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FG München Urteil v. - 7 K 774/14 EFG 2016 S. 351 Nr. 5

Erlass von Nachzahlungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit bei freiwilliger Zahlungen vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung

Berechnung des Zinslaufs für fiktive Erstattungszinsen

Leitsatz

1. Nachzahlungszinsen sind aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, soweit der Steuerpflichtige auf die sich aus der Steuerfestsetzung ergebende Steuerzahlungsforderung bereits vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung freiwillige Leistungen erbracht und das FA diese Leistungen angenommen und behalten hat.

2. Bei Anwendung der Vereinfachungsregelung gem. Nr. 70.1.2 S. 2 AEAO zu § 233a AO, die vorsieht, dass Zinsen nur insoweit zu erlassen sind, als die freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist, ist der Tag des Beginns des Zinslaufs der fiktiven Erstattungszinsen (der Tag der freiwilligen Zahlung) in die Berechnung der vollen Monate einzubeziehen.

Gesetze: AO § 233a Abs. 2 S. 2AO § 163AO § 5AO § 108 Abs. 1AEAO Nr. 70.1.2 S. 2 AO § 233aBGB § 187 Abs. 1BGB § 187 Abs. 2

Instanzenzug:

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Tatbestand

Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welchem Umfang der Beklagte (das Finanzamt) verpflichtet ist, gegenüber der Klägerin festgesetzte Nachzahlungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.

Die Klägerin, eine … Aktiengesellschaft …, teilte dem Finanzamt mit Schreiben vom mit, dass aufgrund einer laufenden Betriebsprüfung Körperschaftsteuernachzahlungen in Höhe von voraussichtlich … Euro zu erwarten seien und kündigte eine freiwillige Körperschaftsteuerzahlung in dieser Höhe für die Jahre 1998 bis 2000 an. Auf das Schreiben vom wird Bezug genommen. Der Betrag wurde am auf einem Konto des Finanzamts gutgeschrieben und von diesem angenommen.

Nach Abschluss der Betriebsprüfung erließ das Finanzamt unter dem Datum geänderte Körperschaftsteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und setzte Zinsen nach § 233a Abgabenordnung (AO) wie folgt fest:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998:
… Euro
Zinsen zur Körperschaftsteuer 1999:
… Euro
Zinsen zur Körperschaftsteuer 2000:
… Euro

Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin auf Grundlage von Nr. 70.1.1. Satz 2 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) zu § 233a AO aus sachlichen Billigkeitsgründen u.a. den Erlass von Nachzahlungszinsen zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000 in Höhe von insgesamt … Euro aufgrund der freiwilligen Leistung von … Euro am . Dabei ging sie davon aus, dass Zinsen für 43 volle Monate im Zeitraum bis zu erlassen sind.

Unter dem Datum erließ das Finanzamt Bescheide über eine abweichende Festsetzung der Zinsen zur Körperschaftsteuer für 1998, 1999 und 2000 aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO. Abweichend von dem Antrag der Klägerin wurde der erlassfähige Betrag aufgrund der Zahlung am in Höhe von … Euro auf Grundlage von 42 vollen Monaten ermittelt. Statt des beantragten Erlasses in Höhe von … Euro errechnete das Finanzamt insoweit einen erlassfähigen Betrag von … Euro (Differenz: … Euro).

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Sie brachte vor, dass aufgrund der freiwilligen Zahlung die festgesetzten Nachzahlungszinsen um fiktive Erstattungszinsen für 43 Zinsmonate an Stelle der gewährten 42 Zinsmonate zu mindern sein. Die Fristberechnung für fiktive Erstattungszinsen sei in Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO detailliert geregelt. Nach den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO beginne der fiktive Zinslauf am Tag der Zahlung selbst – im Streitfall am – und nicht erst am folgenden Tag. Er endete mit der Bekanntgabe der Steuerfestsetzung am .

Nach Hinweis des Finanzamts, dass mit (BStBl I 2012, 83) zur Änderung des AEAO der Beginn des fiktiven Zinslaufes in den Beispielen 14 und 15 abgeändert worden sei und der Tag der Zahlung bei Berechnung des fiktiven Zinslaufs nicht mehr in die Fristberechnung einbezogen werde, brachte die Klägerin vor, dass die nachträgliche Änderung des AEAO für die Vergangenheit einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstelle.

