FG Berlin-Brandenburg Urteil v. - 9 K 9235/15 EFG 2018 S. 190 Nr. 3

Kein Zufluss von Arbeitslohn zum Zeitpunkt von Wertgutschriften auf einem Zeitwertkonto des Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH

Leitsatz

1. Auf einer wirksamen schriftlichen Vereinbarung beruhende Wertgutschriften auf einem Zeitwertkonto zugunsten des Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH führen noch nicht zum Zufluss von Arbeitslohn, wenn die Beträge aus der Entgeltumwandlung bei einem Dritten angelegt werden und der Gesellschafter-Geschäftsführer zunächst keinen Anspruch auf die Auszahlung der Versicherungssumme hat, sondern nach den getroffenen Vereinbarungen grundsätzlich erst in der späteren Freistellungsphase sowie nach der Vereinbarung eines Auszahlungsplans mit der GmbH über die angelegten Beträge verfügen kann. Daher führen erst die späteren Auszahlungen aus dem Zeitwertkonto an den Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer bei diesem zu einem Zufluss (vgl. ). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Organstellung des Gesellschafter-Geschäftsführers (entgegen BStBl 2009 I S. 1286).

2. Der steuerliche Begriff des Zeitwertkontos entspricht dem Begriff der Wertguthabenvereinbarung nach § 7b SGB IV. Ein Wertguthaben setzt eine schriftliche Vereinbarung über den Aufbau des Wertguthabens voraus, nach der Arbeitsentgelt, das mit einer vor oder nach der Freistellung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit erbrachten Arbeitsleistung erzielt wird, eingebracht wird, um es für Zeiten der Freistellung aus dem Wertguthaben zu entnehmen (vgl. ).

Gesetze: EStG § 42d Abs. 1 Nr. 1EStG § 11 Abs. 1 S. 1EStG § 11 Ab S. 4 EStG § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1EStG § 38a Abs. 1 S. 2AO § 191 Abs. 1SGB IV § 7b

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob Wertgutschriften auf dem Zeitwertkonto des damaligen Geschäftsführers der Klägerin zum Zufluss von Arbeitslohn geführt haben mit der Folge, dass die Klägerin zeitgleich entsprechende Lohnsteuern sowie Solidaritätszuschläge hierzu beim Beklagten hätte anmelden und an diesen abführen müssen und nunmehr wegen Unterlassens dieser Maßnahmen vom Beklagten durch Erlass zweier Haftungsbescheide nach § 42 d Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) in Anspruch genommen werden kann.

Die Klägerin, ein Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH mit Sitz in C…, wurde durch Vertrag vom (UR-Nr. …/2004 der Notarin B… aus C…) gegründet und kurze Zeit später in das Handelsregister beim Amtsgericht C… eingetragen (HRB …). Satzungsmäßiger Unternehmensgegenstand ist die „Verwaltung von Zeitkonten”. Am Stammkapital der Klägerin in Höhe von insgesamt 35 000,00 EUR waren in der Zeit ab folgende Personen mit folgenden Gesellschaftsanteilen als Gesellschafter beteiligt:


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a)
Herr D…
12 750,00 EUR
b)
Herr E…
10 150,00 EUR
c)
Herr F…
7 000,00 EUR
d)
Herr G…
5 100,00 EUR

In der Zeit vor dem hatte Herr E… ebenfalls nur eine Minderheitsbeteiligung inne.

Alleiniger Geschäftsführer der Klägerin war seit dem der 1963 geborene Herr E…. Gemäß § 1 Abs. 1 und 5 des Geschäftsführervertrags vom vertrat Herr E… die Gesellschaft allein und war bei seiner Tätigkeit an Weisungen seitens der Gesellschafter gebunden. Sein Jahresbruttogehalt betrug 42 000,00 EUR. Er war von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit. Nach § 9 bedurften Änderungen und Ergänzungen des Vertrags der Schriftform.

