BAG Urteil v. - 4 AZR 454/21

Sanierungstarifvertrag - Auslegung - Redaktionsversehen

Gesetze: § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Aachen Az: 3 Ca 2491/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 3 Sa 12/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über einen Entgeltanspruch und in diesem Zusammenhang über die Geltung einer tariflichen Anspruchsgrundlage.

2Die Klägerin - Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) - ist seit dem bei der Beklagten zu 1. in deren Betrieb in Waldfeucht-Haaren beschäftigt.

3Die Beklagte zu 1. produziert und vertreibt Speiseeiserzeugnisse. Sie schloss am - noch unter Rosen-Eiskrem GmbH firmierend - mit der NGG einen Haustarifvertrag (HTV). Nach dessen § 2 sind die jeweiligen Tarifverträge über Entgelte und der Entgelt-Bundesrahmentarifvertrag für die Arbeitnehmer der Süßwarenindustrie, geschlossen zwischen dem Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie e.V. und der NGG, „Bestandteil dieses Tarifvertrages“. § 4 HTV bestimmt, dass ab dem die Arbeitszeit der Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag über 40 Wochenarbeitsstunden auf 39 Stunden reduziert wird (Ziff. 1) und ab dem die Wochenarbeitszeit für alle Arbeitnehmer 38 Stunden beträgt (Ziff. 2). Nach § 4 Ziff. 3 HTV wirken sich diese Arbeitszeitveränderungen nicht auf das Entgelt aus.

4Am selben Tag wurde ua. zwischen der Beklagten zu 1. und der zu 2. beklagten DMK Deutsches Milchkontor GmbH, der damaligen alleinigen Gesellschafterin der Beklagten zu 1., einerseits sowie der NGG andererseits der „Tarifvertrag zur Zukunftssicherung DMK Eis vom “ (Zukunfts-TV) geschlossen. Dieser enthält ua. folgende Regelungen:

5In den Jahren 2018 und 2019 gab die Beklagte zu 1. die Tarifentgelterhöhungen - entsprechend § 3 (1) Abs. 1 Zukunfts-TV - iHv. 2,5 % ab dem und von 3 % ab dem nicht an die Klägerin weiter. Deren wöchentliche Arbeitszeit betrug 40 Stunden im Jahr 2018 und 39 Stunden im Jahr 2019 (§ 3 (4) Abs. 1 Zukunfts-TV).

6Im Januar 2020 schloss die Beklagte zu 2. mit der Bon Gelati GmbH & Co. KG einen Vertrag über die Veräußerung ihrer Gesellschaftsanteile an der Beklagten zu 1. Die Übertragung erfolgte am .

7Mit ihrer den Beklagten im August 2020 zugestellten Klage hat die Klägerin die Rückabwicklung der nach § 3 Zukunfts-TV vorgenommenen Kürzungen verlangt und die Auffassung vertreten, § 7 (1) Zukunfts-TV sehe diese bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung am vor. § 8 Zukunfts-TV stehe dem nicht entgegen. § 7 Zukunfts-TV lege seinen zeitlichen Anwendungsbereich eigenständig fest. Die Aufnahme dieser Bestimmung in den Klammerzusatz von § 8 Satz 1 Zukunfts-TV sei aufgrund eines Redaktionsversehens unterblieben.

8Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

9Die Beklagten haben Klagabweisung beantragt. Sie haben die Ansicht vertreten, § 7 Zukunfts-TV habe nur bis zum gegolten und anschließend keine Nachwirkung entfaltet. Das folge aus § 8 Zukunfts-TV, der den zeitlichen Geltungsbereich der tariflichen Bestimmungen abschließend regele. Für ein Redaktionsversehen gebe es keine Anhaltspunkte. Rückabwicklungsregelungen in Sanierungstarifverträgen müssten grundsätzlich äußerst restriktiv ausgelegt werden, da sie die Chancen einer Betriebsfortführung vermindern und Arbeitsplätze gefährden könnten.

