FG Berlin-Brandenburg Urteil v. - 5 K 5269/17 EFG 2019 S. 1088 Nr. 13

Keine „erste Tätigkeitsstätte” eines angestellten Versicherungskaufmanns mit einem auf eigene Rechnung unterhaltenem Servicebüro in einem Bezirk einer Geschäftsstelle der Versicherung bei lediglich organisatorischer Zuordnung zur Geschäftsstelle durch den Arbeitgeber

Versicherungsbezirk kein „weiträumiges Tätigkeitsgebiet”

Leitsatz

1. Ist einem angestellten Versicherungskaufmann ein bestimmter Bezirk im Werbebereich einer Geschäftsstelle eines Versicherungsunternehmens zugewiesen und hat der Arbeitgeber keine „erste Tätigkeitsstätte” für den Steuerpflichtigen bestimmt, sondern ihn der Geschäftsstelle lediglich organisatorisch zugewiesen, so stellt die Geschäftsstelle keine „erste Tätigkeitsstätte” für den Steuerpflichtigen dar.

2. Auch das von dem Versicherungskaufmann in seinem Bezirk angemietete Servicebüro stellt keine erste Tätigkeitsstätte i. S. v. § 9 Abs. 4 EStG dar, wenn es nicht von seinem Arbeitgeber, sondern allein auf Rechnung des Steuerpflichtigen betrieben wird und damit nicht dem Arbeitgeber zuzurechnen ist.

3. Der einem angestellten Versicherungskaufmann zugewiesene Versicherungsbezirk stellt kein weiträumiges Tätigkeitsgebiet i. S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 4 EStG dar. Ein weiträumiges Tätigkeitsgebiet liegt in Abgrenzung zur ersten Tätigkeitsstätte vor, wenn die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung auf einer festgelegten Fläche und nicht innerhalb einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 AktG) oder bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Dritten ausgeübt werden soll. Dies trifft beispielsweise zu auf Zusteller, Hafenarbeiter oder Forstarbeiter, nicht jedoch auf z.B. Schornsteinfeger, Bezirksleiter und Vertriebsmitarbeiter, die verschiedene Niederlassungen betreuen, oder mobile Pflegekräfte, die verschiedene Personen in deren Wohnungen in einem festgelegten Gebiet betreuen.

4. Verfügt der Steuerpflichtige auch nicht auch nicht auf Grundlage der – nunmehr entscheidungserheblichen – quantitativen Voraussetzungen des § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG über eine erste Tätigkeitsstätte, sind seine Fahrtkosten nach Dienstreisegrundsätzen bei den Werbungskosten im Rahmen der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit zu berücksichtigen.

Gesetze: EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 1, EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4a S. 1, EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4a S. 2, EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4a S. 4, EStG § 9 Abs. 4 S. 1, EStG § 9 Abs. 4 S. 2, EStG § 9 Abs. 4 S. 3, EStG § 9 Abs. 4 S. 4

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Tatbestand

Die Kläger sind Eheleute und wohnten in den Streitjahren 2014 und 2015 in B…, wo sie – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – ihren Lebensmittelpunkt besaßen. Der Kläger war in den Streitjahren bei dem C… a.G. als Versicherungskaufmann nichtselbstständig tätig. Er war Bezirksbeauftragter im Werbebereich der Geschäftsstelle D…. Ihm war für seine Tätigkeit ein Bezirk im Raum D… zugewiesen. Aufgrund dieser Zuweisung hatte der Kläger eine Zweitwohnung in D… sowie ein Büro in E… angemietet. Er unterstand über den Bezirksleiter der Geschäftsstellenleitung der Geschäftsstelle D… und hatte nach deren Weisungen zu arbeiten. Nach Nr. 1.4 des Arbeitsvertrages oblagen ihm folgende Aufgaben:

  1. „Persönliche Werbung nach den geltenden Tarifen unter Beachtung der in den Versicherungsbedingungen festgelegten Bestimmungen und der Dienstanweisungen,

  2. Gewinnung nebenberuflicher Mitarbeiter sowie Betreuung und Unterstützung der schriftlich zugewiesenen nebenberuflichen Mitarbeiter; Förderung der Produktivität der nebenberuflichen Werbeorganisation,

  3. Mitwirkung bei der Erkundung neuer Werbemöglichkeiten im übertragenen Aufgabenbereich,

  4. Ausführung von Werbe- und sonstigen Aufträgen, die vom Geschäftsstellenleiter, Ihrem Bezirksleiter oder von der Geschäftsstelle direkt zugewiesen werden,

  5. Pflege und Erhaltung des übertragenen Versicherten-/Kundenbestandes,

  6. Abgabe eines Tätigkeitsberichtes auf dem gültigen Vordruck gemäß den Anweisungen des Geschäftsstellenleiters oder des Vertreters.”