Am schlossen die Klägerin, vertreten durch Herrn E…, und Herr E… eine schriftlich fixierte Vereinbarung zur Einführung von Zeitwertkonten im Sinne von § 7 b SGB IV. Diese Vereinbarung wurde durch eine weitere schriftliche Vereinbarung vom zwischen der Klägerin, vertreten durch Herrn E…, sowie Herrn E… als Arbeitnehmer ergänzt. Beide Vereinbarungen sollten Herrn E… ermöglichen, durch die Einzahlung eines Teils seines Bruttolohns eine spätere Freistellung von der Arbeitsleistung, z. B. für eine Vorruhestandsregelung, eingehen zu können. Die Höhe des monatlichen Einzahlungsbetrages für die Zeit ab Februar 2009 wurde auf 60,50 EUR festgelegt. Der Betrag setzte sich aus 50,00 EUR Arbeitnehmeranteil und 10,50 EUR Arbeitgeberanteil zusammen. Die Klägerin verpflichtete sich, die Entgeltverzichte zum Zwecke der Rückdeckung und der Sicherung der Wertguthaben an Stelle der Auszahlung unverzüglich auf ein Investmentdepot (Rückdeckungskonto) einzuzahlen.

Zum Zwecke der Rückdeckung schloss die Klägerin im Dezember 2008 mit der H… GmbH, I…-straße, J… einen „Verwaltungs-, Treuhand- und Sicherungsvertrag für Wertguthaben” ab.

Im Jahr 2010 führte der Beklagte bei der Klägerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung betr. die Jahre 2006 bis 2009 durch (vgl. Bericht vom ). Die Prüferin stellte fest, dass die Klägerin die Gutschriften auf dem Zeitwertkonto des Herrn E… keinem Lohnsteuerabzug unterworfen hatte. Sie war der Ansicht, dass bei Arbeitnehmern, die zugleich gesetzliche Vertreter einer Körperschaft seien, bereits die Einbuchung einer Gutschrift auf deren Zweitwertkonto zu einem Lohnzufluss des betreffenden Arbeitnehmers führe und daher dem Lohnsteuerabzug zu unterwerfen sei. Demgemäß sei eine Nachversteuerung von Arbeitslohn in Höhe von 665,50 EUR (= 11 × 60,50 EUR) für das Jahr 2009 durchzuführen.

Am erließ der Beklagte gegenüber der Klägerin einen auf § 42 d Abs. 1 EStG gestützten Haftungsbescheid ohne Leistungsgebot über insgesamt 295,40 EUR (280,00 EUR Lohnsteuer zuzüglich 15,40 EUR SolZ zur Lohnsteuer). In dem Bescheid ist als Begründung Folgendes ausgeführt: „Sie haften für die festgesetzten Beträge, weil Sie Lohnsteuer in unzutreffender Höhe einbehalten und abgeführt haben. Der Prüfungsbericht vom über die Lohnsteuer-Außenprüfung ist beigefügt. Für die Haftungsbeträge haften Sie gemäß § 42 d Abs. 1 EStG … Sie werden als Haftender neben den Arbeitnehmern in Anspruch genommen, weil ein Haftungsausschluss nicht vorliegt. Ein Leistungsgebot (Zahlungsaufforderung) ergeht derzeit nicht, weil für die angegebenen Beträge vorrangig die Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden. Der Erlass eines Leistungsgebots bleibt für den Fall vorbehalten, dass die Steuererhebung bei den Arbeitnehmern nicht möglich ist. Es wird darauf hingewiesen, dass das Leistungsgebot nicht mehr mit Einwendungen angegriffen werden kann, die sich gegen den Haftungsbescheid richten.”

Unter Berufung auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) erließ das Finanzamt K… als Wohnsitzfinanzamt der Eheleute E… gegenüber diesen am einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2009, mit dem die Steuer unter Berücksichtigung von zusätzlichem Arbeitslohn des Ehemannes in Höhe von 665,50 EUR auf 20 662,00 EUR statt bisher 20 431,00 EUR festgesetzt wurde. Der hiergegen gerichtete Einspruch der Eheleute E… blieb erfolglos und wurde vom Finanzamt K… durch Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurückgewiesen. Daraufhin erhoben die Eheleute E… hiergegen Klage zum FG Berlin-Brandenburg, die beim Senat unter dem Aktenzeichen 9 K 9031/16 anhängig ist.

Mit Wirkung zum wurde der 1986 geborene Herr L… aus C… zum weiteren Geschäftsführer der Klägerin bestellt. Herr L… war kein Gesellschafter der Klägerin.

