PiR Nr. 7 vom Seite 197

Interview mit dem Präsidenten des DRSC, Prof. Dr. Andreas Barckow

Offene Antworten und kritische Stellungnahme zu IFRS-Anwenderfragen

Das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee e. V. (DRSC) ist seit 1998 der nationale Standardsetzer auf dem Gebiet der Konzernrechnungslegung in Deutschland. Ziel war und ist es, die Fortentwicklung der Rechnungslegung im gesamtwirtschaftlichen Interesse zu fördern, als deutscher Standardisierer von der Bundesregierung anerkannt, unterstützt und gehört zu werden sowie die Interessen der deutschen Wirtschaft im Bereich der Rechnungslegung international zu vertreten. Doch wie werden diese Ziele real umgesetzt? Stößt der DRSC hierbei ggf. an Grenzen? Und wie erscheint die Ausrichtung in der Zukunft? Wir sprachen mit dem Präsidenten, Prof. Dr. Andreas Barckow, über das DRSC, aktuelle Tätigkeitsschwerpunkte, künftiger Herausforderungen und über seine Einschätzung, was der Anwender in der Zukunft zu erwarten hat.

Herr Prof. Barckow, Sie sind nicht nur ausgewiesener Fachmann der nationalen, sondern insbesondere auch der internationalen Rechnungslegung. Können Sie uns einen Einblick hinter die Kulissen geben, welches Gewicht der Stimme des DRSC im Rahmen der Entwicklung und Übernahme der IFRS beigemessen wird? Wie dürfen sich unsere Leser den Prozess der Meinungsfindung auf globaler Ebene vorstellen?

Gern. Das DRSC hat sich in erster Linie durch die Qualität seiner fachlichen Tätigkeit einen sehr guten Ruf erworben. Nun ist das zugegebenermaßen kein Alleinstellungsmerkmal des DRSC, kluge Köpfe gibt es schließlich viele und auch anderswo. Was nationale Standardsetzer aber von anderen Adressaten, die sich in den Prozess einbringen, unterscheidet, ist die stets fachliche, nah am Standard ausgerichtete Argumentation. Dieses Vorgehen schafft Vertrauen, weil man uns als neutrale Instanz wahrnimmt, der keine eigene Mission unterstellt wird. Qualitativ hochwertige Arbeit und die Selbstverpflichtung zur Neutralität sind eine notwendige Bedingung dafür, dass man Gehör findet. Sie reichen indes allein nicht aus: Letzten Endes hängen sowohl Standardsetzung als auch die Übernahme der IFRS auf allen Seiten des Tisches von Menschen ab. Und die können halt mal besser, mal weniger gut miteinander. Grosso modo werden das DRSC und die handelnden Personen aber sowohl beim IASB wie auch bei der EFRAG sehr geschätzt, und das schlägt sich dann unmittelbar in dem Gewicht wieder, nach dem Sie ja fragten. „Sehr geschätzt“ sollten Sie dabei allerdings nicht gleichsetzen mit „stets berücksichtigt“ – wie ich schon sagte, gibt es auch anderswo kluge Köpfe; hier treten wir in einen Wettstreit mit Anderen, bei dem dann die Substanz unserer Argumente und die Vertretung derselben den Ausschlag geben.

Das DRSC feiert im kommenden Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen. Inwiefern hat sich die Arbeit des DRSC seit seiner Gründung verändert?

Formal gesehen sind unsere Tätigkeitsgebiete über die 20 Jahre weitgehend unverändert geblieben. Was sich allerdings deutlich geändert hat, sind die Anteile, in denen wir uns mit nationalen und internationalen Themen befassen. In der ersten Phase des Bestehens stand die Entwicklung und Herausgabe von Deutschen Rechnungslegungs Standards sicherlich im Vordergrund der Tätigkeit. Da unser Mandat aber auf die Entwicklung von Empfehlungen zur Konzernrechnungslegung beschränkt ist und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den meisten Ansatz- und Bewertungsfragestellungen ausschließt, war eigentlich von vornherein absehbar, dass wir irgendwann an das Ende kommen würden. Die auf dem Gebiet der Konzernrechnungslegung zu bearbeitenden Themen hatte faktisch bereits der Deutsche Standardisierungsrat umfassend beackert. Folglich stand die Überprüfung und Weiterentwicklung der bestehenden Standards im Zentrum der Tätigkeit des HGB-Fachausschusses. Nach fünf Jahren ist auch diese Überprüfung nahezu abgeschlossen, so dass das Arbeitsprogramm national nunmehr deutlich abschmilzt und neue Empfehlungen die Ausnahme sein werden.

