Finanzgericht Hamburg  Urteil v. - 5 K 24/19 EFG 2020 S. 985 Nr. 14

Kindergeld für ein vor Beginn der Ausbildung erkranktes Kind

Leitsatz

Ein Kind, das ausbildungswillig ist, aber infolge einer Erkrankung daran gehindert ist, sich ernstlich um eine Berufsausbildung zu bemühen, ist ebenso zu behandeln wie ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und hat deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG einen Anspruch auf Kindergeld.

Gesetze: EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. c

Instanzenzug:

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist nicht rechtskräftig

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die Kindergeldfestsetzung für das Kind A für die Monate September 2017 bis einschließlich Juli 2018 aufgehoben hat.

Die Klägerin ist die Mutter von A (geb. ... 1998). A befand sich vom bis in einer Ausbildung zur B. Sie unterbrach die Ausbildung krankheitsbedingt. Im Zeitraum Juni 2017 bis einschließlich Juli 2018 war sie an ... erkrankt. Ab dem absolvierte A für ein Jahr den Bundesfreiwilligendienst beim XX ... (XX).

Mit Bescheid vom setzte die Beklagte für A Kindergeld ab November 2016 fest. Mit Antrag vom beantragte die Klägerin Kindergeld für A und trug vor, diese wolle ab August 2018 den Bundesfreiwilligendienst ableisten Die Beklagte hob nach vorheriger Anforderung von Nachweisen hinsichtlich des Zeitraums der Erkrankung mit Bescheid vom die Festsetzung des Kindergeldes für A für Juli 2017 bis einschließlich Juli 2018 auf und forderte den überzahlten Betrag von 2.510 € zurück. Hiergegen legte die Klägerin am Einspruch ein. Sie reichte Unterlagen über die Erkrankung von A von Juni 2017 bis einschließlich Juli 2018 und deren Bemühungen um einen Ausbildungsplatz ein. Zudem legte sie eine von A am unterzeichnete Bestätigung vor, wonach diese nach Genesung den Bundesfreiwilligendienst antreten und sich parallel einen Ausbildungsplatz suchen wolle. Hierauf wird Bezug genommen. Mit Einspruchsentscheidung vom wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. A könne nach Abbruch der Ausbildung lediglich als "Kind ohne Ausbildungsplatz" i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 lit. c EStG berücksichtigt werden. Eine Berücksichtigung sei grundsätzlich auch möglich, wenn ein Kind wegen einer Erkrankung gehindert sei, sich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen. Dies erfordere aber eine schriftliche Erklärung des Kindes, dass es gewillt sei, sich unmittelbar nach Genesung um eine Ausbildung zu bemühen. Eine solche Erklärung könne aber keine Rückwirkung entfalten, sondern wirke erst ab Eingang bei der Familienkasse.

Hiergegen hat die Klägerin am Klage erhoben. A habe während der gesamten Dauer ihrer Erkrankung das Ziel behalten, eine neue Ausbildung zu beginnen und sich auch um eine Ausbildung als C ernsthaft bemüht. Sie habe sich im August 2017 bei D und Anfang 2018 beim XX beworben. Auf die vorgelegten Unterlagen wird Bezug genommen. Schließlich habe sie, da ihre Bemühungen keinen Erfolg hatten, eine Stelle im Bundesfreiwilligendienst beim XX angenommen. Dass die Erklärung von A über ihre Ausbildungswilligkeit erst im Nachhinein abgegeben worden sei, sei unschädlich.

Nachdem die Beklagte mit Änderungsbescheid vom angesichts des vorgelegten Bewerbungsschreibens Kindergeld für die Monate Juli und August 2017 festgesetzt hatte, haben die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt. Für die Monate Juli und August 2017 ist das Verfahren abgetrennt worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom , zuletzt geändert durch Teilabhilfebescheid vom , aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest. Trotz der krankheitsbedingten Unterbrechung der Ausbildung könne für A kein Kindergeld festgesetzt werden. Weder habe sich A von September 2017 bis einschließlich Juli 2018 ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, noch sei nach den Vorgaben der Dienstanweisung A Ausbildungswilligkeit angesichts der verspätet vorgelegten Erklärung anzunehmen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen A, E und F. Für das Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Mit Beschluss vom ist der Rechtsstreit auf die Einzelrichterin übertragen worden.

Dem Gericht hat die Kindergeldakte (eAkte) vorgelegen.

Gründe

I. Die Entscheidung ergeht gem. § 6 Finanzgerichtsordnung - FGO - durch die Einzelrichterin.

II. Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom , zuletzt geändert durch Teilabhilfebescheid vom , ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

1. Zu Unrecht hat die Beklagte die bisherige Kindergeldfestsetzung für die Monate September 2017 bis einschließlich Juli 2018 aufgehoben.