10Das Arbeitsgericht hat die erstinstanzlich noch auf Zahlung von 2.451,10 Euro brutto sowie 109,60 Euro netto nebst Zinsen seit dem gerichtete Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren mit der Maßgabe weiter, dass Zinsen erst ab dem verlangt werden.

Gründe

11Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage - soweit sie Gegenstand der Revision ist - zu Unrecht abgewiesen. Die zulässige Klage ist begründet.

12I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Zahlungsantrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Nach dem Vorbringen der Klägerin ist die Klage auf Zahlung aller Entgeltdifferenzbeträge aus den Jahren 2018 und 2019 auf Grundlage des § 7 (1) Zukunfts-TV gerichtet und dementsprechend als abschließende Gesamtklage zu verstehen (dazu  - Rn. 20 mwN, BAGE 171, 161). Den Darlegungen ist zu entnehmen, aus welchen konkreten Einzelforderungen sich die Gesamtklage zusammensetzt (hierzu  - Rn. 11). Bedenken gegen die Bestimmtheit der Klage ergeben sich nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin teilweise eine Nettozahlung begehrt (vgl.  - Rn. 11 mwN).

13II. Die Klage ist gegenüber beiden Beklagten begründet.

141. Die Beklagte zu 1. hat an die Klägerin für die Jahre 2018 und 2019 rückständiges Entgelt in Höhe von 2.243,20 Euro brutto sowie 109,60 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten seit dem zu zahlen.

15a) Für das zwischen der Beklagten zu 1. und der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis gelten aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der HTV sowie der Zukunfts-TV.

16b) Die Klägerin kann nach § 7 (1) Zukunfts-TV iVm. dem HTV von der Beklagten zu 1. die Zahlung der Entgeltdifferenzen, die sich aus der unterbliebenen Weitergabe der in den Entgelttarifverträgen für die Süßwarenindustrie in Nordrhein-Westfalen vom und vom vereinbarten Entgelterhöhungen zum und ergeben, und des Entgelts für die über die Arbeitszeit nach dem Haustarifvertrag hinaus erbrachten Arbeitsstunden verlangen.

17aa) Zwar wurde der HTV durch den Zukunfts-TV dahin geändert, dass am Standort Waldfeucht-Haaren die tarifvertraglichen Entgelterhöhungen für die Jahre 2018 und 2019 ausgesetzt werden (§ 3 (1) Abs. 1 Zukunfts-TV) und die wöchentliche Arbeitszeit in dieser Zeit eine Stunde mehr beträgt als im Haustarifvertrag vereinbart (§ 3 (4) Abs. 1 Zukunfts-TV).

18bb) Diese Änderungen sind jedoch infolge des Verkaufs der Geschäftsanteile an der Beklagten zu 1. aufgrund der in § 7 (1) Zukunfts-TV geregelten auflösenden Bedingung rückwirkend entfallen.

19(1) Die Tarifvertragsparteien konnten die unter § 3 Zukunfts-TV vereinbarten Bestimmungen von dem weiteren Bestand tatsächlicher Umstände abhängig machen und mit einer auflösenden Bedingung (§ 7 (1) Satz 1 Zukunfts-TV) verknüpfen (vgl.  - Rn. 22). Das war vorliegend die Veräußerung aller Gesellschaftsanteile der Beklagten zu 1. durch die Alleingesellschafterin, die Beklagte zu 2. Der Eintritt dieser Bedingung ist hinreichend bestimmt und kann durch die Tarifgebundenen ohne Weiteres festgestellt werden (zu diesem Erfordernis  - Rn. 29).

20(2) In der Folge sind die Regelungen des HTV seit dem in der ursprünglichen Fassung anzuwenden. Der in § 7 (1) Zukunfts-TV geregelte Anspruch auf „Rückabwicklung“ ist nicht mit Ablauf des außer Kraft getreten, sondern hat im Zeitpunkt der Übertragung der Geschäftsanteile der Beklagten zu 1. am noch unmittelbar und zwingend für das Arbeitsverhältnis der Klägerin gegolten.