In einer Bescheinigung vom bestätigte der Arbeitgeber des Klägers, dass dieser im Außendienst beschäftigt sei und ihm in den Geschäftsräumen der C… a.G. kein Arbeitsplatz zur Verfügung stehe. Der Kläger müsse daher für seine Büroorganisation auf private Räumlichkeiten zurückgreifen, für die er selbst die Kosten zu tragen habe. Mit weiterer Bescheinigung vom führte der Arbeitgeber ergänzend Folgendes aus:

„Herr F… ist organisatorisch der Geschäftsstelle D… zugeordnet. Seine Tätigkeit erbringt er im Außendienst, so dass eine tägliche Anwesenheit in der Geschäftsstelle grundsätzlich nicht erforderlich ist. Dort wird auch kein Arbeitsplatz für ihn vorgehalten. Servicebüros werden nicht von der C… a.G., sondern von den Mitarbeitern eigenständig, d.h. in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, angemietet und betrieben. Da deren Vergütung provisionsabhängig erfolgt, handeln die Mitarbeiter diesbezüglich eigenverantwortlich und im Hinblick auf eine Festigung der erfolgsabhängigen Einkünfte. Eine Vorgabe zur Errichtung und zum Betrieb eines Servicebüros besteht seitens der C… a.G. nicht.

Da das Servicebüro mithin weder im Eigentum noch im Besitz des Arbeitgebers C… a.G. steht, erfüllt es mangels Einrichtung des Arbeitgebers nicht die Voraussetzungen einer ersten Tätigkeitsstätte gemäß den Regelungen des § 9 Absatz 4 EStG.”

Schließlich bescheinigte der Arbeitgeber dem Kläger am Folgendes:

„Herr F… […] ist unbefristet als hauptberuflicher Mitarbeiter im Außendienst für uns tätig und organisatorisch (z.B. verwaltungstechnisch, Zuständigkeit des Betriebsrates) der Geschäftsstelle D… zugeordnet.

Zu seinen Aufgaben gehören die Vermittlung von Versicherungs- und Bausparverträgen, die Gewinnung nebenberuflicher Mitarbeiter, deren Betreuung und Unterstützung sowie die Pflege und Erhaltung des Versichertenbestandes. Als Außendienstmitarbeiter steht Herrn F… in unseren Geschäftsräumen kein Arbeitsplatz zur Erledigung der administrativen Aufgaben zur Verfügung.

Zwar nimmt Herr F… in der Geschäftsstelle an den gelegentlich stattfindenden Schulungen und Besprechungen teil, jedoch begründet dies – ebenso wenig wie die rein organisatorisch erfolgte Zuordnung – keine erste Tätigkeitsstätte.”

Mit seiner Einkommensteuererklärung 2014 machte der Kläger bei seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit Werbungskosten im Rahmen einer Auswärtstätigkeit wie folgt geltend: Fahrtkosten für dienstliche Fahrten (z.B. Kundenbesuche) im Umfang von 8.171 km à 0,30 EUR, mithin insgesamt 2.451,30 EUR, für Fahrten zwischen der Wohnung in B… und der Wohnung in D… unter Zugrundelegung der tatsächlich gefahrenen Kilometer (36 Fahrten à 558 km zu 0,30 EUR pro gefahrenen Kilometer) i. H. v. 6.026,40 EUR sowie für 30 Fahrten à 14 km zu 0,30 EUR pro gefahrenen Kilometer in sein Büro in E…, mithin insgesamt 126 EUR. Verpflegungsmehraufwendungen beantragte er i. H. v. insgesamt 3.312 EUR. Hierbei berücksichtigte er 102 Tage mit einer Abwesenheit von 24 Stunden à 24 EUR sowie 72 Tage mit einer Abwesenheit von mindestens 14 Stunden à 12 EUR. Bei den 102 Tagen handelte es sich um vollständige Abwesenheitstage von der Wohnung in B…, bei den 72 Tagen um An- und Abreisetage von der Wohnung in B… bzw. D…. Unterkunftskosten für die Wohnung in D… machte der Kläger i. H. v. 4.748,62 EUR geltend.

