BBEV Nr. 12 vom Seite 398

Nichtveranlagungsbescheinigung und Abgeltungsteuer

Steuerliche Risiken für Anleger und Berater

von Oliver Schultze, Pinneberg *

Die Nichtveranlagungsbescheinigung (§ 44a Abs. 2 EStG) – im Folgenden NV-Bescheinigung – wurde bisher erfahrungsgemäß vor allem bei minderjährigen Kindern und Anlegern genutzt, die neben ihren Kapitaleinkünften nur noch Renteneinkünfte beziehen. Auch nach Einführung der Abgeltungsteuer wird an der NV-Bescheinigung festgehalten. Durch die Abgeltungsteuer ergeben sich für den Anlegerkreis jedoch Einschränkungen, deren Konsequenzen im folgenden Beitrag analysiert werden.

I. Bisherige Rechtslage

Nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 i. V. mit Abs. 2 Nr. 2 EStG ist auf Antrag des Stpfl. eine NV-Bescheinigung vom Wohnsitz-FA auszustellen, wenn eine Veranlagung zur Einkommensteuer aufgrund der Einkommenssituation nicht in Betracht kommt. Der Stpfl. hat hierbei einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer entsprechenden NV-Bescheinigung. NV-Bescheinigungen wurden bislang vor allem zum einen von Rentnern beantragt, die neben den Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur über zusätzliche Kapitaleinkünften verfügte, und zum anderen für minderjährige Kinder.

Erfahrungsgemäß wurde eine Überprüfung der Voraussetzungen von Amts wegen regelmäßig nicht vorgenommen, obwohl die Bescheinigung unter dem Vorbehalt des Widerrufs steht. Anders als bei der Erteilung von Freistellungsaufträgen findet bei NV-Bescheinigungen auch keinerlei Meldung des Kreditinstituts über zugeflossene Kapitalerträge an die Finanzbehörden statt. Der Stpfl. muss die Bescheinigung nur zurückgeben, wenn er erkennt, dass die Voraussetzungen für die Gewährung nicht mehr gegeben sind. Stpfl., die eine NV-Bescheinigung beantragt haben, erkennen dies jedoch regelmäßig nicht, so dass eine Rückgabe von Anlegerseite regelmäßig unterbleibt.

Charakteristisch für diesen Anlegerkreis ist, dass eine langfristige Anlage vor allem in festverzinsliche Wertpapiere oder (Renten-)Investmentfonds erfolgt. Hinzu kommen einige Standard-Aktien („Volksaktien” wie z. B. Deutsche Telekom AG oder Deutsche Post AG). Diese Wertpapiere werden grundsätzlich bis zur Fälligkeit, regelmäßig aber länger als ein Jahr gehalten. Soweit Kursgewinne erzielt werden, erfolgt die Realisierung daher außerhalb der Frist des § 23 EStG. Die steuerpflichtigen Einnahmen aus den gehaltenen Wertpapieren schwanken zwar, allerdings nur in engen Grenzen; da es sich um regelmäßige Zahlungen handelt, ist eine Prognose der (steuerpflichtigen) Einnahmen aber gut möglich.

II. Änderungen infolge der Einführung der Abgeltungsteuer

Auch nach der Unternehmensteuerreform 2008 bzw. der Einführung der Abgeltungsteuer können NV-Bescheinigungen gem. § 44a Abs. 2 EStG beantragt werden. Dies hat das BMF im Zusammenhang mit den Beschlüssen zur Abgeltungsteuer ausdrücklich bestätigt (vgl. hierzu die „Ausführungen für Jedermann zur Abgeltungsteuer” v. , www.bundesfinanzministerium.de, Frage 15).

Neu ist jedoch die Einbeziehung der Veräußerungsgewinne in die Steuerpflicht. Da damit zukünftig alle Veräußerungsgewinne (z. B. auch der Einlösungsgewinn bei unter pari ausgegebenen festverzinslichen Wertpapieren) unabhängig von der Haltedauer der Wertpapiere der Steuerpflicht unterliegen, können die Grenzen der Nichtveranlagung in einzelnen Jahren leicht überschritten werden. Diese Kursgewinne und -verluste sind aber kaum zuverlässig zu prognostizieren, so dass sie zumindest bei der Beantragung einer NV-Bescheinigung nicht berücksichtigt werden (können).

hinweis

Wer ausschließlich Kapitaleinkünfte erzielt, kann als Alleinstehender unter Berücksichtigung des Grundfreibetrags und der Abzugsbeträge durchaus 10 bis 12 T€ an Einnahmen erzielen, ohne dass eine Steuer anfällt. Bei einer Anlage zu einem Zinssatz von 5 % entspricht dies einem Kapitalvermögen von etwa 200 T€. Kommt es in derartigen Fällen zu Einlösungsgewinnen in für festverzinsliche Wertpapiere üblicher Höhe von 1 bis 2 % des Nominalbetrags, können sich zusätzlich Einkünfte von 2 bis 4 T€ ergeben – und damit u. U. eine Steuerpflicht auslösen. S. 399

M. E. können aufgrund der Ungewissheit über die zu realisierenden Kursgewinne diese auch von der Finanzverwaltung bei der Beurteilung, ob eine NV-Bescheinigung erteilt wird, nicht berücksichtigt werden, so dass weiterhin ein Rechtsanspruch auf Erteilung besteht, sofern aufgrund der voraussichtlichen Zins- und Dividendeneinnahmen eine Veranlagung nicht in Betracht käme.