21(3) § 8 Satz 1 Zukunfts-TV steht dem - anders als es die Beklagten und das Landesarbeitsgericht annehmen - nicht entgegen. Soweit in dessen Klammerzusatz § 7 Zukunfts-TV nicht genannt ist, beruht dies auf einem Redaktionsversehen. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags (zu den Grundsätzen  - Rn. 35 mwN, BAGE 164, 326).

22(a) Bei der Auslegung von Tarifverträgen besteht eine Bindung an den möglichen Wortsinn dann nicht, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Tarifnormen das Vorliegen eines Redaktionsversehens ergibt. Von einem solchen geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus, wenn die Tarifvertragsparteien lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten (st. Rspr., zu den Anforderungen  - Rn. 36; - 9 AZR 564/17 - Rn. 32; - 4 AZR 831/16 - Rn. 31; - 4 AZR 615/95 - zu II 4 der Gründe, BAGE 82, 1; - 4 AZR 114/90 - BAGE 66, 177).

23(b) Die Geltungsdauer der „Rückabwicklung“ ist nach dem Wortlaut der §§ 6 bis 8 Zukunfts-TV unklar.

24(aa) Nach seinem § 8 Satz 1 gilt der Zukunfts-TV mit Ausnahme von § 3 (3) und § 6 bis zum . Eine Nachwirkung ist nach dessen Satz 2 - mit Ausnahme der dort genannten Bestimmungen - ausgeschlossen. Da § 8 Zukunfts-TV keine Ausnahmen für § 7 Zukunfts-TV vorsieht, wäre danach dessen Geltung nach dem ausgeschlossen.

25(bb) Zu dieser Regelung steht der Wortlaut von § 7 (1) Zukunfts-TV im Widerspruch. Danach findet eine Rückabwicklung der in § 3 Zukunfts-TV vereinbarten Veränderungen im Fall eines Verkaufs oder eines Insolvenzantrags „bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung“ statt. Die Formulierung greift die Beschäftigungssicherung nach § 6 Zukunfts-TV auf. Diese endet nach dessen Abs. 1 erst nach Ablauf von vier Jahren am , wenn - wie vorliegend - noch im Jahr 2019 Einsparmaßnahmen nach § 3 Zukunfts-TV erfolgt sind (§ 6 Abs. 2 Satz 2 Zukunfts-TV). Nach § 7 (1) und (2) Zukunfts-TV hat daher auch bei einem Verkauf oder einer Insolvenz in der Zeit vom bis zum eine „Rückabwicklung“ zu erfolgen.

26(c) § 8 Zukunfts-TV rechtfertigt nach dem tariflichen Gesamtzusammenhang entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht die Annahme, diese Vorschrift solle den zeitlichen Geltungsbereich des gesamten Tarifvertrags mit Anwendungsvorrang regeln.

27(aa) Im Ausgangspunkt kann zwar noch davon ausgegangen werden, dass in der Praxis Regelungen zum zeitlichen Geltungsbereich in aller Regel am Ende eines Tarifvertrags in den Schlussbestimmungen zu finden sind (vgl.  - Rn. 24, BAGE 124, 110).

28(bb) Vorliegend enthalten aber bereits die einzelnen Inhaltsnormen des Zukunfts-TV jeweils Regelungen zu ihrer zeitlichen Anwendbarkeit. Dies spricht dafür, § 8 Satz 1 Zukunfts-TV solle den zeitlichen Anwendungsbereich der übrigen Tarifnormen lediglich zusammenfassend wiedergeben.