Mit seiner Einkommensteuererklärung 2015 machte der Kläger bei seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit Werbungskosten im Rahmen einer Auswärtstätigkeit wie folgt geltend: Fahrtkosten für dienstliche Fahrten (z.B. Kundenbesuche) im Umfang von 586 km à 0,30 EUR, mithin insgesamt 175,80 EUR, für Fahrten zwischen der Wohnung in B… und der Wohnung in D… unter Zugrundelegung der tatsächlich gefahrenen Kilometer (4 Fahrten à 558 km zu 0,30 EUR pro gefahrenen Kilometer) i. H. v. 669,60 EUR sowie für Fahrten in sein Büro in E… 7,20 EUR. Verpflegungsmehraufwendungen beantragte er i. H. v. insgesamt 336 EUR. Hierbei berücksichtigte er 10 Tage mit einer Abwesenheit von 24 Stunden à 24 EUR sowie 8 Tage mit einer Abwesenheit von mindestens 14 Stunden à 12 EUR. Bei den 102 Tagen handelte es sich wiederum um vollständige Abwesenheitstage von der Wohnung in B…, bei den 72 Tagen um An- und Abreisetage von der Wohnung in B… bzw. D…. Unterkunftskosten für die Wohnung in D… machte der Kläger i. H. v. 4.586,14 EUR geltend.

Der Beklagte erließ hieraufhin die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre, in denen er die zuvor genannten vom Kläger begehrten Werbungskosten nur teilweise berücksichtigte. Er ging davon aus, dass die Geschäftsstelle der C… a.G. in D… eine erste Tätigkeitsstätte des Klägers darstelle. Damit handele es sich im Fall des Klägers um eine doppelte Haushaltsführung. Bei den Fahrtkosten übernahm er unverändert die geltend gemachten dienstlichen Fahrten und die Fahrten zum Büro in E…. Die Fahrten zwischen den Wohnungen in B… und D… behandelte der Beklagte im Rahmen der von ihm angenommenen doppelten Haushaltsführung als Familienheimfahrten, so dass lediglich die einfache Entfernung und nicht die tatsächlich gefahrenen Kilometer zum Ansatz kamen. Daher berücksichtigte er insoweit für 2014 Fahrtkosten für 36 Heimfahrten × 279 km à 0,30 EUR, mithin insgesamt 3.014 EUR, statt der begehrten 6.026,40 EUR. Für 2015 wurden Fahrtkosten für Familienheimfahrten i. H. v. 335 EUR (4 Heimfahrten × 279 km à 0,30 EUR) statt der beantragten 669,60 EUR berücksichtigt.

Bei den Verpflegungsmehraufwendungen berücksichtigte der Beklagte für das Jahr 2014 lediglich 91 Tage mit einer Abwesenheit von mehr als 8 Stunden, aber weniger als 14 Stunden. Für das Jahr 2015 berücksichtigte er Verpflegungsmehraufwendungen i. H. v. 60 EUR. Hierbei übernahm er die Angaben des Klägers in den von diesem eingereichten Fahrtenbüchern, in denen die genannten Abwesenheitszeiten für dienstliche Fahrten (z.B. Kundenbesuche) angegeben waren. Abwesenheitszeiten, die allein aus der Abwesenheit von der Wohnung in B… resultierten, wurden hingegen nicht berücksichtigt.

Die Unterkunftskosten berücksichtigte der Beklagte wie beantragt.

Die hiergegen erhobenen Einsprüche wies der Beklagte mit zusammengefasster Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage begehren die Kläger die vom Beklagten nicht berücksichtigten Werbungskosten. Sie sind der Rechtsauffassung, dass es sich bei der Geschäftsstelle der C… a.G. in D… nicht um eine erste Tätigkeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 4 EinkommensteuergesetzEStG – handele. Damit lägen die Voraussetzungen für die vom Beklagten angenommene doppelte Haushaltsführung nicht vor. Vielmehr handele es sich um eine Auswärtstätigkeit, bei der sämtliche Fahrtkosten ab Verlassen der Wohnung in B… nach Dienstreisegrundsätzen als Werbungskosten zu berücksichtigen seien. Verpflegungsmehraufwendungen seien zudem auf Grundlage der Abwesenheitszeiten von der Wohnung in B… zu ermitteln.

Die Kläger beantragen,

den Einkommensteuerbescheid 2014 vom in der Fassung des Änderungsbescheides vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften des Ehemannes der Kläger aus nichtselbstständiger Arbeit weitere Werbungskosten i. H. v. 5.232,40 EUR berücksichtigt werden, sowie

den Einkommensteuerbescheid 2015 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften des Ehemannes der Kläger aus nichtselbstständiger Arbeit weitere Werbungskosten i. H. v. 610,60 EUR berücksichtigt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass aufgrund der organisatorischen Zuordnung des Klägers zur Geschäftsstelle D… sowie der vom Kläger dort wahrgenommenen Tätigkeiten von einer ersten Tätigkeitsstätte an dieser Geschäftsstelle auszugehen sei. Dies habe zur Folge, dass eine doppelte Haushaltsführung gegeben sei, die zu der in den angegriffenen Bescheiden erfolgten Kürzung der begehrten Werbungskosten führe.