Durch die Erweiterung des Katalogs im § 43 EStG werden die Veräußerungsgewinne ab 2008 auch kapitalertragsteuerpflichtig (§ 43 Abs. 1 Nr. 9 und Nr. 10 i. V. mit § 20 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 7 EStG i. d. F. nach dem Unternehmensteuerreformgesetz 2008). Da die Vorschriften der §§ 44a und b EStG entsprechend an die geänderte Definition der Kapitaleinkünfte angepasst wurden (es erfolgt ein Verweis auf § 43 Abs. 1 Nr. 8 bis 12 EStG), gilt eine Befreiung vom Kapitalertragsteuerabzug über die NV-Bescheinigung damit auch für Veräußerungsgewinne. Die § 44a Abs. 2 und § 44b Abs. 1 Buchst. b EStG wurden nicht geändert, so dass die NV-Bescheinigung ihre Wirkung auf alle Kapitaleinkünfte neuer Definition (und somit auch zusätzlich zu den Veräußerungsgeschäften Stillhaltergeschäfte in Optionen) entfaltet.

Während in der Vergangenheit der Tabelleneingangsbetrag der Einkommensteuertabelle durch schwankende Kapitaleinnahmen während der dreijährigen Laufzeit regelmäßig allenfalls geringfügig überschritten wurde, kann jetzt im Ergebnis mit einer NV-Bescheinigung je nach Anlagestrategie auch ein Mehrfaches des Tabelleneingangsbetrags ohne Abgeltungsteuer vereinnahmt werden, ohne das dies auf vorsätzlich falschen Angaben des Anlegers beruht.

III. Handlungsbedarf

Bei Anlegern, die eine NV-Bescheinigung beantragt haben, muss daher in vielen Fällen nachträglich geprüft werden, ob die Befreiung von der Abgeltungsteuer tatsächlich zu Recht erfolgt ist.

Diese notwendige nachträgliche Kontrolle der tatsächlich erzielten Erträge wird aber in Zukunft durch die Unternehmensteuerreform gleichermaßen deutlich erschwert: Bisher wurden die Daten zu den steuerpflichtigen Veräußerungsgeschäften und den Kapitaleinkünften in der Jahresbescheinigung gem. § 24c EStG ausgewiesen – so kritisch die Aussagekraft dieser Bescheinung im Einzelnen auch zu bewerten ist (vgl. hierzu Paukstadt/Luckner, BBEV 2006 S. 337 NWB ZAAAC-18281). Die Verpflichtung der Kreditinstitute zur Erstellung entsprechender Bescheinigungen ist jedoch durch das Unternehmensteuerreformgesetz ab 2008 ersatzlos aufgehoben worden.

Aufgrund der pauschalen Abgeltungsteuer auf alle Erträge ist m. E. davon auszugehen, dass die Banken zukünftig nur noch die Bescheinigungen über die jeweils einbehaltene Abgeltungsteuer erstellen werden (§ 45a EStG). Aus diesen Bescheinigungen gehen zwar regelmäßig alle relevanten Daten hervor. Soweit eine NV-Bescheinigung vorgelegen hat, dürfte aber – entsprechend der bisherigen Praxis bei Steuerbescheinigungen – keine Bescheinigung der Bank über die nicht besteuerten Erträge erstellt werden.

Auch die Erträgnisaufstellung ist hier nicht von Nutzen, da sie die Veräußerungsgeschäfte nicht enthält. Zudem dürfte sie angesichts der Abgeltungsteuer an Bedeutung verlieren und zukünftig nur noch gegen Entgelt von den Banken erstellt werden.

Im Ergebnis ist m. E. davon auszugehen, dass die Überprüfung der Nichtbesteuerung zumindest in den Grenzfällen der Steuerpflicht deutlich aufwändiger sein wird als zunächst die Besteuerung über die Abgeltungsteuer mit anschließender Antragsveranlagung und Erstattung. In letzterem Fall liegt mit der Steuerbescheinigung zumindest eine verlässliche (?) Grundlage für die Steuererklärung vor, während in ersterem die Einzelbelege geprüft werden müssen.

Steuerliche Berater sollten daher m. E. nur noch in Ausnahmefällen und auf ausdrücklichen Mandantenwunsch eine NV-Bescheinigung anfordern. Die nachträgliche Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen scheitert häufig am Widerstand des Mandanten, und der Berater könnte sich so dem Vorwurf der Beihilfe zur Steuerhinterziehung aussetzen.

Weiterhin sollte m. E. vom Gesetzgeber geprüft werden, ob die NV-Bescheinigung nicht durch einen entsprechenden antragsbezogenen Freibetrag ersetzt werden kann. In Höhe der zu erwartenden Differenz der übrigen steuerpflichtigen Einkünfte zum Grundfreibetrag zzgl. üblicher Abzugsbeträge (Sonderausgaben etc.) könnten dann alle Kapitaleinkünfte von der Abgeltungsteuer befreit werden.

Fazit
  1. Die Nichtveranlagungs-Bescheinigung befreit auch Kursgewinne von der Abgeltungsteuer.

  2. Die Beantragung einer NV-Bescheinigung durch den Steuerberater sollte aus Haftungsgründen nur auf ausdrücklichen Mandantenwunsch erfolgen.

  3. Trotz NV-Bescheinigung ist zukünftig für alle Jahre im Nachhinein eine (grobe) Ermittlung der steuerpflichtigen Einnahmen erforderlich.

  4. Die nachträgliche Überprüfung der Richtigkeit der Nichtveranlagung erfordert einen ähnlichen Aufwand wie die direkte Erstellung der Steuererklärung.

Fundstelle(n):
BBEV 12/2007 Seite 398
NWB WAAAC-63626