29In § 3 (1) Abs. 1 Zukunfts-TV ist bestimmt, dass die tarifvertraglichen Erhöhungen für die Jahre 2018 und 2019 ausgesetzt werden. § 3 (2) Abs. 1 Zukunfts-TV sieht eine Reduzierung des Urlaubsanspruchs für die Jahre 2018 und 2019 vor. Entsprechendes gilt für die „Verschiebung der tariflichen Arbeitszeitveränderungen“ (§ 3 (4) Abs. 1 Zukunfts-TV) und die Reduzierung von Weihnachts- und Urlaubsgeld (§ 3 (5) Abs. 1 und § 3 (6) Abs. 1 Satz 1 Zukunfts-TV). Nach § 3 (3) Abs. 1 Zukunfts-TV entfällt der Anspruch auf den Mehrarbeitszuschlag in der Zeit vom bis . Den Regelungen ist zudem gemeinsam, dass ab dem Ende der genannten Zeiträume die Geltung der vormaligen Tarifregelungen vorgesehen ist. § 4 Abs. 1 Zukunfts-TV sieht die Zahlung einer Erholungsbeihilfe in den Jahren 2018 und 2019 vor. Die Beschäftigungssicherung endet nach § 6 Zukunfts-TV am , sofern im Jahr 2019 noch Einsparmaßnahmen nach § 3 erfolgen; andernfalls endet sie am .

30(cc) Von diesen Bestimmungen weicht § 8 Satz 1 Zukunfts-TV nicht ab. Die Regelung gibt den zeitlichen Anwendungsbereich der übrigen Tarifnormen zusammenfassend wieder. Mit der Herausnahme von § 3 (3) und § 6 Zukunfts-TV im Klammerzusatz von Satz 1 haben die Tarifvertragsparteien den Laufzeitbestimmungen von § 3 (3) und § 6 Zukunfts-TV ( und ) Rechnung getragen.

31Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts kann dem Klammerzusatz nicht ohne weitere Anhaltspunkte entnommen werden, die Tarifvertragsparteien wollten nur diese Normen, nicht aber § 7 Zukunfts-TV von der Befristung auf den ausnehmen. Das wäre nur dann der Fall, wenn sie in § 8 Satz 1 Zukunfts-TV nicht nur den zeitlichen Geltungsbereich, wie er sich nach den §§ 2 bis 7 Zukunfts-TV gestaltet, wiedergeben, sondern die ausdrückliche Anknüpfung der Rückabwicklungsmöglichkeit an die jeweilige Geltungsdauer der Beschäftigungssicherung, die § 7 Zukunfts-TV festlegt, durch Satz 1 der Schlussbestimmungen aufheben wollten. Für eine solche - singuläre - materielle Änderung des vorstehenden Tarifinhalts, bei der die Tarifvertragsparteien zudem vergessen hätten, die Worte „bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung“ zu streichen, fehlt es in den Schlussbestimmungen an ausreichenden Anhaltspunkten. Vielmehr spricht die von den übrigen Tarifbestimmungen abweichende Regelung des Geltungszeitraums von § 7 Zukunfts-TV - die an diejenige des § 6 Zukunfts-TV anknüpft - dafür, dass die Tarifvertragsparteien einen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklungsmöglichkeit beabsichtigt haben.

32(dd) Es kommt hinzu, dass - anders als die Beklagten es meinen - § 8 Zukunfts-TV auch unter Berücksichtigung seiner weiteren Regelungen kein „differenziertes System zur Geltung und Nachwirkung“ vorsieht.

33§ 8 Satz 2 Zukunfts-TV - „es bedarf keiner Kündigung“ - kommt bereits aufgrund der ausdrücklichen Befristung innerhalb der jeweiligen tariflichen Inhaltsnormen nur deklaratorische Bedeutung zu. Weiterhin wäre die Regelung in § 8 Satz 3 Zukunfts-TV über den Ausschluss einer Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG nicht erforderlich. Der Zukunfts-TV ordnet bereits in § 2 Abs. 1 für die dort in Abs. 2 bis Abs. 5 genannten Tarifverträge nur für die Dauer seiner (jeweiligen) Laufzeit deren „Änderung“ an. Zudem wird in den einzelnen Paragrafen des Zukunfts-TV die Geltung der regulären tariflichen Vorschriften im Anschluss an das Auslaufen der jeweiligen Bestimmungen des Zukunfts-TV angeordnet (Rn. 28 f.). Darüber hinaus enthält § 8 Satz 3 Zukunfts-TV offensichtliche Verweisungsfehler und damit - weitere - Redaktionsversehen. So muss es in § 8 Satz 3 Zukunfts-TV statt „§ 3 (4) zweiter Absatz“ richtig „§ 3 (4) dritter Absatz“ und statt „§ 3 (6) letzter Satz“ richtig „§ 3 (6) erster Absatz letzter Satz“ heißen. Schließlich ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen eine Ausnahme von der ausgeschlossenen Nachwirkung in § 8 Satz 3 Zukunfts-TV für die vorstehend genannten Bestimmungen sowie für § 3 (1) Abs. 2, (2) Abs. 2 und (3) Abs. 2 vorgesehen ist. Die betreffenden Regelungen geben lediglich - ggf. klarstellend - den Rechtszustand wieder, der aufgrund der jeweiligen befristeten Inhaltsnormen und nach § 2 Zukunfts-TV - sowieso - eintreten würde.

