Finanzgericht Rheinland-Pfalz Urteil v. - 5 K 1154/13

Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 AO

Leitsatz

Bei dem Bezug einer im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge vereinbarten lebenslangen Versorgungsleistung handelt es sich um einen Dauersachverhalt, dessen Umstände nicht durch eine Archivierung von damit in Zusammenhang stehenden Unterlagen im Keller bzw. im Archiv unbekannt werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerfall wegen eines Wechsels in der Zuständigkeit der Finanzbehörden im sog. aktenlosen Veranlagungsverfahren übernommen wird.

Gesetze: AO § 173 Abs. 1 Nr. 1

Tatbestand

Streitig ist, ob bestandskräftige Einkommensteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert werden können.

Die im Jahr 1926 geborene Klägerin war bis einschließlich des Jahres 2006 von dem Finanzamt B zur Einkommensteuer veranlagt worden. Im Jahr 2007 verzog die Klägerin in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten, der die Besteuerung der Klägerin ab dem Jahr 2007 übernahm. Dabei wurden dem Beklagten lediglich Kontoauszüge übersandt, die Steuerakten verblieben bei dem Finanzamt B (Übernahme im sog. aktenlosen Verfahren).

Mit bei dem Beklagten für die Streitjahre 2007 bis 2010 eingereichten Einkommensteuererklärungen erklärte die Klägerin u.a. in der Anlage R eine Leibrente aus „sonstigen Verpflichtungsgründen“ i.H.v. 90.000,- € jährlich, die am begonnen hatte und bis zu ihrem Tod läuft (Bl. 14, 39, 58, 72 Einkommensteuerakte – EStA). Nähere Erläuterungen erfolgten nicht. Die maschinelle Datenverarbeitung für die Einkommensteuerveranlagung des Jahres 2007 steuerte im Rahmen des Risikomanagements einen Prüfhinweis betreffend die Rente aus (Bl. 15 EStA). Da – nach den Angaben des Beklagten – ein Steuerbescheid des Finanzamtes B ergab, dass die Zahlungen in der Vergangenheit mit dem Ertragsanteil (i.H.v. 17 %) der Steuerpflicht unterworfen worden waren, berücksichtigte der Beklagte mit Einkommensteuerbescheiden vom (2007), vom (2008), vom (2009) und vom (2010) die von der Klägerin erklärte Leibrente in allen Jahren entsprechend mit einem Ertragsanteil i.H.v. 17 %. Der maschinelle Prüfhinweis aus dem Jahr 2007 wurde mit dem handschriftlichen Bearbeitervermerk „erstmalige VA bei FA A s. Bescheid v. FA B“ versehen. Sämtliche Bescheide wurden bestandskräftig (Bl. 20 ff., 41 ff., 59 ff., 73 ff. EStA).

Am übersandte das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung dem Beklagten eine Kontrollmitteilung. Danach war bei der Prüfung des Sohnes der Klägerin festgestellt worden, dass dieser aus einem im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge geschlossenen notariellen Übertragungsvertrag vom regelmäßig Zahlungen i.H.v. 90.000,- € jährlich an seine Mutter – die Klägerin - geleistet hatte, die als dauernde Last bisher als Werbungskosten im Rahmen seiner Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt worden, richtigerweise jedoch bei seinen Sonderausgaben abzusetzen seien (Bl. 81 EStA). Der der Zahlungsverpflichtung zugrunde liegende notarielle Vertrag war der Kontrollmitteilung beigefügt (Bl. 83 ff. EStA). Nach Prüfung der übersandten Unterlagen gelangte der Beklagte zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin geltend gemachten Versorgungsleistungen i.H.v. 90.000,- € jährlich korrespondierend in voller Höhe steuerpflichtig seien. Da der notarielle Übertragungsvertrag dem Beklagten erstmals mit der Kontrollmitteilung vorlag und er – nach seinen Angaben – bis zu diesem Tag von dem Rechtsgrund für die erklärten Zahlungen keine Kenntnis gehabt hatte, sah der Beklagte außerdem die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO als erfüllt an und änderte die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre auf dieser Grundlage dahingehend, dass er die von der Klägerin erhaltenen Zahlungen als wiederkehrende Bezüge (dauernde Last) der vollen Besteuerung unterwarf (geänderte Einkommensteuerbescheide für 2007 bis 2010 vom ). Die Änderungen wurden in den Bescheiden erläutert (Bl. 27 ff., 48 ff., 64 ff., 78 ff. EStA).