Am schlossen die Klägerin, vertreten durch Herrn E… sowie die Gesellschafter D…, G… und F…, und Herr E… einen neuen „Anstellungsvertrag als Geschäftsführer” ab. Darin heißt es u. a.: „§ 1 Pflichten des Geschäftsführers: Der Geschäftsführer ist Mitglied der Geschäftsleitung und führt zusammen mit dem stellvertretenden Geschäftsführer die Geschäfte der Gesellschaft. Er hat die verantwortliche Leitung der ihm im Rahmen des Geschäftsverteilungsplanes zugewiesenen Geschäftsbereiche und vertritt die Gesellschaft nach Maßgabe des Gesetzes, des Gesellschaftsvertrages, dieses Anstellungsvertrages und der Weisungen der Gesellschafter. …”

Im Jahr 2015 führte der Beklagte bei der Klägerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung für die Jahre 2011 bis 2014 durch (vgl. Bericht vom ). Die Prüferin ermittelte nachzuversteuernde Arbeitslöhne des Herrn E… in Höhe von jeweils 726,00 EUR pro Jahr (12 × 60,50 EUR). Außerdem ermittelte sie einen als Arbeitslohn nachzuversteuernden Kindertagesstätte-Kostenvorschuss im Jahr 2011 in Höhe von 228,69 EUR.

Am erließ der Beklagte gegenüber der Klägerin einen auf § 42 d Abs. 1 EStG gestützten Haftungsbescheid ohne Leistungsgebot über insgesamt 1 387,31 EUR für die Jahre 2011 bis 2014 (1 315,00 EUR LSt sowie 72,31 EUR SolZ zur LSt). Im selben Bescheid wurde der Vorbehalt der Nachprüfung in Bezug auf die Lohnsteueranmeldungen der Klägerin für die Zeit von Januar 2011 bis Dezember 2014 aufgehoben. Die Begründung der Haftungsinanspruchnahme entspricht inhaltlich der Begründung im Haftungsbescheid vom .

Sowohl gegen den Haftungsbescheid vom als auch gegen den Haftungsbescheid vom legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein. Zur Begründung machte sie geltend, dass gemäß Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom , Bundessteuerblatt (BStBl) I 2009, 1286, grundsätzlich weder die Vereinbarung der Einrichtung eines Zeitwertkontos noch die spätere Wertgutschrift durch den Arbeitgeber auf diesem Konto zu einem Zufluss von Arbeitslohn im Sinne von § 11 EStG führe. Bei Organen von Körperschaften solle nach dem BMF-Schreiben etwas anderes gelten, was aber durch § 11 EStG nicht gedeckt sei. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von Angestellten mit und ohne Organfunktion sowie in Bezug auf andere nachgelagerte Versteuerungsmöglichkeiten (z. B. bei der betrieblichen Altersversorgung), bei denen die gesetzlichen Bestimmungen gleichermaßen für Angestellte mit und ohne Organfunktion gelten würden, sei die Rechtsauffassung des BMF abzulehnen.

Mit Einspruchsentscheidung vom wies der Beklagte die Einsprüche gegen die beiden Haftungsbescheide als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Vorrangig erfolge zwar grundsätzlich die Realisierung des Steueranspruchs im Rahmen des Auswahl- und Entschließungsermessens beim Arbeitnehmer über die Einkommensteuerveranlagung. Es werde jedoch einvernehmlich aufgrund des langen Zeitablaufs nicht mehr auf die Entscheidung des Wohnsitz-Finanzamtes des Herrn E… hinsichtlich der Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 2011 bis 2014 gewartet.

Gemäß BStBl I 2009, 1286, würden grundsätzlich weder die Vereinbarung eines Zeitwertkontos noch die Wertgutschrift auf diesem Konto zum Zufluss von Arbeitslohn führen. Erst die Auszahlung des Guthabens während der Arbeitsfreistellung löse den Zufluss von Arbeitslohn und damit eine Besteuerung aus. Vereinbarungen über die Einrichtung von Zeitwertkonten bei Arbeitnehmern, die zugleich als Organ einer Körperschaft bestellt seien – z. B. bei Geschäftsführern einer GmbH – seien jedoch mit dem Aufgabenbild des Organs einer Körperschaft nicht vereinbar. Infolgedessen führe in diesen Fällen bereits die Gutschrift des künftig fällig werdenden Arbeitslohns auf dem Zeitwertkonto zum Zufluss von Arbeitslohn. Dies resultiere u. a. daraus, dass die Bestellung des Organs einer Körperschaft nicht dem Kündigungsschutz unterliege, sondern frei ausgehandelt werde. Es bestehe zudem bei diesem Personenkreis keine planbare Freistellungsphase. Die Freistellung von der Organtätigkeit sei gleichbedeutend mit der Beendigung der Organstellung.