34(d) Für einen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklungsmöglichkeit und damit ein Redaktionsversehen in § 8 Satz 1 Zukunfts-TV sprechen entscheidend Sinn und Zweck der tariflichen Regelungen in § 6 und § 7 Zukunfts-TV.

35(aa) Die Dauer der Beschäftigungssicherung richtet sich nach dem Zeitraum für die Sanierungsbeiträge (Einsparmaßnahmen). Erfolgen solche in den Jahren 2018 und 2019, sind betriebsbedingte Kündigungen in den Jahren 2018 bis 2021 ausgeschlossen; sind die Maßnahmen auf das Jahr 2018 beschränkt, wird die Beschäftigungssicherung von vier auf zwei Jahre verkürzt. Die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer und die von den Arbeitgebern zu gewährende Beschäftigungssicherung stehen erkennbar in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Dabei dauert die Beschäftigungssicherung doppelt so lange wie die Einsparmaßnahmen. In diesem Zusammenhang treten die Arbeitnehmer mit ihren Sanierungsbeiträgen in den Jahren 2018 und 2019 für eine Beschäftigungssicherung bis zum „in Vorleistung“.

36Bei einem Verkauf oder einer Insolvenz des Arbeitgebers werden die Sanierungsbeiträge „rückabgewickelt“ (§ 7 (1) Satz 1, (2) Zukunfts-TV); im Gegenzug entfällt die Beschäftigungssicherung (§ 7 (1) Satz 5, (2) Zukunfts-TV). Damit soll verhindert werden, dass sich die zugesagte Beschäftigungssicherung als Gegenleistung für bereits erbrachte Sanierungsbeiträge als „wertlos“ erweisen könnte, etwa weil ein Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach § 113 InsO kündigen oder es nach einem Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zu einer Weiterbeschäftigung zu (schlechteren) Bedingungen eines anderen Tarifvertrags kommen kann. Eine solche Störung des Gegenseitigkeitsverhältnisses von Sanierungsbeiträgen und Beschäftigungssicherung kann bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung eintreten. Sinn und Zweck der Regelung gebieten einen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklung. Dieser würde aufgelöst, wenn man abweichend von der Regelung in § 7 (1) und (2) Zukunfts-TV - „bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung“ - davon ausginge, durch § 8 Satz 1 Zukunfts-TV werde das Verhältnis von Sanierungsbeiträgen und Beschäftigungssicherung trotz der anderslautenden Regelung in § 7 (1) Zukunfts-TV abgeändert.

37(bb) Die Beklagten machen ohne Erfolg geltend, Bestimmungen über die Rückabwicklung tariflicher Sanierungsbestimmungen seien grundsätzlich restriktiv auszulegen. Ein solcher Auslegungsgrundsatz besteht nicht. Die allgemeinen Grundsätze zur Tarifvertragsauslegung gelten in vollem Umfang auch für die Auslegung von Sanierungstarifverträgen. Gründe für die Anwendung anderer Maßstäbe sind nicht ersichtlich (vgl. zu Anerkennungstarifverträgen  - Rn. 20). Diese ergeben - wie dargelegt -, dass die Tarifvertragsparteien einen zeitlichen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklung beabsichtigt haben.