Die Klägerin erhob dagegen am Einspruch und trug vor, der Übertragungsvertrag vom habe dem Finanzamt B bereits im Rahmen des Veranlagungsverfahrens 1994 vorgelegen. Sie könne sich lediglich nicht mehr daran erinnern, ob sie den Vertrag bereits mit der Einkommensteuererklärung 1994 oder erst später auf Anforderung des Finanzamtes während des Veranlagungsverfahrens eingereicht habe. Sie habe ihren Mitwirkungspflichten genügt. Die rechtliche Prüfung der erklärten Zahlungen als Leibrente habe dem Finanzamt oblegen.

Mit Einspruchsentscheidung vom wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Er führte im Wesentlichen aus, der vom Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung im März 2012 übersandte Übertragungsvertrag vom habe ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen. Der Vertrag sei ein nachträglich bekannt gewordenes Beweismittel; die Regelungen des Vertrages seien nachträglich bekannt gewordene Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

Die bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 1994 dem damals zuständigen Finanzamt B bekannt gewordenen Tatsachen seien nicht durch den Zuständigkeitswechsel zum Beklagten unbekannt geworden, sondern durch das Archivieren der Altakten. Letztlich sei es deshalb unerheblich, ob und wann der Übertragungsvertrag vom dem Finanzamt B bei der Steuerveranlagung 1994 vorgelegen habe oder nicht, denn die Akten des Jahres 1994 wären bei dem vormals zuständigen Finanzamt B zwischenzeitlich archiviert, wenn nicht sogar vernichtet worden. Die damals bekannt gewordenen Tatsachen seien dadurch unbekannt geworden. Nach der Rechtsprechung des BFH müsse das Finanzamt eine in archivierten Akten festgehaltene Tatsache nur dann als bekannt gegen sich gelten lassen, wenn für die Hinzuziehung der Altakten nach den Umständen des Falles, d.h. nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärungen oder der präsenten Akten, eine besondere Veranlassung bestanden habe. Denn nur in diesem Fall ziehe die unterlassene Beiziehung der archivierten Akten eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach sich. Eine besondere Veranlassung zur Beiziehung der Altakten oder zu weitergehenden Ermittlungen sei im Streitfall nicht gegeben gewesen. Die Steuererklärungen 2007 bis 2010 seien unter Mitwirkung eines Steuerberaters (und Diplom-Kaufmanns) erstellt worden, sodass er – der Beklagte - diesen Erklärungen ein erhöhtes Vertrauen habe entgegenbringen dürfen. Auch sei die Erklärung einer Leibrente weder zweifelhaft, geschweige denn offensichtlich falsch gewesen. Die Finanzbehörde sei nicht verpflichtet, den Sachverhalt auf alle möglichen Fallgestaltungen zu erforschen, sie brauche den Steuererklärungen auch nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern könne im Regelfall davon ausgehen, dass die Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung vollständig und richtig seien.

In Akten befindliche Tatsachen könnten durch eine Archivierung unbekannt werden, denn sonst ergebe die Rechtsprechung des BFH für die Hinzuziehung von archivierten Altakten keinen Sinn. Ausgenommen davon seien lediglich Vorgänge der zwei vorangegangenen Jahre, die nicht dadurch unbekannt würden, dass das Finanzamt sie im Keller ablege (, BFH/NV 1999, 900). Dieser Ausnahmefall sei vorliegend aber nicht gegeben. Vielmehr seien die Grundsätze des , BFH/NV 2010, 2225) auf den Streitfall übertragbar. Denn wie in dem von dem BFH zu beurteilenden Sachverhalt sei auch im Streitfall das Vorliegen einer dauernden Last für den Beklagten nicht aus den bei ihm geführten aktuellen Akten, sondern allenfalls aus den von dem Finanzamt B archivierten Akten ersichtlich gewesen, für deren Hinzuziehung – wie dargelegt – keine Veranlassung bestanden habe. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben stehe einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen betreffend die Streitjahre nicht entgegen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen der Einspruchsentscheidung verwiesen (Bl. 116 ff. EStA).