International war das DRSC anfänglich eher in einer beobachtenden Rolle; spätestens seit der verpflichtenden IFRS-Einführung in Europa wurden alle IASB-Projekte im DRSC gespiegelt, um noch während der Erarbeitung neuer Normen eingreifen und dem Board Input geben zu können. Dadurch haben wir eine ganze Reihe an möglichen negativen Entwicklungen für deutsche Bilanzierer abwenden können. Die Spiegelung der IASB-Arbeiten hat im zweiten Lebensjahrzehnt des DRSC zu einer Änderung im Verhältnis von nationaler zu internationaler Arbeit geführt. In den letzten Jahren kam dann noch die Arbeit bei der EFRAG in Brüssel hinzu, die kapazitätsmäßig ebenfalls ihren Tribut fordert.S. 198

Eine Aufgabe des DRSC ist auch die Förderung der Forschung und Ausbildung im Bereich seines Betätigungsfelds. Nun mehren sich aber die kritischen Stimmen, die ein Auseinanderdriften von den an Hochschulen verfolgten Inhalten und den Bedürfnissen der (Anwender-)Praxis beklagen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung in den letzten rd. 20 Jahren?

Wenn ich mir die Lehrpläne an den Ausbildungseinrichtungen ansehe, dann scheinen mir diese in unserer im Vergleich mit anderen BWL-Disziplinen noch vergleichsweise anwendungsorientiert. Davon zu trennen ist das, was in der Forschung getan wird. Häufig sind die Lehrstühle stark empirisch ausgerichtet, und viele Forschungsergebnisse besitzen in der Tat keinen unmittelbaren Anwendungsnutzen für die Praxis. Ich bedaure diesen Trend durchaus, konzediere aber, dass sich das Marktumfeld für Nachwuchsakademiker grundlegend gewandelt hat und die Beteiligten entsprechend reagieren müssen. Was ich wirklich kritisch sehe, ist der stark zurückgefahrene Stundenumfang im Zuge des Bologna-Verfahrens: Viele Studierende, die sich im Wahlblock für den Bereich Rechnungswesen entscheiden, hören vielleicht drei, vier Veranstaltungen. Das ist aus meiner Sicht viel zu wenig, um als fachlich versiert gelten zu können. Da würde es mich nicht wundern, wenn sich in der Praxis eine Erwartungslücke auftut.

Das DRSC begleitete und kommentierte zahlreiche Reformen der HGB-Rechnungslegung. Wie beurteilen Sie die bisherige Entwicklung der nationalen Rechnungslegungsbestimmungen im Vergleich zu den IFRS? Da hier gerade aus Sicht der deutschen Konzerne auch von einem Wettstreit der Normen gesprochen werden kann – zu wessen Gunsten geht dieser Wettstreit heute aus?

Ganz ehrlich: Ich habe den von einigen Vertretern an die Wand gemalten Streit zwischen dem „guten alten HGB“ und den „schlechten neuen IFRS“ nie für voll genommen. Beide Regelungssysteme wurden vor dem Hintergrund völlig unterschiedlicher Zielsetzungen entwickelt, und ich denke, dass jedes Normensystem für die jeweils verfolgte Zielsetzung eine passable Antwort darstellt – was nicht heißen soll, dass man es nicht verbessern könnte. Das HGB aber auf den Kapitalmärkten als bessere Alternative zu den IFRS zu propagieren, erscheint mir ebenso wenig zielführend, wie die IFRS dem deutschen Mittelstand schmackhaft machen zu wollen. Daher bin ich der Ansicht, dass es den häufig beschworenen Wettstreit gar nicht gibt – leider nicht gibt! Ich denke nämlich, dass sich beide Systeme durchaus befruchten könnten. Unsere Fundamente sind gar nicht so grundverschieden, fast alle uns als GoB vertrauten Normen finden wir auch in den IFRS, wenn auch mit einer anderen Gewichtung. Beide Systeme nehmen für sich in Anspruch, ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild von einem Umstand zu zeichnen, und ich glaube nicht, dass sich die einen bewusst wenig Mühe geben und die anderen es gezielt kompliziert machen wollen. Es muss nicht alles schlecht sein, nur weil es aus der jeweils anderen Welt kommt.