Die Ausübung des Auswahlermessens sei nicht zu beanstanden. Dass vorrangig der Arbeitnehmer als Schuldner der Lohnsteuer in Anspruch zu nehmen sei, sei dadurch berücksichtigt worden, dass die beiden streitgegenständlichen Haftungsbescheide jeweils ohne Leistungsgebot ergangen seien.

Zur Begründung ihrer hiergegen gerichteten Klage vertieft die Klägerin im Wesentlichen ihr Vorbringen aus den beiden Einspruchsverfahren. Die Rechtsauffassung des BMF gemäß Schreiben vom sei durch § 11 EStG nicht gedeckt. Der Gesetzgeber habe insoweit keine Beschränkung der Vertragsfreiheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorgenommen. Auch unter dem Gesichtspunkt einer Gleichbehandlung von Angestellten mit Organfunktion und ohne Organfunktion sowie in Bezug auf andere nachgelagerte Versteuerungsmöglichkeiten, z. B. bei der betrieblichen Altersversorgung, bei der die Regelungen für beide Gruppen von Arbeitnehmern gleichermaßen gelten würden, sei die Auffassung des BMF nicht sachgerecht und nicht begründbar.

Die Erlangung oder der Verlust der Organstellung würden für das Zeitwertguthaben eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber überhaupt keine Rolle spielen. Auch die Behauptung, es würde bei den Organ-Arbeitnehmern keine planbare Freistellungsphase geben, sei unzutreffend.

Die Auffassung des BMF werde in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung nicht geteilt, auch dann nicht, wenn der Arbeitnehmer beherrschender Gesellschafter-Geschäftsführer sei (Hinweis auf rkr. Urteil des , Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 1243, [vom BFH aus anderen Gründen aufgehobenes] Urteil des Niedersächs. , EFG 2012, 1397, [vom BFH inzwischen aufgehobenes] , EFG 2012, 1400; [aus anderen Gründen vom BFH aufgehobenes] , juris). Denn durch die Vereinbarung über die Ansammlung von Zeitwertguthaben auf einem Zeitwertkonto würden die zur Einzahlung bestimmten Geldbeträge gegenüber dem begünstigten Arbeitnehmer noch nicht fällig.

Die Klägerin beantragt,

  1. den Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben,

  2. den Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom insoweit aufzuheben, als es die Lohnsteuer für die Zeitwertkonten (Arbeitslohn in Höhe von 726,00 EUR p. A.) betrifft,

  3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist im Wesentlichen auf seine Ausführungen in der angefochtenen Einspruchsentscheidung.

Dem erkennenden Senat haben bei seiner Entscheidung die Akte 9 K 9031/16 des FG Berlin-Brandenburg und eine dazugehörige Rechtsbehelfsakte des Finanzamts K… (StNr.: …) sowie drei Bände Steuerakten des Beklagten betr. die Klägerin (StNr.: …) vorgelegen, auf deren Inhalt wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Beteiligtenvorbringens Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe

A. Die Klage ist begründet.

I. Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom

Der Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der FinanzgerichtsordnungFGO –).

1. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes – BFH – ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. , Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes – BFH/NV – 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 Abs. 1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist allein die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung).

2. Zu Unrecht hat der Beklagte angenommen, dass in der Person der Klägerin der objektive Haftungstatbestand gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt sei.

Gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat.

Im vorliegenden Fall war die Klägerin im Kalenderjahr 2009 nicht verpflichtet, Lohnsteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag hierzu hinsichtlich ihres Arbeitnehmers E… in Bezug auf die streitgegenständlichen monatlichen Gutschriften auf dessen Zeitwertkonto in Höhe von 60,50 EUR einzubehalten und an den Beklagten abzuführen.

Dabei kann die Frage dahinstehen, ob die jeweilige Gutschrift auf dem Zeitwertkonto durch die Klägerin eine verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) zugunsten ihres Gesellschafters E… darstellt oder nicht (für den Fall von Gutschriften auf dem Zeitwertkonto eines beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer bejahend: , BStBl II 2016, 489, FG Rheinland-Pfalz, rkr. Urteil vom 1 K 1381/14, EFG 2017, 420).

