BGH Urteil v. - 1 StR 437/21

Strafaussetzung zur Bewährung: Kriminalprognose bei einem Angeklagten ohne Aufenthaltstitel; europarechtskonforme Auslegung der Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise

Gesetze: § 56 Abs 1 S 1 StGB, § 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 95 Abs 1 Nr 3 AufenthG, Art 6 Abs 2 S 1 EGRL 115/2008, § 267 StPO

Instanzenzug: LG München I Az: 9 KLs 467 Js 207863/20

Gründe

1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung ausgesetzt hat. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen.

2Die gegen ihre Verurteilung gerichtete Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

31. Der Schuldspruch, der Strafausspruch sowie die Einziehungsentscheidung weisen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.

42. Demgegenüber hält die Versagung der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung (§ 56 StGB) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

5a) Grundsätzlich gilt, dass dem Tatgericht bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat (vgl. Rn. 20 und vom – 1 StR 519/00 Rn. 10; Beschluss vom – 1 StR 203/19 Rn. 4; Claus in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl., § 56 Rn. 49 ff. mwN). Hat das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt und ist es – namentlich aufgrund seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks – zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens nicht größer ist als diejenige neuer Straftaten, so ist dessen Entscheidung grundsätzlich auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Bewertung denkbar gewesen wäre (vgl. Rn. 3). Erforderlich ist aber, dass das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände vollständig erfasst und würdigt (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 25/16 Rn. 3; vom – 5 StR 542/06 Rn. 2 und vom – 1 StR 519/00 Rn. 10).

6b) Gemessen an diesem Maßstab ist die Prognoseentscheidung des Landgerichts, aufgrund derer es für die Angeklagte keine günstige Kriminalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB festzustellen vermochte, nicht frei von Rechtsfehlern.

7aa) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet zunächst, dass das Landgericht im Rahmen der Prognoseentscheidung darauf abgestellt hat, dass die Angeklagte sich „zumindest nicht über die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland informierte“ (UA S. 53). Es hat bei dieser Bewertung daran angeknüpft, dass die Angeklagte weder einwohnerrechtlich gemeldet noch als Prostituierte nach § 3 Abs. 1 ProstSchG angemeldet gewesen sei sowie mit der Erbringung ihrer Dienstleistungen gegen die zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie verhängten Lockdown-Bestimmungen verstoßen habe (UA S. 53). Überdies habe sie gegen die Kondompflicht nach § 32 Abs. 1 ProstSchG verstoßen und sei auch steuerrechtlich nicht angemeldet gewesen (UA S. 53).

8Mit dem – allein vergangenheitsbezogenen – Abheben auf die Verletzung von Erkundigungspflichten hat das Landgericht nicht bedacht, dass es für die Krimimalprognose (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB) einzig darauf ankommt, ob ohne Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten ist, dass der Täter sich in Zukunft und nicht nur während der Bewährungszeit nicht mehr strafbar machen wird; allgemeines Wohlverhalten wird hierfür nicht verlangt (vgl. Rn. 119; Beschluss vom – 3 StR 91/03 Rn. 5; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 198; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 56 Rn. 6). Das Erfordernis einer „ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben“ umfassenden günstigen Sozialprognose hat das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom (BGBl. I S. 645, 647) bereits mit Wirkung zum aufgegeben (vgl. Rn. 119; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 198). Es kommt hinzu, dass die von der Strafkammer bei der Verletzung der Informationspflichten in Bezug genommenen weiteren Pflichtverletzungen sich aus Sicht der Angeklagten in tatsächlicher Hinsicht teilweise bedingen. So müsste die Angeklagte, wollte sie sich steuerrechtlich, einwohnermelderechtlich und als Prostituierte anmelden, die unerlaubte Erwerbstätigkeit bzw. den unerlaubten Aufenthalt offenbaren.