Der Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom ). Das Finanzamt hielt daran fest, dass die Frist für die Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen – in deren Höhe die Nachzahlungszinsen zu erlassen seien – erst am Tag nach der freiwilligen Leistung – hier am – beginne. Denn für den Beginn der Frist sei ein Ereignis maßgebend, nämlich die Leistung der freiwilligen Zahlung. Gemäß § 108 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) werde in diesen Fällen bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet, in welchen das Ereignis fällt. Da der Zinslauf unstreitig am endete, sei der 43. Monat genau um einen Tag nicht vollendet. Die Klägerin habe nach dem Grundsatz von Treu und Glauben keinen Anspruch auf die Anwendung des ursprünglich in den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO enthaltenen falschen Fristbeginns. Für den Fall von freiwilligen Zahlungen von Steuerforderungen vor Festsetzung der Steuern seien in den Nummern 70.1.1 und 70.1.2 AEAO zu § 233a AO ermessenslenkende Regeln aufgestellt worden. Das dort ursprünglich in den Beispielen enthaltene Datum des Fristbeginns hätte eindeutig den gesetzlichen Regelungen zur Fristberechnung des § 108 AO i.V.m. §§ 187, 188 BGB widersprochen. Das vom Finanzamt auszuübende Ermessen werde aber grundsätzlich durch Recht und Gesetz begrenzt. Hieraus folge zwingend, dass das Finanzamt, nachdem es den in den Beispielen enthaltenen Fehler erkannt hatte, sein Ermessen nur in der durchgeführten Weise ausüben durfte. Da sich vorliegend durch die Änderung des AEAO am nicht die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift geändert habe, sondern es sich lediglich um eine Anpassung an schon immer geltende gesetzliche Regelungen handelte, könne sich die Klägerin auch nicht auf eine schutzwürdige Vertrauensposition berufen.

Die Klägerin begründet ihre Klage im Wesentlichen wie folgt:

Die Regelung des § 187 Abs. 1 BGB sei nicht anwendbar. Unter einer Frist i.S. des § 108 AO i.V.m. §§ 187 ff BGB sei ein abgegrenzter, bestimmter oder jedenfalls bestimmbarer Zeitraum zu verstehen. Da im vorneherein nicht absehbar ist, wann die Steuerfestsetzung wirksam i.S. des § 233a Abs. 2 Satz 3 AO wird, handele es sich nicht um eine Frist im vorgenannten Sinne, so dass die §§ 187 ff BGB nicht anwendbar seien. Selbst wenn man von einer Frist i.S. des BGB ausgehe, wäre es – entgegen der Auffassung des Finanzamts – keine Frist gemäß § 187 Abs. 1 BGB, sondern eine solche nach § 187 Abs. 2 BGB, so dass der Tag der Zahlung mitgerechnet wird.

Nichts anderes ergebe sich aus dem Sinn und Zweck des § 233a AO. Zinsen nach § 233a AO seien eine laufzeitabhängige Gegenleistung für eine mögliche Kapitalnutzung. Dementsprechend seien festgesetzte Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn zweifelsfrei feststehe, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hatte. Wenn die freiwillige Leistung auf dem Konto der Finanzverwaltung gutgeschrieben wurde, stehe fest, dass ihr ab diesem Tag – und nicht erst ab dem Folgetag – die mögliche Kapitalnutzung zustehe und zum anderen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr über den entsprechenden Betrag verfügen und somit keinen Vorteil mehr erlangen könne.

Die Verwaltungsakte vom über die teilweise Ablehnung des Erlasses von Zinsen nach § 233a AO zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000 hätten ohne jede Begründung nicht den Beispielen 14 und 15 der Nr. 70.1.2. AEAO zu § 233a AO in der seinerzeit geltenden Fassung entsprochen. Hiernach wären die fiktiven Erstattungszinsen ab dem Tag der Zahlung der freiwilligen Leistung zu berechnen gewesen. Erst in der Einspruchsentscheidung vom habe das Finanzamt in Übereinstimmung mit den – mittlerweile entsprechend geänderten – Beispielen 14 und 15 der Nr. 70.1.2. AEAO zu § 233a AO beschieden. Die dort vorgesehene Nichtberücksichtigung des Tages der Gutschrift der freiwilligen Leistung widerspreche einer sachgerechten Ermessenausübung. Vielmehr entspreche die ursprüngliche Version der Beispiele der Rechtslage, die auch vom Bundesfinanzhof in seinen Urteilen vom (X R 22/11 und X R 23/11) geteilt werde.

