Kinder/Behinderung
Gendefekt als Behinderung
Leitsatz
Ein Kind mit einem angeborenen Gendefekt (hier Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert) ist auch dann als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen, wenn die behinderungsbedingte Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten, erst nach dem 27. Lebensjahr eingetreten ist.
Gesetze: EStG § 62 Abs 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 32 Abs 4
Instanzenzug: , BFH XI R 8/17
Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist nicht rechtskräftig
Tatbestand
Der Kläger begehrt für seine am ….08.1968 geborene Tochter A die Gewährung von Kindergeld.
Frau A leidet an einer Muskelerkrankung im Sinne einer so genannten Myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert (MD). Hierbei handelt es sich um eine erbliche Muskelerkrankung, bei der es zu einer langsam fortschreitenden Abnahme der Muskelkraft bei gleichzeitigem Vorliegen von so genannten myotonen Phänomenen kommt. Als myotone Phänomene bezeichnet man das Auftreten von Muskelsteifigkeit, z.B. beim festen Zupacken. Erste Symptome dieser Krankheit traten bei Frau A bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren auf. So gab es Probleme beim Laufen sowie beim Aufstehen aus der Hocke und es traten gelegentlich Versteifungen in ihrer Handmuskulatur auf, wenn z.B. jemand ihr ganz fest die Hand gedrückt hat. Die Erkrankung wurde aber zunächst nicht erkannt, Behandlungsversuche z.B. durch einen Orthopäden blieben erfolglos. Diagnostiziert wurde die Krankheit erst 1998, als eine Cousine von Frau A ein stark behindertes Kind zur Welt brachte und sich daraufhin mehrere Familienmitglieder, unter anderem auch sie, einer gentechnischen Untersuchung unterzogen. In den folgenden Jahren verstärkten sich die Symptome, insbesondere die Muskelschwäche in den Beinen, so dass sie z.B. das von ihr hobbymäßig betriebene Tennisspielen wegen Stürze beim Laufen einstellen musste. Ihr seit dem ….06.2005 gültiger Schwerbehindertenausweis weist seit dem ….03.2009 einen Grad der Behinderung von 100% verbunden mit den Merkzeichen G und aG aus, bis dahin einen Grad der Behinderung von 50% verbunden mit den Merkzeichen G.
Frau A ist gelernte Bürokauffrau. Sie war bis zum ….05.2010 bei der Firma B, zuletzt im Empfang beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis endete – wie das von fast allen in der Firma beschäftigten Behinderten – durch eine betriebsbedingte Kündigung. Die in der Folgezeit unternommenen Bewerbungen führten im September 2011 zu einer Einstellung bei der Firma G. Dort wurde ihr nach sieben Tagen gekündigt, weil sie – so ihr Vortrag – die ihr übertragenen Aufgaben aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht habe erfüllen können. Im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme wurde ihr die Stellung eines Rentenantrags empfohlen, infolgedessen ihr durch Bescheid vom rückwirkend ab eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt wurde. Bis auf eine in der Zeit vom ….08.2012 bis zum ….08.2013 im Rahmen des „Generationsübergreifenden Freiwilligendienstes” der K ausgeübte freiwillige soziale Tätigkeit, für die sie eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 165 € erhielt, ist Frau A seitdem nicht mehr beruflich tätig.
Mit Antrag vom begehrte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für seine Tochter für die Zeit ab Januar 2010. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom ab mit der Begründung, dass die Behinderung der Tochter nicht, wie von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gefordert, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück. Der Zustand der Behinderung sei bei der Tochter des Klägers wesentlich später als mit 27 Jahren eingetreten. Zwar sei sie mit einem Gendefekt geboren, dieser habe aber erst wesentlich später zu einer Behinderung im Sinne der genannten Vorschrift mit der Folge einer Beeinträchtigung der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft geführt.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der der Kläger geltend macht, dass es sich bei der Erkrankung seiner Tochter um einen Gendefekt handele, der von Geburt an vorgelegen habe. Er sei lediglich erst später diagnostiziert worden. Damit sei im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten. Lediglich die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sei erst später eingetreten.
Im Rahmen des Erörterungstermins vom ….11.2016 haben die Beteiligten dahingehend Übereinstimmung erzielt, dass die vom Gericht aufgrund der Unterlagen des Klägers für die einzelnen streitbefangenen Monate erstellte Aufstellung über den notwendigen Lebensbedarf der Tochter sowie die kindeseigenen Mittel bezogen auf die einzelnen Monate zutreffend Überhang bzw. Unterdeckung ausweist. Sie stimmen außerdem aufgrund der Schilderung von Frau A dahingehend überein, dass, soweit sich in den einzelnen Monaten Unterdeckungen ergeben, diese ab Juni 2011 ursächlich durch die Behinderung bedingt sind. Der Kläger hat daraufhin die Klage für die Monate vor Juni 2011 sowie für die Monate, in denen in der Folgezeit die kindeseigenen Mittel den notwendigen Lebensbedarf überstiegen haben, zurückgenommen.
