Sofortige Beschwerde - verspätete Absetzung Berufungsurteil - Beginn Fünfmonatsfrist
Gesetze: § 72b ArbGG, § 222 Abs 2 ZPO
Instanzenzug: Az: 6 Ca 8536/19 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 5 Sa 121/21 Urteil
Gründe
1Die sofortige Beschwerde nach § 72b Abs. 1 ArbGG ist zulässig und begründet.
2I. Die Parteien streiten über die Höhe angemessener Nachtarbeitszuschläge. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten mit Urteil vom zurückgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Mit Gründen versehen ist es am bei den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin eingegangen. Auf Nachfrage beim Landesarbeitsgericht hat der stellvertretende Vorsitzende der 5. Kammer mitgeteilt, das „komplett unterschriebene Urteil“ sei am an die Geschäftsstelle übergeben worden. Mit ihrer sofortigen Beschwerde nach § 72b ArbGG begehrt die Beklagte die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
3II. Die sofortige Beschwerde hat Erfolg. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden, § 72b Abs. 1 ArbGG.
41. Gemäß § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG kann das Urteil eines Landesarbeitsgerichts durch sofortige Beschwerde angefochten werden, wenn es nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Die sofortige Beschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat einzulegen und zu begründen; die Frist beginnt mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des Urteils, § 72b Abs. 2 ArbGG.
52. Danach ist die sofortige Beschwerde zulässig und begründet.
6a) Die sofortige Beschwerde der Beklagten ist statthaft; die Frist- und Formvorschriften nach § 72b Abs. 2 und Abs. 3 ArbGG wurden eingehalten.
7b) Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Es lag bis zum Ablauf der Fünfmonatsfrist des § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG kein vollständig abgefasstes, mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehenes Urteil bei der Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts vor.
8aa) Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln ist am verkündet worden. In der Verfahrensakte ist lediglich eine Verfügung und ein Abvermerk vom enthalten, denen entnommen werden kann, dass an diesem Tag Urteilsabschriften an die Parteien abgesandt wurden. Ob das vollständige Urteil an diesem Tag oder - wie vom stellvertretenden Vorsitzenden der Kammer mitgeteilt - bereits am Vortag, dem , zur Geschäftsstelle gelangte, lässt sich der Akte aber nicht entnehmen. Weder befindet sich ein Datumsstempel der Geschäftsstelle in der Akte, mit dem der Eingang dokumentiert wäre, noch ein sonstiger Vermerk, dass bereits an diesem Tag das Urteil vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben wurde.
9bb) Selbst wenn aber das vollständig abgefasste, unterschriebene Urteil am an die Geschäftsstelle gelangt ist, ist die Fünfmonatsfrist nicht gewahrt. Diese endete am , obwohl dies ein Sonntag und der ein Feiertag (Pfingstmontag) war. § 222 Abs. 2 ZPO ist auf die Fünfmonatsfrist des § 72b ArbGG nicht anwendbar (vgl. - zu 2 der Gründe mwN, BAGE 93, 360; - mwN; Schwab/Weth/Ulrich ArbGG 6. Aufl. § 72b Rn. 14; Helml/Pessinger/Pessinger ArbGG 5. Aufl. § 72b Rn. 18; NK-GA/Düwell § 72b ArbGG Rn. 6; aA GMP/Müller-Glöge 10. Aufl. § 72b Rn. 25).
10(1) Aus Gründen der Rechtssicherheit ist die Zeit für die nachträgliche Abfassung, Unterzeichnung und Übergabe des bei Verkündung noch nicht vollständig abgefassten Urteils auf längstens fünf Monate begrenzt. Dabei handelt es sich um eine starre, sog. uneigentliche Frist, die den Zeitraum, der für die nachträgliche Niederlegung der schriftlichen Urteilsgründe äußerstenfalls zur Verfügung steht, strikt limitiert (vgl. - zu 2 der Gründe mwN, BAGE 93, 360; - mwN). Damit würde sich die Anwendung von § 222 Abs. 2 ZPO nicht vertragen. Die Frist dient allein der technischen Bestimmung des Zeitpunkts des Beginns der Rechtsmittelfrist. Sie tritt an die Stelle der Zustellung des Urteils und richtet sich an den Vorsitzenden der Kammer, ist aber keine von den Prozessbeteiligten einzuhaltende Geltendmachungsfrist. Insoweit ist es unmaßgeblich, ob der letzte Tag der Fünfmonatsfrist ein Samstag, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag ist. Die Fünfmonatsfrist hat nicht den Sinn, dass der Berufungsrichter, der nach § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Satz 3 ArbGG das vollständig abgefasste und unterschriebene Urteil innerhalb von vier Wochen der Geschäftsstelle zu übergeben hat, die Frist unter Einbeziehung von Wochenende und Feiertagen bis zum letzten Tag ausnutzen kann. Die Fünfmonatsfrist soll vielmehr der Gefahr Rechnung tragen, dass die Beurkundungsfunktion wegen des mit größer werdendem Zeitabstand zwischen Urteilsberatung und Abfassung der Urteilsgründe immer mehr abnehmenden Erinnerungsvermögens im Einzelfall nicht mehr gewahrt ist. Es soll sichergestellt werden, dass die in das niedergelegte Urteil aufgenommenen Entscheidungsgründe mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der auf die mündliche Verhandlung folgenden Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren (vgl. - zu 2 der Gründe mwN, BAGE 93, 360; - mwN; auch - zu B I 2 c cc der Gründe; - 1 BvR 2674/04 - zu II 2 der Gründe).
11(2) Hierfür spricht auch die Entstehungsgeschichte der Norm. Die sofortige Beschwerde nach § 72b ArbGG wurde eingeführt in Reaktion auf den - 1 BvR 383/00 -). Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass eine rechtsstaatliche Urteilsbegründung nicht mehr möglich sei, wenn die Entscheidungsgründe eines Berufungsurteils nach Ablauf von fünf Monaten nach seiner Verkündung noch nicht abgesetzt seien ( - zu B I 2 c der Gründe). Dies sei ein aus rechtsstaatlicher Sicht auf Dauer schwer hinnehmbarer Zustand. Mit Überschreiten der Fünfmonatsfrist stehe endgültig fest, dass eine rechtsstaatlich unbedenkliche Urteilsbegründung durch das Landesarbeitsgericht nicht mehr erfolgen könne ( - zu B I 2 c dd der Gründe). Die neue Beschwerderegelung in § 72b ArbGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers als Reaktion auf diese Entscheidung ein einfaches und schnelleres Verfahren eröffnen, um die Sache so bald wie möglich vor dem Landesarbeitsgericht erneut verhandeln zu können und eine mit Gründen versehene Entscheidung zu erhalten (BT-Drs. 15/3706 S. 21). Hiermit verträgt es sich - auch vor dem Hintergrund der Beschleunigungsvorschriften ua. in § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Satz 3 ArbGG - nicht, den Zeitpunkt des Beginns der Beschwerdefrist nach § 72b Abs. 2 Satz 1 ArbGG auf den nächsten Werktag hinauszuschieben, wenn das Ende der Fünfmonatsfrist nach § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag fällt.
123. Das Berufungsurteil war nach § 72b Abs. 5 Satz 1 ArbGG aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Für die von der Beklagten begehrte Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts (§ 72b Abs. 5 Satz 2 ArbGG) hat der Senat keinen Anlass gesehen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:150922.B.10AZB11.22.0
Fundstelle(n):
BB 2022 S. 2611 Nr. 45
NJW 2022 S. 10 Nr. 45
NJW 2022 S. 3732 Nr. 51
CAAAJ-23083