Dem Gericht haben bei seiner Entscheidung neben der Verfahrensakte eine Einkommensteuerakte (Band II, teilweise paginiert von Bl. 14-01 bis Bl. 14-33, sowie von Bl. 15-001 bis Bl. 15-022), eine Heftung „Einspruchsvorgang” für das Jahr 2014 (paginiert von Bl. 14-34 bis Bl. 14-109) sowie eine Heftung „Einspruchsvorgang” für das Jahr 2015 (paginiert von Bl. 15-023 bis Bl. 15-028) vorgelegen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FinanzgerichtsordnungFGO –). Der Beklagte hat zu Unrecht die geltend gemachten Werbungskosten des Klägers bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit gekürzt.

Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom (BGBl. I 2013, 285) sind Werbungskosten ab dem auch die Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte i. S. d. Absatzes 4 der Vorschrift. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 EUR anzusetzen. Demgegenüber sind Aufwendungen des Arbeitnehmers für beruflich veranlasste Fahrten, die nicht Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte sind, mit den tatsächlichen Aufwendungen oder mit pauschalen Kilometersätzen nach dem Bundesreisekostengesetz anzusetzen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Sätze 1 und 2 EStG); dieser Kilometersatz belief sich in den Streitjahren auf 0,30 EUR pro gefahrenen Kilometer.

Nach § 9 Abs. 4 EStG ist erste Tätigkeitsstätte die ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes) oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist (Satz 1). Die Zuordnung i.S.d. Satzes 1 der Vorschrift wird durch die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen bestimmt (Satz 2). Von einer dauerhaften Zuordnung ist insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll (Satz 3). Fehlt eine solche dienst- oder arbeitsrechtliche Festlegung auf eine Tätigkeitsstätte oder ist sie nicht eindeutig, ist erste Tätigkeitsstätte die betriebliche Einrichtung, an der der Arbeitnehmer dauerhaft typischerweise arbeitstäglich (Satz 4 Nr. 1) oder je Arbeitswoche zwei volle Arbeitstage oder mindestens ein Drittel seiner vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit tätig werden soll (Satz 4 Nr. 2).

Die Zuordnungsentscheidung des Arbeitgebers i. S. d. § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG wird vom Gesetzgeber allein dem Arbeitgeber überlassen. Maßgeblich sind ausweislich des Gesetzeswortlauts zuvorderst die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen. Im Rahmen dieser dem Arbeitgeber zugewiesenen Zuordnungsentscheidung kann der Arbeitgeber auch darauf verzichten, eine erste Tätigkeitsstätte dienst- oder arbeitsrechtlich festzulegen, oder ausdrücklich erklären, dass organisatorische Zuordnungen keine erste Tätigkeitsstätte begründen sollen (so auch: , BStBl. I 2014, 1412, Rn. 12; Arens/Pelke, DStR 2014, 1239 [1240]; Niermann, DB 2013, 2357 [2358]). Wird eine Zuordnung nicht vorgenommen, ist das Vorliegen einer Tätigkeitsstätte allein nach den quantitativen Merkmalen des § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG zu beurteilen.

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze war der Kläger in den Streitjahren zu keiner (ersten) Tätigkeitsstätte seines Arbeitsgebers zugeordnet. Wie aus der Bescheinigung des Arbeitgebers vom deutlich wird, wollte der Arbeitgeber des Klägers diesem keine erste Tätigkeitsstätte zuordnen. Insbesondere sollte die lediglich organisatorische Zuordnung zur Geschäftsstelle in D… nicht zugleich die Zuweisung zu einer ersten Tätigkeitsstätte bedeuten. Zu einer solchen Festlegung war der Arbeitgeber nach dem zuvor Ausgeführten berechtigt. Diese Festlegung ist sodann aufgrund der zwingenden Anknüpfung des § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG an die Entscheidung des Arbeitgebers auch einkommensteuerrechtlich zugrunde zu legen. Dass die Bestätigung erst im Jahr 2018 ausgestellt wurde, ist nach Auffassung des Senats nicht schädlich. Die Bescheinigung ist nach ihrem Wortlaut und Sinn so zu verstehen, dass sie nur deklaratorisch klarstellt, welche Weisungen des Arbeitgebers generell im Arbeitsverhältnis des Klägers – und damit auch in den Streitjahren – galten.