Unter einer vGA im Sinne des § 8 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, bei einer Kapitalgesellschaft eine Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung) zu verstehen, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf die Höhe des Unterschiedsbetrages gemäß § 4 Abs. 1 EStG in Verbindung mit § 8 Abs. 1 KStG auswirkt und in keinem Zusammenhang zu einer offenen Ausschüttung steht. Eine Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis wird dabei in der Regel angenommen, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter einen Vermögensvorteil zuwendet, den sie bei der Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einem Nichtgesellschafter nicht gewährt hätte (vgl. , BFH/NV 2004, 736, unter II.1. der Gründe; vom I R 4/04; BFH/NV 2005, 723, unter II. 1. a) der Gründe).

Die Frage kann deshalb dahinstehen, weil das Vorliegen einer vGA beim begünstigten Gesellschafter nicht zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 19 EStG, sondern zu Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) führen würde, bezüglich derer der Erlass eines auf § 42 d EStG gestützten Haftungsbescheids nicht in Betracht kommt.

Aber auch bei evtl. Bejahung von diesbezüglichen Einkünften des Gesellschafter-Geschäftsführers E… aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) fehlt dem angefochtenen Haftungsbescheid eine gesetzliche Grundlage. Denn der im Streitjahr 2009 infolge einer wirksamen Vereinbarung (a) auf dem Zeitwertkonto eingestellte Arbeitslohn ist Herrn E… bislang nicht zugeflossen (b).

a) Der steuerliche Begriff des Zeitwertkontos entspricht dem Begriff der Wertguthabenvereinbarung nach § 7 b SGB IV. Mit Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom (Flexi-I-Gesetz, Bundesgesetzblatt – BGBl. – I 1998, 688) sind erstmalig gesetzliche Regelungen geschaffen worden. Diese sind mit Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom (Flexi-II-Gesetz, BGBl. I 2008, 2940) geändert worden. Ein Wertguthaben setzt eine schriftliche Vereinbarung über den Aufbau des Wertguthabens voraus, nach der Arbeitsentgelt, das mit einer vor oder nach der Freistellung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit erbrachten Arbeitsleistung erzielt wird, eingebracht wird, um es für Zeiten der Freistellung aus dem Wertguthaben zu entnehmen (vgl. dazu allgemein: , EFG 2017, 1585 m. w. N., Revision beim BFH, Az.: VI R 39/17).

Im Streitfall liegt eine derartige schriftliche Vereinbarung in Form des „Vertrags zur Ansammlung und Sicherung von Wertguthaben” vom in Verbindung mit der Zusatzvereinbarung vom vor. Diese Vereinbarungen beruhen auf dem Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelung aus dem Jahr 1998 (BGBl. I 1998, 688), welches für alle Arbeitnehmer, die im Rahmen eines gegenwärtigen Dienstverhältnisses Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen, galt (vgl. dazu allgemein: FG Baden-Württemberg, aaO m. w. N.). Diese Vereinbarungen sind zivilrechtlich wirksam.

b) Ein Zufluss im Sinne des § 11 Abs. 1 EStG ist gegeben, wenn und sobald der Arbeitnehmer wirtschaftlich über die Einnahme verfügen kann. Das ist der Fall, wenn die Einnahme in das Vermögen des Arbeitnehmers übergegangen ist (vgl. Krüger, in: Schmidt, EStG, § 11 Rz. 15). Nach § 11 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. § 38 a Abs. 1 Satz 2 EStG gilt laufender Arbeitslohn in dem Kalenderjahr als bezogen, in dem der Lohnzahlungszeitraum endet. Im Streitfall erfolgte im Streitjahr 2009 weder eine Barauszahlung an Herrn E… noch eine Gutschrift auf einem seiner Bankkonten. Ein Zufluss kann zwar auch in der Zuwendung eines Anspruchs gegen einen Dritten zu sehen sein, wenn gerade diese Leistung geschuldet ist (vgl. Krüger, aaO, § 11 Rz. 16). Im Streitfall stand der in Zweitwertgutschriften umgewandelte Arbeitslohn dem Kläger aber noch nicht zur Verfügung. Die Klägerin hat in eigenem Namen und auf eigene Rechnung bei einem Dritten, der H… GmbH, die Beträge aus der Entgeltumwandlung angelegt. Herr E… hatte nach den versicherungsvertraglichen Bestimmungen zunächst keinen Anspruch auf die Auszahlung der Versicherungssumme. Er konnte ohne Zustimmung der Klägerin nicht über die eingezahlten Beträge wirtschaftlich verfügen. Dies war nach den getroffenen Vereinbarungen grundsätzlich erst in der Freistellungsphase möglich und damit nach der Vereinbarung eines Auszahlungsplans mit der Klägerin. Infolgedessen ist noch nicht die Gutschrift auf dem Zeitwertkonto, sondern erst die Auszahlung aus diesem zu versteuern (so auch FG Baden-Württemberg, aaO; , EFG 2016, 1238, Krüger, aaO, § 19 Anm. 100 „Arbeitszeitkonten”; Bergkemper, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, EStG § 3 Nr. 53 Rz. 1; Kister, in: Herrmann/Heuer/Raupach, aaO, § 11 Anm. 100 „Zeitwertkonten”). Es kommt dadurch zu einem Besteuerungsaufschub (Portner, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2009, 1838; Schwedhelm, Der Betrieb – DB – 2016, 2200, jeweils m. w. N.).