Wenn Sie mich zur konzeptionellen Seite fragen, dann würde ich Ihnen antworten, dass für weite Teile unserer Wirtschaft kein System probate Bilanzierungsantworten liefert: Beide sind stark am produzierenden Gewerbe ausgerichtet, wo man eine physische Wertschöpfung beobachten kann. Mit Blick auf unseren immer größer werdenden tertiären Sektor bekomme ich da zunehmend kognitive Dissonanzen – was macht denn den Wert von Unternehmen aus, die lediglich aus einer cleveren Geschäftsidee bestehen? Was sollen Unternehmen wie Facebook als Vermögen bilanzieren?

Wie die IFRS, so sind auch die europarechtlichen Grundlagen der HGB-Rechnungslegung von ihren Ursprüngen an stark von angelsächsischen Traditionen geprägt gewesen. Eine entsprechende Annäherung war auch in jüngerer Vergangenheit zwischen der HGB- und der IFRS-Rechnungslegung zu verzeichnen. Halten Sie hier nun mittelfristig einen Richtungswechsel aufgrund des „Brexit“ für wahrscheinlich?

Ich hoffe, Sie sehen mir nach, dass ich Ihrer Einleitung widerspreche: Die Anfänge des europäischen Bilanzrechts waren ganz und gar nicht angelsächsisch geprägt, sondern deutsch! Die von Wilhelm Elmendorff geleitete Kommission hatte mit ihren 1965 begonnenen Arbeiten maßgeblichen Anteil an dem, was gute zehn Jahre später als 4. EG-Richtlinie verabschiedet wurde. Dass sich auch die Briten in der Richtlinie wiederfinden, ist sicherlich zutreffend, aber im Kern ist die Richtlinie ein kontinentaleuropäisches Machwerk mit starkem deutschen Einfluss. Und was die Annäherung von HGB zu IFRS angeht, sehe ich das weniger dogmatisch. Der deutsche Gesetzgeber hat sicherlich mit dem BilMoG eine Annäherung an die internationale Rechnungslegung gewollt. Allerdings schien mir dies eher der Tatsache geschuldet, dass es in den IFRS bereits eine Regelung gab, wo im deutschen Bilanzrecht eine Lücke bestand und die international bestehende Regelung zur Befüllung dieser Lücke geeignet schien.

Insofern messe ich auch dem Brexit-Entscheid nicht eine so hohe Bedeutung für das europäische Bilanzrecht bei. Die zuletzt erfolgten Änderungen im Zuge der Bilanzrichtlinie waren nun wirklich nicht der große Wurf, und ich erkenne akut auch keinen Gestaltungswillen in Europa, etwas am materiellen Bilanzrecht zu ändern. Das gilt freilich nicht für den Bereich der Angabepflichten; hier mag es durchaus zu Erweiterungen kommen – denken Sie an die CSR-Richtlinie oder das country-by-country-Reporting. Diese Entwicklung sehe ich aber losgelöst von der Entscheidung auf der Insel. Wo ich mir dagegen einen Richtungswechsel vorstellen kann, ist im Zuge der Übernahme der IFRS: Mit dem Austritt Großbritanniens kommt Europa ein wichtiger Fürsprecher der Regelungen abhanden, was durchaus zu Machtverschiebungen innerhalb der EFRAG, aber auch im Rat führen kann.

Kritisiert wird häufig die Schnelllebigkeit der Änderungen an den IFRS. Hat sich dies aus Ihrer Sicht in letzter Zeit gebessert?

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, weil es hier nicht gut oder schlecht gibt, sondern nur einen steten Abwägungsprozess. Anpassungen an bestehenden Standards werden bspw. vorgenommen, weil eine Regelung aufgrund rechtlicher Änderungen nicht mehr zutreffend mit dem bestehenden Normensystem abgebildet werden kann oder weil sie im Konflikt mit anderen Normen steht und dies im Zuge der Entwicklung nicht aufgefallen ist. Die selbst auferlegte Transparenz im Konsultationsprozess bringt es nun mit sich, dass S. 199erforderliche Änderungen nicht einfach vollzogen, sondern öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Bei einem Regelwerk vom Umfang der IFRS mit rund 3.800 Seiten wird etwa an 15 bis 20 derartiger Anpassungen gleichzeitig gearbeitet. Dies erweckt dann den Eindruck, als würde man ständig aus London mit Post belästigt. Wir haben den IASB im Accounting Standards Advisory Forum gedrängt, sein Vorgehen zu überdenken und Änderungen stärker zu bündeln, um Unternehmen mittlerer Größe, die nicht über einen großen Stab verfügen und den Gang der Diskussion verfolgen können, die Handhabung zu erleichtern. Aber wie bei so vielen Dingen, gibt es auch hier nicht nur schwarz und weiß: Wenn jemand ein gravierendes Bilanzierungsproblem hat, das nur durch eine Standardänderung gelöst werden kann, warum soll dann mit der Lösung des Problems gewartet werden, bis ein Stichtag erreicht ist? Würden wir nicht auch lieber baldmöglichst Abhilfe sehen?