Eine erste Tätigkeitsstätte ergibt sich für den Kläger sodann auch nicht auf Grundlage der – wie ausgeführt nunmehr entscheidungserheblichen – quantitativen Voraussetzungen des § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG. Denn der Kläger wurde in der Geschäftsstelle der C… a.G. in D… nicht typischerweise arbeitstäglich oder je Arbeitswoche zwei volle Arbeitstage oder mindestens ein Drittel seiner vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit tätig.

Mangels Zuordnungsentscheidung durch den Arbeitgeber kommt es auf die Qualität der in der Geschäftsstelle der C… a.G. in D… durch den Kläger verrichteten Tätigkeiten nicht entscheidungserheblich an.

Auch das von ihm angemietete Büro stellt keine erste Tätigkeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 4 EStG dar, da dieses Büro nicht von seinem Arbeitgeber, sondern allein auf Rechnung des Klägers betrieben wurde und damit nicht dem Arbeitgeber zuzurechnen ist. Dies aber ist Voraussetzung für die Annahme einer ersten Tätigkeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 4 EStG „Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens […] oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist”).

Der dem Kläger zugewiesene Versicherungsbezirk stellt nach Auffassung des Senats auch kein weiträumiges Tätigkeitsgebiet i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 4 EStG dar, bei dessen Vorliegen die Fahrten von der Wohnung zum Tätigkeitsgebiet als Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte anzusehen wären. Ein weiträumiges Tätigkeitsgebiet liegt nach zutreffender Ansicht (vgl. , BStBl. I 2014, 1412, Rn. 41; Bergkemper, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 290. Lieferung 01.2019, § 9 EStG, Rn. 485; Oertel, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 18. Aufl. 2019, § 9 EStG, Rn. 82; Niermann, DB 2013, 1015 [1019]; Arens/Pelke, DStR 2014, 1239 [1241]), der sich der erkennende Senat anschließt, in Abgrenzung zur ersten Tätigkeitsstätte vor, wenn die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung auf einer festgelegten Fläche und nicht innerhalb einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 AktG) oder bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Dritten ausgeübt werden soll. Dies trifft beispielsweise zu auf Zusteller, Hafenarbeiter oder Forstarbeiter, nicht jedoch auf z.B. Schornsteinfeger, Bezirksleiter und Vertriebsmitarbeiter, die verschiedene Niederlassungen betreuen oder mobile Pflegekräfte, die verschiedene Personen in deren Wohnungen in einem festgelegten Gebiet betreuen. Denn letztere werden zwar innerhalb eines ihnen zugewiesenen Gebietes tätig. Die Tätigkeit wird jedoch nicht gebietsbezogen, sondern an wechselnden Orten auf diesem Gebiet (z.B. in Wohnungen oder sonstigen Einrichtungen) ausgeübt. Dies trifft auch auf den Kläger zu, dessen Tätigkeit innerhalb des ihm zugewiesenen Bezirks insbesondere in Kundenbesuchen bestand und damit in einer Tätigkeit, die in den Wohnungen der Kunden stattfand, die in dem Versicherungsbezirk ansässig waren.

Aus dieser Sach- und Rechtlage folgt, dass die Fahrten des Klägers von seiner Wohnung in B… nach D… sowie die entsprechenden Rückfahrten nach Dienstreisegrundsätzen bei den Werbungskosten des Klägers im Rahmen der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit zu berücksichtigen sind. Denn mangels erster Tätigkeitsstätte kommt ein Ansatz der Entfernungspauschale nicht in Betracht (so auch: , BStBl. I 2014, 1412, Rn. 35). Sämtliche vom Kläger angegebenen Fahrten nach D… waren beruflich veranlasst, da sie durch seine Tätigkeit als Bezirksbeauftragter der C… a.G. veranlasst waren. Zudem waren – wie von den Kläger begehrt – die Verpflegungsmehraufwendungen auf Grundlage der Abwesenheitszeiten von der Wohnung in B… zu ermitteln. Demnach war dem Klagebegehren in vollem Umfang zu entsprechen.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), da bislang die Auslegung des Tatbestandsmerkmales „erste Tätigkeitsstätte” i. S. d. § 9 Abs. 4 EStG nicht höchstrichterlich geklärt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZivilprozessordnungZPO –.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
DStR 2019 S. 6 Nr. 35
DStRE 2019 S. 1054 Nr. 17
EFG 2019 S. 1088 Nr. 13
KÖSDI 2019 S. 21348 Nr. 8
YAAAH-19542