumutbaren Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO gehört es, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar (Bestätigung von , NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 41; im Anschluss an , NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 61 - LE/TAP).

2. Vortrag des in Anspruch genommenen Luftfahrtunternehmens zu solchen anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten ist nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind.

Gesetze: Art 5 Abs 3 EGV 261/2004

Instanzenzug: LG Landshut Az: 14 S 1361/21vorgehend AG Erding Az: 13 C 7595/19

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

2Der Kläger buchte bei der Beklagten für sich, seine Ehefrau und seine beiden Töchter einen Flug von Santa Clara (Cuba) nach München am .

3Wegen der Zerstörung des Flughafens in Santa Clara durch ein Unwetter wurden die Fluggäste auf einen Ersatzflug umgebucht, der von Varadero (Cuba) aus startete.

4Auf dem Ersatzflug kam es zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung in Miami (USA) wegen eines medizinischen Notfalls eines anderen Passagiers. Wegen des hohen Gewichts bei dieser Landung wurde das Flugzeug einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Ein sofortiger Weiterflug nach Abschluss dieser Prüfung hätte dazu geführt, dass die vorgeschriebenen Ruhezeiten der Besatzung nicht hätten eingehalten werden können. Der Flug startete daher erst nach Einhaltung der Ruhezeit und erreichte München mit mehr als zwanzig Stunden Verspätung.

5Der Kläger hat zuletzt eine Ausgleichszahlung in Höhe von 2.400 Euro begehrt. Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt.

6Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

7Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

8I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei als ausführendes Luftfahrtunternehmen trotz der am Endziel eingetretenen Verspätung von mehr als drei Stunden nicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung verpflichtet. Eine schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Erkrankung eines Fluggasts stelle einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO dar. Die Beklagte habe ausreichend dargelegt, dass sie eine große Ankunftsverspätung auch unter Einsatz aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätte verhindern können. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts sei die Klage nicht schon deshalb begründet, weil die Beklagte nicht zur Möglichkeit einer Ersatzbeförderung vorgetragen habe. Vom ausführenden Luftfahrtunternehmen könne nicht verlangt werden, jeden einzelnen Fluggast auf eine schnellstmögliche Verbindung umzubuchen, um sich von der Pflicht zur Ausgleichszahlung zu befreien.

9II. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

101. Zutreffend und von der Revision unbeanstandet ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sowohl die Zerstörung des Flughafens in Santa Clara als auch die Zwischenlandung aufgrund eines medizinischen Notfalls außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO darstellen.

112. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Beklagte gehalten, zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung vorzutragen.

12a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss das Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen (, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 41 - Wallentin-Hermann/Alitalia; Urteil vom - C-315/15, NJW 2017, 2665 = RRa 2017, 174 Rn. 34 - Pešková/Travel Service; , BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 Rn. 11; Urteil vom - X ZR 102/13, NJW-RR 2015, 111 = RRa 2015, 19 Rn. 9).

13Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen in diesem Zusammenhang zumutbar sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es kommt zum einen darauf an, welche Vorkehrungen ein Luftfahrtunternehmen nach guter fachlicher Praxis treffen muss, damit nicht bereits bei gewöhnlichem Ablauf des Luftverkehrs geringfügige Beeinträchtigungen das Luftfahrtunternehmen außerstande setzen, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und den Flugplan im Wesentlichen einzuhalten. Zum anderen muss das Luftfahrtunternehmen, wenn eine mehr als geringfügige Beeinträchtigung tatsächlich eintritt oder erkennbar einzutreten droht, alle ihm in dieser Situation zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um nach Möglichkeit zu verhindern, dass hieraus eine Annullierung oder große Verspätung resultiert (EuGH, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 40, 42 - Wallentin-Hermann/Alitalia; , NJW 2011, 2865 = RRa 2011, 125 Rn. 30 - Eglītis und Ratnieks/Air Baltic).

14b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts gehört es zu den danach gebotenen Maßnahmen, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar (, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 61 - LE/TAP).

15Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht diese Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat (, NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 41), in Einklang mit der Systematik der Fluggastrechteverordnung.

16Nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO hat das ausführende Luftfahrtunternehmen grundsätzlich alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Art nach geeignet sind, eine Annullierung oder große Verspätung zu vermeiden. Zu diesen Maßnahmen kann auch eine anderweitige Beförderung gehören.

17Dass ein Fluggast eine anderweitige Beförderung schon nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. b FluggastrechteVO verlangen kann, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Eine zur Verfügung stehende Maßnahme ist nicht allein deshalb unzumutbar, weil sie ohnehin geschuldet ist.

18c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war Vortrag der Beklagten zu anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind.

19Wie bereits oben dargelegt wurde, hängt die Beurteilung der Frage, welche Maßnahmen zumutbar sind, von den Umständen des Einzelfalls ab. Ausschlaggebend ist dabei stets, welche Maßnahmen in der konkreten Situation zumutbar sind. In diesem Zusammenhang mag der Umstand, dass das Luftfahrtunternehmen bereits Maßnahmen getroffen hat, um einer zuvor aufgetretenen Störung Rechnung zu tragen, im Einzelfall dazu führen, dass weitere Maßnahmen in Reaktion auf zusätzlich aufgetretene Störungen als nicht mehr tragbares Opfer anzusehen wären. Dies enthebt das Luftfahrtunternehmen aber nicht der Pflicht, sich ungeachtet einer bereits eingetretenen Störung auch bei jeder weiteren Störung um zumutbare Maßnahmen zu bemühen.

20Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte im Streitfall gehalten, näher vorzutragen, welche Maßnahmen in Betracht kamen, um eine Annullierung oder große Verspätung des Ersatzflugs zu vermeiden. Nur auf der Grundlage solchen Vorbringens ist es möglich zu beurteilen, ob in Betracht kommende Maßnahmen noch zumutbar waren.

21III. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif.

221. Wie die Revisionserwiderung zu Recht geltend macht, hat die Beklagte der ihr obliegenden Darlegungslast im Streitfall durch den in ihrer Berufungsbegründung enthaltenen Vortrag genügt, eine Beförderung auf einem anderen Flug sei nicht in Betracht gekommen, weil der Kläger und dessen Familie nicht über die hierzu erforderliche Erlaubnis zur Einreise in die USA verfügt hätten.

232. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist dieser Vortrag in einem entscheidenden Punkt bestritten.

24Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht zwar bestätigt, dass die meisten Passagiere keine Einreisegenehmigung in die USA (ESTA) hatten und ein Passieren der Kontrolle daher nicht möglich war. In der Berufungserwiderung hat er aber geltend gemacht, anderen Fluggästen sei es möglich gewesen, mit einer anderen Flugverbindung München früher zu erreichen. Dieser Vortrag lässt, wie die Revision zu Recht geltend macht, erkennen, dass der Kläger die Notwendigkeit einer Einreisegenehmigung für das Umsteigen auf einen anderen Flug bestreitet.

25Das Berufungsgericht wird den Sachverhalt nach der Zurückverweisung diesbezüglich aufzuklären haben.

26IV. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

27Der Streitfall wirft keine neuen Fragen zur Auslegung der Fluggastrechteverordnung auf. Er erfordert lediglich eine Subsumtion der maßgeblichen Sachverhaltselemente des zu entscheidenden Einzelfalls unter die oben dargestellten, in der Rechtsprechung bereits geklärten Grundsätze.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:101122UXZR97.21.0

Fundstelle(n):
NJW-RR 2023 S. 202 Nr. 3
KAAAJ-29722