Mit der dagegen am erhobenen Klage trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, der Übertragungsvertrag vom stelle zwar eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar, jedoch sei diese dem Beklagten nicht im Sinne der Änderungsvorschrift nachträglich bekannt geworden. Der Vertrag sei sowohl dem Finanzamt B als auch ab dem Jahr 2007 dem Beklagten bekannt gewesen, denn weder durch eine von dem Beklagten behauptete Archivierung der Altakten noch durch den Zuständigkeitswechsel sei er wieder unbekannt geworden.

Die Argumentation des Beklagten, wonach im Streitfall keine besondere Veranlassung für die Hinzuziehung des archivierten Übertragungsvertrages bestanden habe, setze voraus, dass eine Archivierung der Akten rechtmäßig erfolgt sei. Sei dies nicht der Fall, bestehe eine Pflicht, die (pflichtwidrig archivierten) Akten bei der Veranlagung hinzuzuziehen. Der Beklagte habe den Übertragungsvertrag vom noch gar nicht archivieren dürfen. Der Vertrag betreffe einen Dauertatbestand mit Wirkung für die Zukunft. Er diene bis zum Tod der Klägerin als Rechtsgrundlage für die laufend von ihr bezogenen Zahlungen, sodass der Vorgang noch nicht abgeschlossen sei und mithin nicht hätte archiviert werden dürfen. Die Rechtswidrigkeit der Archivierung des Übertragungsvertrages ergebe sich auch aus dem gleich lautenden Erlass der obersten Finanzbehörden der Länder zur Neufassung der Geschäftsordnung für die Finanzämter (FAGO 2010) vom , BStBl I 2010, 1315. Nach Ziffer 3.4.7 Abs. 3 FAGO 2010 hätte der Übertragungsvertrag in einer besonderen Einzelakte „Vertragsakte“ abgelegt werden müssen. Dass er nicht hätte archiviert werden dürfen ergebe sich aus Ziffer 3.4.3 Abs. 6 FAGO, denn danach seien nur abgeschlossene Vorgänge aus dem laufenden Aktenbestand herauszunehmen und zu archivieren. Insofern unterscheide sich der Streitfall auch von dem dem zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem es um die Kenntnis eines punktuellen und abgeschlossenen Vorgangs ohne Auswirkung auf die (künftige) aktuelle Veranlagung gegangen sei.

Im Übrigen werde die Archivierung der Altakten rein vorsorglich mit Nichtwissen bestritten.

Die Klägerin beantragt,

die geänderten Einkommensteuerbescheide vom sowie die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt er vor, die Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr. 1 AO seien im Streitfall erfüllt. Tatsache im Sinne der Vorschrift sei der in dem Vertrag beurkundete tatsächliche Vorgang einer Grundstücksübertragung gegen eine aus den daraus erzielbaren laufenden Nettoerträgen zahlbaren Versorgungsleistung. Diese Tatsache sei jedenfalls ihm - dem Beklagten - nachträglich bekannt geworden. Ob der Vertrag dem Finanzamt B jemals vorgelegen habe, sei völlig unklar. Die Akten seien jedenfalls nicht mehr da. Die Klägerin habe mit Angabe einer Leibrente in den von ihr eingereichten Einkommensteuererklärungen seit Jahren durchgängig ihre Mitwirkungspflichten gegenüber der Finanzbehörde verletzt. In der Abwägung dieser Mitwirkungspflichtverletzung und der Ermittlungspflichtverletzungen auf Seiten der Finanzbehörde liege die Lösung des Streitfalles.

Im Übrigen verweist der Beklagte auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt er noch vor, auch ein Dauertatbestand (Rentenbezug, Mietverhältnis) unterliege nicht der permanenten Überwachung durch die Finanzbehörde. So werde ein Rentenbezug oder ein Mietverhältnis regelmäßig im Erstjahr intensiv überprüft und in den Folgejahren nicht mehr. Nur bei beobachtungsbedürftigen Dauersachverhalten bestehe eine besondere Veranlassung zur Beiziehung von Altakten. Es sei weder erforderlich noch geboten, jeden Vertrag ständig bei den laufenden Akten zu halten und von der Archivierung auszunehmen. Eine weitergehende Verpflichtung könne auch nicht aus der FAGO 2010 hergeleitet werden. Auch sei zu berücksichtigen, dass im sog. aktenlosen Verfahren nur die Vorgänge der vorangegangenen zwei Veranlagungszeiträume als bekannt zu gelten haben.