Die Klägerin beantragt,

das Finanzamt zu verpflichten, die Bescheide über die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend abzuändern, dass die Zinsfestsetzung um weitere Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998 in Höhe von … Euro, zur Körperschaftsteuer 1999 in Höhe von … Euro und zur Körperschaftsteuer 2000 in Höhe von … Euro herabgesetzt wird, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Das Finanzamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergebe sich aus den BFH-Urteilen vom nicht, dass der Eingang der freiwilligen Zahlung bei der Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen mit einzurechnen ist. Streitgegenstand dieser Verfahren sei gewesen, ob es rechtlich zulässig ist, die in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO genannten fiktiven Erstattungszinsen nur nach vollen Monaten zu berechnen. Nach Auffassung des BFH sei es nicht zu beanstanden, wenn der Erlass der Zinsen nur für volle Monate zwischen der Annahme der Zahlung durch das Finanzamt und der Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erfolge. Zudem habe der BFH auch festgestellt, dass die ermessenslenkende Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO eine sachgerechte Ermessensausübung gewährleistet, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens wahrt und von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht. In der im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung maßgeblichen Fassung des AEAO hätten die Beispiele 14 und 15 bereits den Tag nach Eingang der freiwilligen Zahlung als Beginn des Zinslaufes vorgesehen. Da die Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen im Streitfall entsprechend dieser Beispiele erfolgt sei, sei sie nicht zu beanstanden.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, auf die vorgelegten Unterlagen und Akten, sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf den begehrten weiteren Erlass der Nachzahlungszinsen. Die Erhebung der streitgegenständlichen Nachforderungszinsen in Höhe von insgesamt … Euro ist unbillig im Sinne des § 163 AO.

1. Nach 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Vorschrift des § 163 AO ist auf Zinsen entsprechend anzuwenden (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO).

a) Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen i.S. des § 163 AO ist eine Ermessensentscheidung (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFH/NV 1992, 787), die gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Zu prüfen ist daher bei einer Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduktion auf Null). Ist nur die Gewährung der Billigkeitsmaßnahme ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zur Billigkeitsmaßnahme – hier der abweichenden Zinsfestsetzung – aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. , BStBl II 2006, 155 und vom X R 3/10, BFH/NV 2014, 5).

b) Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. , BStBl II 2006, 155 m.w.N.). Hingegen können Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, einen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen. Die generelle Geltungsanordnung des Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden. Dies gilt auch für den Erlass bzw. eine abweichende Festsetzung nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (, BStBl II 2004, 39, unter II.2.a).

c) Hat die Finanzverwaltung in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien – hier Nr. 70.1 AEAO zu § 233a AO – erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen und ob sich die Behörden an die Richtlinie gehalten haben (, BStBl II 2006, 466, unter II.1.). Derartige Verwaltungsanweisungen dürfen nicht wie Gesetze ausgelegt werden, sondern beziehen ihre Reichweite allein aus dem Verständnis der Verwaltung. Maßgeblich ist deshalb nicht, wie die Gerichte die Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie sie die Verwaltung verstanden hat und verstanden wissen wollte (, BFH/NV 2011, 1828, m.w.N.). Der Senat darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur prüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (, BStBl II 2006, 466, m.w.N.).

2. Bei Anwendung dieser Prüfungsmaßstäbe gewährleistet die ermessenslenkende Verwaltungsanweisung der Nr. 70.1.2 Satz 2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO – so wie sie die Finanzverwaltung nach Änderung der Beispiele 14 und 15 mit (BStBl I 2012, 83) im Hinblick auf die Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen versteht und verstanden wissen will – keine sachgerechte Ermessensausübung.