Aber trotz aller Dynamik scheinen Entscheidungen und finale Endorsements teils unnötig lange zu dauern ...

Was die Übernahme der IFRS angeht, haben Sie absolut Recht. Es ist niemandem vermittelbar, warum es ein, zwei oder mehr Jahre dauert, bis eine Regelung in EU-Recht übernommen wurde. Dabei ist die EFRAG sogar vergleichsweise schnell, berücksichtigt man, dass auch diese Organisation einem öffentlichen Konsultationsprozess verpflichtet ist und jeder Stellung zu den Übernahmeempfehlungen nehmen kann. Die Ausarbeitung dauert seit der sog. Maystadt-Reform nun noch länger, weil die EFRAG für jede größere Regelung prüfen muss, dass diese dem europäischen Gemeinwohl keinen Schaden zufügt. Die Definition dessen, was unter Gemeinwohl zu verstehen ist, unterscheidet sich dabei von Regelung zu Regelung. In der Mehrzahl der Fälle sind es makroökonomische Prüfaufträge: Kommt es durch die Regelung zu Wettbewerbsverzerrungen? Hat sie negative Auswirkungen auf Finanzstabilität, Nachfrage, Beschäftigung etc.? Wie stellt sich die Regelung im Vergleich zu US-GAAP dar und erwächst Europa dadurch ein Nachteil? Die Beantwortung dieser Fragen braucht Zeit, insbesondere wenn sie auch noch quantitativ mit Evidenz unterfüttert werden soll. An die Arbeiten bei der EFRAG schließt sich dann der eigentliche Übernahmeprozess auf Ebene der europäischen Institutionen an und hier ist kaum nachvollziehbar, warum dieser Prozess so lange dauert.

Die (neuen) IFRS werden teils immer komplexer, dazu kommen noch diverse (Nicht-)Entscheidungen des IFRS IC zu Auslegungsfragen. Sehen Sie hier die Gefahr, dass viele IFRS Anwender in der „zweiten oder dritten“ Reihe – gemeint sind hier die vielen mittelständischen Unternehmen vs. DAX – diese Anforderungen personell und fachlich nicht mehr selbständig erfüllen können?

Ich sehe diese Gefahr nicht nur, ich denke, dass das, was Sie beschreiben, bereits weitgehend Realität ist. Die eigentliche Frage ist, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen, und da gibt es keine einfachen Antworten. Zunächst einmal halte ich nicht viel von dem Komplexitätsmythos – ich kenne keinen Normengeber, der morgens mit dem Vorsatz ans Werk schreitet, einen simplen Sachverhalt bewusst komplex zu gestalten. Unsere Welt ist heute nun mal viel komplexer und schnelllebiger als vor zehn, zwanzig Jahren. Das kann man beklagen, es ist aber ein Fakt und damit etwas, mit dem wir umgehen müssen. Zu meinen, man könnte ein gestochen scharfes Abbild eines komplexen Sachverhalts mit einer preiswerten Sofortbildkamera von 1970 schießen, ist ein Fehlglaube. Das soll nicht heißen, dass wir dazu immer die neueste Generation von Digitalkameras brauchen. Wir können nun viele Stunden darüber diskutieren, ob der IASB stets den richtigen Absprungpunkt erwischt hat. Bei alledem sollten wir aber zwei Dinge nicht aus den Augen verlieren: Zum einen setzt der IASB Standards, die rund um den Globus anwendbar sein sollen; das bringt es mit sich, dass nicht nur Sachverhalte, die wir kennen und für gebräuchlich halten, adressiert werden, sondern auch solche, die wir reichlich abwegig finden, jedoch Usus in anderen Teilen der Welt sind. Zum anderen ist unser Treueschwur ggü. prinzipienorientierter Rechnungslegung auch nicht immer aufrichtig, denn allzu häufig erbitten wir weitergehende Hinweise, Leitlinien und Beispiele, damit wir wissen, was zu tun ist. Diese Erläuterungen führen dann zu weiteren Fragen. Kurzum: Standardsetzer befinden sich in einem fortwährenden Abwägungsprozess um das richtige Maß aus Prinzipienorientierung und Detailtiefe.