Diese Auslegung entspricht der Gesetzesbegründung, nach der die Steuer auf den Zeitpunkt der Auszahlung von Entgelt aus dem Wertguthaben aufzuschieben ist (BT-Drucks. 16/10289; BT-Drucks. 16/11108, 11), sowie der Rechtsprechung zur Altersteilzeit, nach der der Arbeitnehmer während der Arbeitsphase Entgelte erarbeitet, die für die spätere Freistellungsphase angespart und bei Auszahlung in der Freistellungsphase versteuert werden, sofern keine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses eintritt (vgl. dazu nur VI R 26711, BStBl II 2012, 415).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Organstellung des Herrn E… (entgegen BStBl I 2009, 2137). Zum einen kann ein Zeitwertkonto grundsätzlich für alle Arbeitnehmer im Rahmen eines bestehenden Dienstverhältnisses eingerichtet werden. Zum anderen kann nicht die Organstellung des Herrn E… als GmbH-Geschäftsführer zu einer von § 11 Abs. 1 EStG abweichenden Zuflussfiktion führen (so auch FG Baden-Württemberg sowie FG Köln, jeweils aaO). Insoweit besteht nach der Überzeugung des erkennenden Senats zumindest im Falle eines sog. Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführers wie Herrn E…, der – wie üblich – strikt an Weisungen seitens der Mehrheit der GmbH-Gesellschafter gebunden ist, kein Grund für eine abweichende rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes gegenüber dem Fall eines sog. (bloßen) Fremdgeschäftsführers, der nicht (auch) eine Gesellschafterstellung im betreffenden Unternehmen innehat.

3. Im Übrigen ist der angefochtene Haftungsbescheid (ohne Leistungsgebot) in Gestalt der Einspruchsentscheidung nach der BFH-Rechtsprechung auch ermessensfehlerhaft. Die Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme der Arbeitgeberin anstelle oder zeitgleich mit dem Versuch einer Steuernacherhebung beim betreffenden Arbeitnehmer liegen nämlich nicht vor: Weder hat sich die Klägerin mit einer Inanspruchnahme einverstanden erklärt, noch geht es um eine Vielzahl von Arbeitnehmern (Vereinfachungsgedanke), noch hat die Klägerin den streitgegenständlichen Steuerabzug an der Quelle im Wege einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder zumindest grob fahrlässigen Verletzung ihrer diesbezüglichen steuerlichen Pflichten unterlassen (vgl. dazu , BStBl II 1971, 353 und vom VI R 65/77, BStBl II 1980, 289; Wagner, in: Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 42 d EStG Rz. 116 ff., Nacke, Haftung für Steuerschulden, 4. Aufl., Rz. 2.225, jeweils m. w. N.).

II. Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom

Der Haftungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ist – soweit es um die Nachforderung von Lohnsteuer nebst Solidaritätszuschlag in Bezug auf Gutschriften auf dem Zeitwertkonto des Herrn E… geht – rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsinanspruchnahme nach § 42 d Abs. 1 EStG liegen insoweit nicht vor. Hinsichtlich der Begründung wird auf die obigen Darlegungen betr. die Verneinung eines Zuflusses von Arbeitslohn im Sinne von § 11 Abs. 1 EStG bei Herrn E… verwiesen.

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis auf §§ 151 Abs. 3 und 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der ZivilprozessordnungZPO –.

Der Beschluss über die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren beruht auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.

C. Die Revision gegen dieses Urteil wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
DStR 2019 S. 6 Nr. 4
DStRE 2019 S. 353 Nr. 6
DStZ 2018 S. 131 Nr. 5
EFG 2018 S. 190 Nr. 3
GStB 2018 S. 159 Nr. 5
GmbH-StB 2018 S. 127 Nr. 4
HAAAG-70465