9bb) Die Strafkammer hat ihre negative Kriminalprognose zudem auf die ungünstigen Lebensverhältnisse der Angeklagten, einer chinesischen Staatsangehörigen, gestützt. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich die Angeklagte in der Vergangenheit illegal in Deutschland auf und arbeitete ohne Arbeitserlaubnis als Prostituierte. Die Angeklagte, die im Besitz einer spanischen Aufenthaltserlaubnis ist, verfüge weder in Deutschland noch in Spanien oder China über eine Wohnung und einen Arbeitsplatz und habe keine finanziellen Mittel für eine Rückkehr nach Spanien oder China. Diese Ausführungen bringen die Erwartung zum Ausdruck, dass die Angeklagte sich vor dem Hintergrund eines fehlenden Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland bei einer Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar machen würde.

10(1) Der Senat besorgt insoweit, dass das Landgericht nicht in den Blick genommen hat, dass sich die Angeklagte, sobald sie aus der Haftanstalt entlassen wird, ohne ihr Zutun, gleichsam automatisch (erneut) wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar macht. Vor dem Hintergrund dieses – gesetzlich bedingten – Automatismus kann einer möglichen Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts bei der Kriminalprognose allenfalls untergeordnete Bedeutung zukommen. Demgemäß ist anerkannt, dass die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil ein Angeklagter aktuell über keinen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland verfügt und nicht amtlich gemeldet ist (vgl. , BGHSt 6, 138 f. zu einem Ausländer mit Wohnsitz im Ausland; LK-StGB/Hubrach, 13. Aufl., § 56 Rn. 18).

11(2) Für diese Bewertung der ausländerrechtlichen Situation der Angeklagten im Rahmen der Kriminalprognose sprechen auch die Regelungen des Rückführungsverfahrens nach der sogenannten Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom , ABl. L 348 vom , S. 98).

12Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) europarechtskonform auszulegen (vgl. Rn. 27 mwN und vom – 3 StR 69/17 Rn. 20 f.). Offenbleiben kann im vorliegenden Zusammenhang, ob der Senat insoweit der Auffassung des 5. Strafsenats folgen könnte, dass ein laufendes Rückführungsverfahren zur Folge hätte, dass der unerlaubte Aufenthalt oder die unerlaubte Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG lediglich nach § 60 StGB mit einem Absehen von Strafe bei gleichzeitigem Schuldspruch „sanktioniert“ werden dürfte ( Rn. 31) oder darin – wie der 3. Strafsenat annimmt – ein persönlicher Strafaufhebungsgrund, ein Prozesshindernis oder auch nur ein Vollstreckungshindernis in europarechtskonformer Handhabung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, § 154b Abs. 3 und 4 StPO oder § 456a StPO zu sehen wäre ( Rn. 21). In jedem Falle wäre auch bei der Prognoseentscheidung, die an eine zukünftige Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts anknüpft, ein vorrangiges Rückführungsverfahren in den Blick zu nehmen. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie vorgesehen ist, dass Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten sind, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Diese Bestimmung der Rückführungsrichtlinie, die Deutschland nicht innerhalb der Frist zur Umsetzung am (vgl. Art. 20 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) umgesetzt hat, gilt seit Ablauf der Frist unmittelbar (vgl. [El Dridi] Rn. 46 mwN, NJOZ 2012, 837, 839).

13(3) Auch die weitere Erwägung des Landgerichts, dass es der Angeklagten an finanziellen Mitteln für eine Rückreise nach Spanien oder China fehle (UA S. 54), wird durch die Rückführungsrichtlinie relativiert, da dort in den Erwägungsgründen 10 bis 12 eine finanzielle Unterstützung der Drittstaatsangehörigen unter anderem über den Europäischen Rückkehrfonds vorgesehen ist.

143. Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht (§ 353 Abs. 2 StPO). Das Landgericht kann weitere Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

15Das neue Tatgericht wird sich bei der neuerlichen Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung auch mit möglichen spezialpräventiven Wirkungen der im Zeitpunkt des Urteils bereits mehr als fünf Monate andauernden Untersuchungshaft auf die in Deutschland nicht vorbestrafte Angeklagte zu befassen haben (vgl. Rn. 3).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:100222U1STR437.21.0

Fundstelle(n):
OAAAJ-23267