Der Kläger beantragt daher nunmehr,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom und der Einspruchsentscheidung vom zu verpflichten, ihm für seine Tochter A Kindergeld in gesetzlicher Höhe für die Monate Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie vertritt weiterhin die Ansicht, dass die Behinderung von Frau A nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Zwar handele es sich bei der Myotonen Dystrophie um einen angeborenen Gendefekt. Dieser Gendefekt habe jedoch erst viele Jahre nach Vollendung des 25. Lebensjahres zu einer Behinderung im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG geführt. Schließlich habe die Muskelschwäche vor allem in den Beinen erst ab dem 35. Lebensjahr zu einer zunehmenden Einschränkung geführt. Außerdem sei Frau A bis zum ….05.2010 in Vollzeit erwerbstätig gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Beklagte hat dem Kläger zu Unrecht das Kindergeld für seine Tochter in den noch streitverbliebenen Monaten verwehrt.
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch –SGB IX–). Der Nachweis der Behinderung kann dabei nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 SGB IX sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form wie beispielsweise durch Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden (, BFH/NV 2013, 1409).
Die Tochter des Klägers ist behindert im vorgenannten Sinne. Bedingt durch die ererbte Krankheit (Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert) führt insbesondere die hierdurch bewirkte Muskelschwäche in den Beinen dazu, dass ihre Gehfähigkeit und damit ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dauerhaft beeinträchtigt ist. Dies wird vor allem durch ihren seit dem ….06.2005 gültigen Schwerbehindertenausweis belegt, der seit dem ….03.2009 einen Grad der Behinderung von 100% verbunden mit den Merkzeichen G und aG ausweist. Dies wird von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt.
In den vorliegend streitigen Monaten war die Tochter des Klägers zudem außerstande, sich selbst zu unterhalten. Dies ergibt sich aus der vom Gericht erstellten und den Beteiligten mit Verfügung vom übersandten Aufstellung, die für diese Monate einen Überhang der für die Deckung des notwendigen Lebensbedarfs erforderlichen Mittel über die der Tochter des Klägers tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel ausweist. Diese Aufstellung ist mit den Beteiligten im Termin vom ….11.2016 ausführlich erörtert und von ihnen als zutreffend anerkannt worden.
Dieses Unvermögen der Tochter des Klägers, sich selbst zu unterhalten, beruhte in den streitbefangenen Monaten auf ihrer vorstehend dargelegten Behinderung. Hierfür spricht, dass der Tochter des Klägers mit Wirkung ab Oktober 2011 von der Deutschen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden ist und dass sie, wie ihre kurze Tätigkeit bei der Fa. G im September 2011 gezeigt hat, auch bereits davor behinderungsbedingt nicht in der Lage war, den an sie gestellten beruflichen Anforderungen zu genügen. Auch insoweit ist mit den Beteiligten im Erörterungstermin Einvernehmen erzielt worden.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Behinderung der Tochter des Klägers außerdem vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten.
Unstreitig besteht die Erkrankung der Tochter seit ihrer Geburt, da es sich um einen angeborenen Gendefekt handelt. Dies ergibt sich aus dem molekulargenetischen Befund der Universitätsklinik R vom ….09.1998. Die im Rahmen dieses Befundes festgestellte CTG Repeatzahl von 1000 – 1500 liegt nach dem ärztlichen Bericht des Universitätsklinikums M vom ….07.2014 in einem „recht hohen Bereich”, so dass der Verlauf der Erkrankung, wie er sich in den streitbefangenen Monaten darstellt, typisch erscheint. Dies reicht nach Ansicht des erkennenden Senats zur Erfüllung der Voraussetzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 2. Halbs. EStG aus.
Dem steht zum einen nicht entgegen, dass die Krankheit bei der Tochter des Klägers erst nach der Vollendung des 27. Lebensjahres diagnostiziert worden ist. Denn insoweit kommt es auf den objektiven Befund an und nicht auf dessen Kenntnis.
Dem steht zum anderen auch nicht entgegen, dass die Tochter des Klägers vor Vollendung des 27. Lebensjahres nur leichtere Symptome der Krankheit verspürt hat, die sie bis dahin noch nicht wesentlich in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt und die erst im Jahr 2005 zur Zuerkennung eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung von 50% und dem Merkzeichen G geführt haben. Denn nach der Rechtsprechung des BFH muss nur die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein, nicht aber die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt (Urteile vom III R 61/08, BStBl II 2012, 141; vom III R 24/09, BFH/NV 2012, 199). Als Behinderung im Sinne dieser Vorschrift ist im Streitfall der Gendefekt als solcher anzusehen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird zugelassen, da die Frage, ob die Behinderung der Tochter des Klägers im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 2. Halbs. EStG vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
GStB 2017 S. 238 Nr. 7
NWB-Eilnachricht Nr. 13/2018 S. 18
NWB-Eilnachricht Nr. 19/2017 S. 1418
KAAAG-43867