38c) Die Höhe des Anspruchs ist zwischen den Parteien nicht im Streit. Die geltend gemachten Differenzen für Nachtarbeitszuschläge, Sonntagszuschläge und Feiertagszuschläge können als „Nettobetrag“ zugesprochen werden.

39aa) Die Gerichte für Arbeitssachen können nicht mit Bindung für die Finanzämter und Steuerbehörden sowie gegenüber den Einzugsstellen (§ 28h SGB IV) festlegen, ob ein Betrag abgabenpflichtig ist oder nicht. Deshalb kann in eine Entscheidungsformel das Wort „netto“ ua. nur dann aufgenommen werden, wenn sichergestellt ist, dass die begehrten Zuschläge steuer- und sozialversicherungsfrei nach § 3b Abs. 1 Nr. 3 EStG bzw. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) sind (vgl.  - Rn. 35, 37; - 6 AZR 129/15 - Rn. 41).

40bb) Danach sind die geltend gemachten Differenzen für Nachtarbeitszuschläge, Sonntagszuschläge und Feiertagszuschläge mit dem Zusatz „netto“ zuzusprechen. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klägerin übersteigen die neben dem Grundlohn gezahlten Zuschläge nicht die in § 3b Abs. 1 Nr. 1 bis 4 EStG genannten Prozentsätze.

41d) Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 Satz 1 und Satz 2, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.

422. Die Beklagte zu 2. ist neben der Beklagten zu 1. als Gesamtschuldnerin nach § 7 (3) Zukunfts-TV verpflichtet, das rückständige Entgelt für die Jahre 2018 und 2019 zu zahlen.

43a) Die Beklagte zu 2. ist gegenüber der bei der Beklagten zu 1. beschäftigten Klägerin allerdings nicht unmittelbar und zwingend (§ 4 Abs. 1 TVG) an § 7 (3) Zukunfts-TV gebunden. Sie wird hinsichtlich der Inhaltsnormen bereits nach § 1 Zukunfts-TV nicht von deren Geltungsbereich erfasst. Im Übrigen ist sie als vormals herrschendes Unternehmen auch nicht Arbeitgeberin der bei der Beklagten zu 1. beschäftigten Arbeitnehmer und damit nicht Adressatin der das Arbeitsverhältnis betreffenden Inhaltsnormen (vgl. Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 2 Rn. 481; Konzen RdA 1984, 65, 78).

44b) Die Beklagte zu 2. hat jedoch nach § 7 (3) Zukunfts-TV im Wege eines mit der Beklagten zu 1. vereinbarten antizipierten vertraglichen Schuldbeitritts etwaige zukünftige Verpflichtungen der Beklagten zu 1. aus § 7 (1) Zukunfts-TV übernommen (vgl. etwa MüKoBGB/Heinemeyer 9. Aufl. Vor § 414 Rn. 12 mwN; zum Schuldbeitritt sh. auch Wiedemann/Oetker TVG 8. Aufl. § 2 Rn. 203). Aus diesem berechtigenden Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 Abs. 1 BGB, vgl. etwa  - zu 2 d der Gründe, BGHZ 72, 246) kann die Klägerin die Beklagte zu 2. auf dasselbe Leistungsinteresse - einschließlich der Zinsen (Rn. 41) - im Wege einer Gesamtschuld iSd. § 421 BGB in Anspruch nehmen.

45c) Diese Vereinbarung ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht mit dem außer Kraft getreten. Durch den vertraglichen Schuldbeitritt bestimmt sich der Inhalt der schuldrechtlichen Verpflichtung der Beklagten zu 2. nach der Verpflichtung der Beklagten zu 1. aus § 7 (1) Zukunfts-TV. Auch der Wortlaut von § 7 (3) Zukunfts-TV unterscheidet nicht zwischen Verpflichtungen für die Zeit bis zum und danach, sondern sieht eine „Haftung“ für alle - „die“ - Verpflichtungen aus den Absätzen 1 und 2 vor. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck des vereinbarten Schuldbeitritts.

46III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1, § 100 Abs. 4 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:250522.U.4AZR454.21.0

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 10 Nr. 47
BAAAJ-23818