Gründe

Die Klage ist begründet.

Die angefochtenen geänderten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2007 bis 2010 vom sowie die Einspruchsentscheidung vom sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO). Die Voraussetzungen zur Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der Jahre 2007 bis 2010 nach der im Streitfall allein in Betracht kommenden Korrekturvorschrift gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO liegen nicht vor, sodass die Änderungsbescheide aufzuheben sind.

1. Streitig ist vorliegend nicht die materiell rechtliche Behandlung der von der Klägerin bezogenen Versorgungsrente in Form einer dauernden Last, sondern allein die Frage, ob der Beklagte berechtigt war, die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Jahre 2007 bis 2010 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern.

2. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

  1. Tatsache im Sinne der Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Demgegenüber sind rechtliche Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Wertungen und Subsumtionen, keine Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 AO. Auch eine geänderte Rechtsauffassung der Finanzverwaltung, d.h. eine andere rechtliche Wertung bereits bekannter Tatsachen, ist keine Tatsache im Sinne der zuletzt bezeichneten Vorschrift (st. Rspr. z.B. , BStBl II 2004, 911 und vom , BFH/NV 2003, 1144).

  2. Nachträglich werden Tatsachen bekannt, wenn sie nach dem Zeitpunkt, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist, bekannt werden. Hierbei kommt es auf den Kenntnisstand der Finanzbehörde, und zwar der Personen an, die innerhalb der Behörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten. Zu diesen Personen zählen in der Regel der (zeichnungsberechtigte) Sachbearbeiter, der Sachgebietsleiter und der Vorsteher des Finanzamtes (, BStBl II 2013, 5 und vom - XI R 48/06, BFH/NV 2008, 367 m.w.N.). Dabei gilt für jede Stelle innerhalb der Behörde das als bekannt, was sich aus dem Inhalt der von ihr geführten Akten ergibt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters ankommt. Ebenso wenig werden einmal bekannt gewordene Tatsachen durch Ablage der Vorjahresunterlagen im Keller wieder unbekannt (ständige Rspr., vgl. , BFH/NV 2010, 692; vom - VI R 40/08, BStBl II 2010, 951 und vom - IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588 jeweils m.w.N.). Hinsichtlich archivierter Akten entspricht es der gefestigten Rechtsprechung des BFH, dass die zuständige Dienststelle des Finanzamtes den Inhalt dieser Akten nur dann als bekannt gegen sich gelten lassen muss, wenn zur Hinzuziehung dieser Vorgänge nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärung eine besondere Veranlassung bestand. Nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, führt die unterlassene Beiziehung der archivierten Akten zu einer Verletzung der Ermittlungspflicht (, BStBl II 1998, 552 und vom – X R 49/08, BFH/NV 2010, 2225 m.w.N.).

  3. Nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben ist das Finanzamt gehindert, einen Steuerbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn ihm die Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre, sofern allerdings der Steuerpflichtige seinerseits seiner Mitwirkungspflicht in vollem Umfang genügt hat (st. Rspr., vgl. z.B. , a.a.O.). Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann (st. Rspr., vgl. ,BFH/NV 2015, 815 m.w.N.). Das Finanzamt verletzt in der Regel seine aus § 88 AO folgende Ermittlungspflicht, wenn es ersichtlichen Unklarheiten oder Zweifelsfragen, die sich bei einer Prüfung der Steuererklärung sowie der eingereichten Unterlagen ohne Weiteres aufdrängen mussten, nicht nachgeht (st. Rspr., vgl. , BFH/NV 2013, 694; vom - VI R 49/09,BFH/NV 2012, 692 und vom - X R 56/01, BFH/NV 2004, 1502m.w.N.). Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trägt das Finanzamt die Feststellungslast (Tipke/Kruse, Kommentar zur AO, § 88 AO Tz. 32; § 173 AO Tz. 53).