a) Die Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.1 AEAO zu § 233a AO – auf die das Finanzamt im Streitfall seine Ermessensentscheidung gestützt hat – sieht vor, dass Zinsen nach § 233a AO auch dann festzusetzen sind, wenn vor Festsetzung der Steuer freiwillige Leistungen erbracht werden. Nachzahlungszinsen sind aber aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, soweit der Steuerpflichtige auf die sich aus der Steuerfestsetzung ergebende Steuerzahlungsforderung bereits vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung freiwillige Leistungen erbracht und das Finanzamt diese Leistungen angenommen und behalten hat. Nachzahlungszinsen sind daher nur für den Zeitraum bis zum Eingang der freiwilligen Leistung zu erheben (Nr. 70.1.2 Satz 1 AEAO zu § 233a AO). Wurde die freiwillige Leistung erst nach Beginn des Zinslaufs erbracht oder war sie geringer als der zu verzinsende Unterschiedsbetrag, sind Nachzahlungszinsen gem. Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO aus Vereinfachungsgründen insoweit zu erlassen, als die auf volle fünfzig Euro abgerundete freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist (fiktive Erstattungszinsen). In den nachfolgenden Beispielen Nr. 14 und 15 zur Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen ging die Finanzverwaltung zunächst davon aus, dass der fiktive Zinslauf am der Tag der Erbringung der freiwilligen Leistung beginnt. Die Beispiele wurden mit (BStBl I 2012, 83) dahingehend abgeändert, dass der fiktive Zinslauf erst am Tag nach der Erbringung der freiwilligen Leistung beginnt.

b) Der BFH hat sich im Urteil vom (X R 23/11, BFH/NV 2014, 660) mit der ermessenslenkenden Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO befasst. Die im jetzigen Verfahren streitige Frage der Berechnung des auf volle Monate begrenzten Zinslaufs und die hierzu von der Verwaltung gebildeten Beispiele 14 und 15 bzw. ihre Änderung waren nicht Gegenstand der Entscheidung. Der BFH kam zu dem Schluss, dass die Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO eine sachgerechte Ermessenausübung gewährleistet, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens wahrt und von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht:

aa) Zweck der Regelungen in § 233a AO zur Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ist die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Hiervon ausgehend, ist für einen Ausgleich in Form der Verzinsung einer Steuernachforderung gemäß § 233a AO kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hat (, BStBl II 1996, 503). Festgesetzte Nachzahlungszinsen sind dann wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen. Diesem Zweck wird die Regelung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO gerecht (, BFH/NV 2014, 660).

bb) Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO entspricht diesem Zweck auch bei der Art der Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen. Durch die freiwillige Leistung vor Steuerfestsetzung entsteht eine Situation, die derjenigen für Erstattungszinsen vergleichbar ist. Ein Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe vergleichbar berechneter Erstattungszinsen – wie ihn Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO vorsieht – ist deshalb eine mögliche Ermessensausübung (, BFH/NV 2014, 660).

(1) Die freiwillige Leistung der rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten Steuer hat zur Folge, dass die Steuer vom Zeitpunkt der Zahlung bis zu ihrer Festsetzung überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen. Dann ist es sachgerecht, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag berechnet werden (sog. „fiktive Erstattungszinsen”) und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe dieser „fiktiven Erstat-tungszinsen” die Nachzahlungszinsen reduziert werden.

(2) Wegen der Vergleichbarkeit der „fiktiven Erstattungszinsen” mit den gesetzlich geregelten Erstattungszinsen hat es der BFH in seinem Urteil vom (Az.: X R 23/11, BFH/NV 2014, 660) als folgerichtig angesehen, dass Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO vorsieht, dass sich die Art der Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen” an den gesetzlichen Regelungen der Erstattungszinsen orientiert. So beginnt die Verzinsung von Steuererstattungen gemäß § 233a Abs. 3 Satz 3 2. HS AO (frühestens) mit dem Tag der Zahlung und endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO). Entsprechend beginnt der (fiktive) Zinslauf der „fiktiven Erstattungszinsen” nach dem Wortlaut der Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO mit Erbringung (Zahlung) der freiwilligen Leistung und endet mit Wirksamkeit der Steuerfestsetzung. § 238 Abs. 1 Satz 2 AO begrenzt die Verzinsung auf volle Monate. Entsprechend konnte die Finanzverwaltung aus Vereinfachungsgründen in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO regeln, dass „fiktive Erstattungszin-sen” nicht taggenau, sondern (nur) für volle Monate zu berücksichtigen sind (, BFH/NV 2014, 660).