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Klägerin Kindergeld für ihre Tochter A gemäß §§ 62, 63 i.V.m. § 32 Abs. 4 Einkommensteuergesetz - EStG - für den Streitzeitraum September 2017 bis einschließlich Juli 2018 zu.

a) Nach krankheitsbedingtem Abbruch ihrer Ausbildung zur B ist A nicht gemäß § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. a EStG im Streitzeitraum zu berücksichtigen, da A nach Abbruch ihrer Ausbildung nicht mehr i. S. von § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. a EStG für einen Beruf ausgebildet wurde.

b) A ist aber nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. c EStG zu berücksichtigen. Gemäß § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. c EStG wird ein Kind berücksichtigt, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen kann. So liegt der Fall hier.

Für die Berücksichtigung als Kind ohne Ausbildungsplatz im Sinne von § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. c EStG ist es nach der Rechtsprechung erforderlich, dass es dem Kind trotz ernsthafter Bemühungen nicht gelungen ist, eine Berufsausbildung zu beginnen oder fortzusetzen. Neben diesem objektiven Tatbestandsmerkmal erfordert die Regelung des § 32 Abs. 4 Nr. 2 lit. c EStG für die Gewährung von Kindergeld darüber hinaus als subjektives Tatbestandsmerkmal, dass das Kind ausbildungswillig ist. Ausbildungswillig in diesem Sinne sind Kinder, wenn sie für den frühestmöglichen Zeitpunkt eine Berufsausbildung anstreben (vgl. , EFG 2000, 221).

aa) Im Streitfall hat A ihre Ausbildung krankheitsbedingt abgebrochen und sich anschließend durch Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz zur C vom bei D und dem XX um einen Ausbildungsplatz bemüht. Eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Nr. 2 lit. c EStG erfordert ein ernstliches Bemühen um einen Ausbildungsplatz (vgl. , BFH/NV 2004, 473). Es kann offen bleiben, ob unter Berücksichtigung der Erkrankung an ... diese Bewerbungs-Bemühungen von A als ernstlich einzuordnen sind.

bb) Eine Berücksichtigung ist jedenfalls auch dann möglich, wenn das Kind - wie im Streitfall - infolge einer Erkrankung daran gehindert ist, sich ernstlich um eine Berufsausbildung zu bemühen.

Zweck der Vorschrift ist die Gleichstellung der "Kinder ohne Ausbildungsplatz" mit den in Ausbildung befindlichen Kindern nach § 32 Abs. 4 Nr. 2 lit. a EStG, weil ein Kind nach Nr. 2 lit. c finanziell ebenso abhängig ist und in typisierender Betrachtungsweise davon ausgegangen wird, dass dem Kindergeldberechtigten regelmäßig Unterhaltsaufwendungen in einer Höhe erwachsen, die die Gewährung von Kindergeld rechtfertigen. Nach § 32 Abs. 4 Nr. 2 lit. c EStG soll ein Kind also nicht deshalb benachteiligt werden, weil es trotz ernsthafter Bemühungen - u.U. jahrelang - keinen Ausbildungsplatz findet (, juris - Revision anhängig unter III R 49/18; , juris - Revision anhängig unter III R 42/19). Ein Anspruch auf Kindergeldfestsetzung besteht auch dann, wenn das Kind seine Ausbildung wegen einer Erkrankung unterbrechen muss. Hat ein Kind einen Ausbildungsplatz und ist ausbildungswillig, ist aber aus objektiven Gründen zeitweise nicht in der Lage, die Ausbildung fortzusetzen, ist es ebenso zu behandeln wie ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 lit. c EStG zu berücksichtigen ist (, juris). Nichts anderes kann dann gelten, wenn eine Ausbildung wegen einer Erkrankung nicht begonnen oder gesucht werden kann (so auch , juris; , juris). Auch für solche Fälle gilt die Regelung des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 lit. c EStG. Hiervon geht auch die Beklagte aus.

cc) A war ausweislich der ärztlichen Bescheinigung im Streitzeitraum nicht in der Lage, sich um eine Ausbildung zu bemühen bzw. eine Ausbildung zu beginnen.

dd) Das Gericht ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass A im Streitzeitraum ausbildungswillig war.

A bekundete, sie sei auch während ihrer Erkrankung stets davon ausgegangen, eine Ausbildung zu beginnen, sobald dies gesundheitlich möglich werde. Nachdem er ihr zunächst sehr schlecht gegangen sei, habe ihr schließlich unter anderem der Sport zur Besserung der ... beigetragen. Daher sei ihr der Gedanke gekommen, sich im Winter oder Frühjahr 2018 beim XX zu bewerben. Für 2018 habe sie dort keinen Ausbildungsplatz bekommen, man habe ihr aber einen Ausbildungsplatz für 2019 in Aussicht gestellt und ihr zur Verbesserung ihrer Chancen ein Jahr im Bundesfreiwilligendienst angeboten. Um im Jahr 2019 beim XX eine Ausbildung beginnen zu können, habe sie den Bundesfreiwilligendienst dort absolviert. Leider habe sie im Verlaufes des Jahres den Eindruck gehabt, ein anderer Bewerber sei bevorzugt worden, so dass sie sich schließlich um einen Ausbildungsplatz als G bemüht habe. Seit dem absolviere sie nun eine solche duale Ausbildung in einer...