3. Unter Berücksichtigung dieser höchstrichterlichen Grundsätze, denen der Senat folgt, war der Beklagte zur Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 2007 bis 2010 nicht befugt. Die Voraussetzungen der vorliegend einzig in Betracht kommenden Korrekturvorschrift nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind nicht erfüllt.

  1. Der Senat hat schon Zweifel daran, ob dem Beklagten mit der Übersendung des Übertragungsvertrages durch das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung eine Tatsache bzw. ein Beweismittel i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden ist. Denn mit der neuerlichen Prüfung und Qualifizierung der von der Klägerin in allen Streitjahren bereits erklärten Rente aus sonstigem Verpflichtungsgrund als dauernde Last anstelle als Leibrente hat der Beklagte das ausweislich der Steuerakten dokumentierte Ergebnis seiner vormaligen Rechtsprüfung hinsichtlich der von der Klägerin bezogenen Zahlung geändert. Eine geänderte Rechtsauffassung bzw. eine geänderte juristische Subsumtion stellt jedoch gerade keine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar. Folgt man dem Beklagten darin, dass mit dem Übertragungsvertrag vom tatsächliche Umstände, mithin Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, beurkundet worden sind, die – wie beispielsweise die Finanzierbarkeit der Rente aus den erzielbaren laufenden Nettoerträgen des übergebenen Vermögens sowie deren vertraglich vereinbarte Abänderbarkeit – als (neue) konstitutive Elemente einer dauernden Last die ursprüngliche Wertung der Zahlungen als Leibrente unzutreffend werden lassen, so steht einer Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO entgegen, dass diese Tatsachen dem Beklagten nicht nachträglich bekannt geworden sind.

  2. Die Kenntnis des vormals zuständigen Finanzamtes B von der zwischen der Klägerin und ihrem Sohn beurkundeten Grundstücksübertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge muss sich der Beklagte zurechnen lassen. Das Gericht geht davon aus, dass dem Finanzamt B der Übertragungsvertrag vom vorlag. Denn dafür, dass dies nicht der Fall gewesen sein könnte, wie der Beklagte in der mündlichen Verhandlung erstmals zu Bedenken gegeben hat, ist nichts ansatzweise ersichtlich. Insofern wertet der Senat diese Behauptung allenfalls als eine hypothetische Möglichkeit ins Blaue hinein, die keinerlei Veranlassung bot, dem tatsächlich nachzugehen. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist der Übertragungsvertrag vom auch nicht durch eine mögliche Archivierung bzw. Vernichtung der Altakten unbekannt geworden.

    1) Bei der von der Klägerin aus dem Vertrag bezogenen Versorgungsleistung handelt es sich um einen bis zu ihrem Tod währenden Dauersachverhalt, dessen Umstände nicht durch ein Ablegen bzw. eine (eventuelle) Archivierung von damit in Zusammenhang stehenden Unterlagen im Keller bzw. im Archiv unbekannt geworden sind. Denn das Bekanntsein einer Tatsache erstreckt sich grundsätzlich auf alle Veranlagungszeiträume, für die die Tatsache relevant ist (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, Kommentar zur AO, § 173 Rn. 56.4; vgl. auch , EFG 2001, 334). Dies muss zur Überzeugung des Senats jedenfalls für – wie im Streitfall – Dauertatbestände mit Wirkung für die Zukunft gelten, denn der Übertragungsvertrag ist bei erstmaliger Geltendmachung der Rentenzahlung zu prüfen und entsprechend dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung anschließend in jedem Veranlagungszeitraum Grundlage für die Prüfung und Qualifizierung der geltend gemachten Versorgungszahlungen. Die Notwendigkeit einer jährlichen Überprüfung des Vorgangs zeigt sich im Streitfall mehr als deutlich darin, dass es sich um einen Vertrag zwischen nahen Angehörigen handelt, für dessen steuerliche Anerkennung u.a. auch die tatsächliche Durchführung des Vereinbarten feststehen muss. Wollte man dies anders sehen, wäre das Bekanntsein von Steuer relevanten Umständen, die Dauersachverhalte betreffen, im Übrigen von Zufälligkeiten abhängig, die dem Kenntnisbereich des Steuerpflichtigen entzogen wären. Ein Steuerpflichtiger müsste dann stets neu und von sich aus Unterlagen beim Finanzamt einreichen, da er nie sicher sein könnte, ob die früher eingereichten Unterlagen nicht bereits archiviert sind.