c) Allerdings hat die Finanzverwaltung durch Änderung der Beispiele 14 und 15 zum Ausdruck gebracht, dass sie die ermessenlenkende Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO nunmehr dahingehend verstanden haben will, dass der fiktive Zinslauf nicht mit dem Tag der Erbringung (Zahlung) der freiwilligen Leistung beginnt, sondern erst am folgenden Tag. Diese Auslegung der Verwaltungsanweisung durch die Finanzverwaltung stellt keine sachgerechte Ermessensausübung dar. Sie steht im Widerspruch zu der von der Finanzverwaltung selbst gewählten Ausgestaltung der Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO, die sich erkennbar und sachgerecht an den gesetzlichen Regelungen der Erstattungszinsen orientiert. Da der Zinslauf der gesetzlichen Erstattungszinsen (frühestens) mit dem Tag der Zahlung beginnt (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO), kann für den Fall der freiwilligen Leistung nicht anderes gelten.

d) Dem folgend ist der Tag des Beginns des Zinslaufs der fiktiven Erstattungszinsen (der Tag der freiwilligen Zahlung) – bei Anwendung der Vereinfachungsregelung, die vorsieht, dass Zinsen nur insoweit zu erlassen sind, als die freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist – in die Berechnung der vollen Monate einzubeziehen. Für die gesetzlich geregelten Erstattungszinsen folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der Regelung des § 238 Abs. 1 Satz 2 AO. Nach § 238 Abs. 1 Satz 2 AO sind Zinsen von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen. Die Formulierung „von dem Tag an…” bringt zum Ausdruck, dass der Beginn des Tages für den Anfang der Frist maßgebend ist (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 238 Rz. 5; , BStBl II 1997, 6). Folgt man dagegen der im Schrifttum vertretenen Auffassung, dass die Zeiteinheit „Monat” nicht anhand des jeweiligen Zinstatbestandes i.V.m. § 238 Abs. 1 AO zu bestimmen ist, sondern dass gemäß § 108 Abs. 1 AO die § 187 ff BGB jedenfalls entsprechend anzuwenden sind (vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO, § 238 Rz. 4), dann gilt für den Fristbeginn § 187 Abs. 2 BGB – und nicht 187 Abs. 1 BGB –, so dass der Tag des Fristbeginns bei der Berechnung der Frist mitgerechnet wird. Entsprechend ist bei der Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen” der Tag der Zahlung der freiwilligen Leistung in die Berechnung des vollen Monats einzubeziehen. Hier kann nichts anderes gelten, da die Regelung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO erkennbar an die Vorschrift des § 238 Abs. 1 Satz 2 AO anknüpft („für volle Monate”).

e) Im Streitfall war daher der Tag des Eingangs der Zahlung der Klägerin auf dem Konto des Finanzamts – der – bei Berechnung der vollen Monate mitzurechnen. Ein voller Zinsmonat ist erreicht, wenn der Tag, an dem der Zinslauf endet, hinsichtlich seiner Zahl dem Tag entspricht, der dem Tag vorhergeht, an dem die Frist begann (, BStBl 1997 I, 6 zu § 238 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Frist endete unstreitig mit Ablauf des , dem Tag des Wirksamwerdens der geänderten Körperschaftsteuerbescheide 1998 bis 2000 (§§ 124 Abs. 1 Satz 1, 122 AO). Somit liegen 43 volle Zinsmonate vor, da der Tag, an dem der Zinslauf endete (), hinsichtlich seiner Zahl dem Tag entspricht, der dem Tag vorhergeht, an dem die Frist begann ().

3. Im Streitfall ist nur die Gewährung der von der Klägerin begehrten Billigkeitsmaßnahme ermessensgerecht. Nur sie gewährleistet, dass die im Rahmen der Billigkeitsentscheidung vorzunehmende Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen” entsprechend der gesetzlichen Regelung des § 233a Abs. 3 Satz 3 2. HS AO zutreffend vorgenommen wird. Das Gericht kann daher gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zur Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO in der von der Klägerin begehrten Höhe aussprechen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 AO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

5. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

Fundstelle(n):
EFG 2016 S. 351 Nr. 5
QAAAF-66331