Die Angaben der glaubwürdigen Zeugin A sind glaubhaft, denn sie werden im Wesentlichen von den Mitarbeiterinnen des XX, den Zeuginnen F und E bestätigt.

Beide bekundeten, A habe sich etwa im Frühjahr 2018 um einen Ausbildungsplatz zur C beworben. Für 2018 sei aber im XX nicht ausgebildet worden. Es sei zudem offen gewesen, ob es für 2019 Ausbildungsplätze geben werde. Daher habe man A ein Jahr im Bundesfreiwilligendienst angeboten. Dies sei allerdings weder mit der konkreten Zusage eines Ausbildungsplatzes verbunden gewesen, noch sei die Absolvierung eines Bundesfreiwilligendienstes generell Voraussetzung, um beim XX einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Für 2019 seien nach den Angaben der Zeugin E schließlich Ausbildungsplätze für ..., nicht aber für C angeboten worden. Dies sei für A nicht in Frage gekommen. Die Angaben der glaubwürdigen Zeuginnen E und F sind glaubhaft, da sie im Kern übereinstimmen und beide auf Fragen offen antworteten, Erinnerungslücken einräumten und keine einseitigen Tendenzen offenbar wurden.

A Ausbildungswilligkeit ergibt sich hier nicht nur aus dem Bekunden von A, sie sei während der Erkrankung grundsätzlich gewillt gewesen, eine Ausbildung nach ihrer Genesung zu beginnen. Vielmehr gibt es objektive Tatsachen, die den Schluss auf diesen inneren Willen hier bestätigen. Hier hatte A nicht nur bereits vor der Erkrankung eine Ausbildung begonnen und lediglich krankheitsbedingt abgebrochen, sie hatte darüber hinaus auch während der Erkrankung die Initiative ergriffen und sich noch im Frühjahr 2018 um einen Ausbildungsplatz für den Sommer 2018 beim XX beworben. Als sie feststellte, dass sie dort für 2018 keine Ausbildung beginnen konnte, ihr aber zumindest die Möglichkeit eines Ausbildungsplatzes für 2019 eröffnet wurde, hat sie durch die Ableistung des Bundesfreiwilligendienstes im XX gerade deutlich gemacht, dass sie an einer Ausbildung zur C sehr ernsthaft interessiert war. Insoweit ist es unschädlich, dass ihr keine Zusage für einen Ausbildungsplatz gegeben wurde und auch noch nicht feststand, ob es Ausbildungsplätze geben würde. A hat hierdurch dennoch nachdrücklich gezeigt, dass sie beim XX einen guten Eindruck machen möchte und sich hiervon einen Ausbildungsplatz versprochen hatte. Hieran zeigt sich gerade eine Ausbildungswilligkeit. Anhaltspunkte dafür, dass in einzelnen Monaten des Streitzeitraums die Ausbildungswilligkeit gefehlt haben soll, sind bei einer durchgängigen Ausbildung vor der Erkrankung, eines sich an die Erkrankung zur Chancensteigerung auf einen Ausbildungsplatz absolvierten Bundesfreiwilligendienstes und eine Umorientierung und Neubewerbung um einen Ausbildungsplatz zur G noch während des Bundesfreiwilligendienstes mit anschließender Ausbildung in diesem Beruf nicht ersichtlich.

Aus der Vorlage der Erklärung über die Ausbildungswilligkeit erst im Oktober 2018 folgt nichts anderes. Soweit die Beklagte die rechtzeitige Vorlage einer solchen Erklärung in ihrer Dienstanweisung als Voraussetzung für die Annahme der Ausbildungswilligkeit vorsieht, ist das Gericht an diese Verwaltungsauffassung nicht gebunden. Auch unter Einbeziehung des Umstandes, dass die Erklärung erst im Oktober 2018 vorgelegt wurde, ist das Gericht von einer Ausbildungswilligkeit im gesamten Streitzeitraum überzeugt.

2. Durch die Aufhebung des Bescheids vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom , zuletzt geändert durch Teilabhilfebescheid vom , entfaltet die vorherige Kindergeldfestsetzung vom wieder ihre Wirkung.

3. Aufgrund der Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheids ist auch der Rückforderungsbescheid nicht von § 37 Abs. 2 AO gedeckt und damit rechtswidrig.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 155, 151 Abs. 3 FGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Angesichts der bereits anhängigen Revisionsverfahren III R 42/19 und III R 49/18 wird die Revision zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zugelassen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
EFG 2020 S. 985 Nr. 14
EStB 2020 S. 411 Nr. 10
NWB-Eilnachricht Nr. 27/2020 S. 1982
RAAAH-49196