    2) Dem steht auch nicht das , BFH/NV 2010, 2225) entgegen. Die Grundsätze dieser Entscheidung sind auf den Streitfall nicht ohne Weiteres übertragbar, denn ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der mit dem vorliegenden nicht vergleichbar ist. In dem von dem BFH zu beurteilenden Fall ging es um die Kenntnis bzw. Erkennbarkeit einer betrieblichen Veranlassung von Schuldzinsen aus einer in zwischenzeitlich archivierten Akten erfolgten Einbuchung von Darlehen in das Betriebsvermögen, mithin aus einem punktuellen, vergangenen und damit abgeschlossenen Vorgang. Die von der Klägerin jährlich erklärte Versorgungsrente ist jedoch ein Dauersachverhalt, der in jedem Veranlagungszeitraum rechtlich neu zu überprüfen ist. Vor diesem Hintergrund handelt es sich im Streitfall genau um den zeitraumübergreifenden Sachverhalt, der nach dem ,BStBl II 1998, 552) die veranlagende Dienststelle zur permanenten Beobachtung der steuerrelevanten Altvorgänge zwingt.

  3. Archiviert das Finanzamt in einem solchen Fall dennoch den Dauersachverhalt betreffende Unterlagen bzw. vernichtet diese, müssen die insoweit relevanten Unterlagen bei der Veranlagung im Rahmen der nach § 88 AO bestehenden Ermittlungspflicht der Behörde neu angefordert und überprüft werden. Mit Übernahme der von der Klägerin erklärten Leibrente ohne eigene Prüfung des ihr zugrunde liegenden Verpflichtungsgrundes hat der Beklagte damit in den Streitjahren zudem seine Ermittlungspflicht verletzt, sodass er auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben an einer Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide 2007 bis 2010 gehindert gewesen ist. Die steuerrechtliche Beurteilung der von der Klägerin in den Streitjahren erklärten Zahlungen allein anhand eines Steuerbescheids des Finanzamtes B, anstelle den den Zahlungen zugrunde liegenden Übertragungsvertrag von der Klägerin anzufordern, war in diesem Zusammenhang offensichtlich unzureichend. Letztlich hat der Beklagte damit die Ergebnisse der Rechtsprüfung des Finanzamtes B übernommen. Dabei wäre – wie vorstehend bereits ausgeführt – im Rahmen der Abschnittsbesteuerung die jährliche Überprüfung des Vorganges in der Veranlagung angezeigt gewesen, zumal das maschinelle Datenverarbeitungssystem den Bearbeiter noch auf eine Überprüfung der erklärten Rente hingewiesen hat. Eine demgegenüber schwerere Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin betreffend die Steuererklärungen der Streitjahre vermag das Gericht indes nicht zu erkennen, denn die Klägerin hat die erhaltenen Zahlungen wie in den Vorjahren erklärt. Der Senat verkennt nicht, dass der Sohn der Klägerin die von ihm in den Streitjahren an seine Mutter gezahlten Versorgungsleistungen wohl in voller Höhe steuerlich geltend gemacht haben dürfte. Jedoch besteht das im Rahmen der Einkünfte aus § 22 EStG verwirklichte Korrespondenzprinzip rein materiell-rechtlich, mit der Folge, dass verfahrensrechtlich keine Abhängigkeit zwischen dem Abzug der Zahlungen und ihrer Erfassung besteht (vgl. Blümich/Nacke, Kommentar zum EStG, § 22 Rn. 68). Somit kann auch dieser Umstand vorliegend nicht zu einem anderen Ergebnis führen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 115 Abs. 2 FGO).

Fundstelle(n):
AO-StB 2015 S. 258 Nr. 9
DStR 2016 S. 10 Nr. 21
DStRE 2016 S. 811 Nr. 13
KÖSDI 2015 S. 19472 Nr. 9
KÖSDI 2016 S. 19954 Nr. 9
NWB-Eilnachricht Nr. 34/2015 S. 2486
Ubg 2016 S. 630 Nr. 10
Ubg 2016 S. 693 Nr. 11
HAAAE-95854