Ihre Frage hat aber neben der rein inhaltlichen noch zwei weiteren Dimensionen, nämlich die bereits genannte Frequenz, mit der Änderungen propagiert werden, und den Verpflichtungsgrad der Äußerungen. Hier bin ich durchaus der Meinung, dass der IASB Abhilfe schaffen könnte.

Sehen Sie hier (dennoch) Perspektiven einer Öffnung auch zur Internationalisierung der Rechnungslegung von KMUs?

Nun, der IASB hat mit dem IFRS für KMU ja bereits vor acht Jahren ein Angebot unterbreitet, bei dem Europa „nein danke“ gesagt hat. Schon bei der Entwicklung dieses Standards wurde deutlich, dass kein Konsens besteht, was ein kleines oder mittelgroßes Unternehmen eigentlich ist, welche Berichtspflichten ihm auferlegt werden sollen und ob es im Fall einer Kapitalmarktorientierung zwingend am Fliegenfänger der vollen IFRS hängen soll. Dabei gibt es bei diesen Fragen kein „richtig oder falsch“, sondern nur verschiedene Sichtweisen, die alle hinreichend fundiert begründet sind – wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen kommend. Dass wir etwas zwischen der europäischen Bilanzrichtlinie und den vollen IFRS benötigen, was sowohl den Ansprüchen anonymer Kapitalgeber als auch den Möglichkeiten von KMU gerecht wird, hat die EU-Kommission mittlerweile erkannt und unter der Rubrik „Kapitalmarktunion“ aufgegriffen. Allerdings habe ich gewisse Zweifel, dass die dabei ins Auge gefassten Maßnahmen zielführend sind.

Am wurde nun endlich das CSR-RUG vom Bundesrat verabschiedet. In der Literatur ist zu lesen, dass sich die Auswirkungen des CSR-RUG kaum einschätzen lassen und eine zukünftige Überarbeitung/Präzisierung des Gesetzes demnach unausweichlich sein dürfte. Wie stehen Sie dazu?

In der CSR-Richtlinie selbst wurde bereits eine Überprüfung drei Jahre nach dem Inkrafttreten verankert. Verfolgt man die Diskussion rund um die Ausarbeitung der Richtlinie, muss man kein Prophet sein: Die Richtlinie wird überarbeitet S. 200werden, und es wäre erstaunlich, wenn dies nicht mit einer Ausweitung einherginge. In welche Richtung diese geht – ob mehr Unternehmen unter die Berichtspflicht fallen, ob über andere Teilbereiche berichtet werden muss, ob die Berichtstiefe geändert wird, ob der Weg in Richtung eines integrierten Berichts eingeschlagen wird u. a. m. – lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Zur erfolgten Umsetzung in deutsches Recht hat das DRSC am eine Ergänzung an DRS 20 Konzernlagebericht zur Diskussion gestellt (E-DRÄS 8), in der sich die Fachausschüsse zu bestimmten Bereichen der Neuerungen äußern. Dabei geht es dem DRSC nicht um eine Ausdehnung der Berichtserfordernisse durch die Hintertür, sondern um eine Dienstleistung für jene Unternehmen, die sich nicht durch die vielen einzelnen Dokumente wühlen wollen, die zur Verabschiedung geführt haben. Wir hoffen, dass wir mit unserem Vorschlag möglichst viele Unklarheiten beseitigen und so zu einer sachgerechten Anwendung beitragen können.

Man sieht derzeit Bestrebungen, die Erstellung von Geschäftsberichten zu vereinfachen, indem der Anhang auf wesentliche Informationen reduziert werden soll, gleichzeitig steigt die Komplexität in den Anforderungen der neuen zentralen Standards (u. a. IFRS 9, IFRS 15, IFRS 16) v. a. hinsichtlich der Bewertung und Datenaufbereitung. Sehen Sie darin nicht einen Widerspruch?

Nicht unbedingt. Für mich ist die eigentliche Frage, ob alle Rechnungslegungsinformationen wirklich zwingend in ein Buch „Geschäftsbericht“ gehören, und da bin ich zusehends skeptisch. Wir werden den Hunger nach Informationen in einer Welt, in der Informationen alles bedeuten, nicht stillen können. Sind Informationen verfügbar, können sie durch den Einsatz moderner Technik (sprich: künstlicher Intelligenz) auch verarbeitet und ausgewertet werden. Das passiert bereits heute und wird sich nicht zurückdrehen lassen. Je mehr aber Informationen elektronisch verfügbar gemacht werden, desto mehr stellt sich mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines zwingenden Buchs „Geschäftsbericht“. Ich konzediere: Das Dokument besitzt v. a. deshalb einen Stellenwert, weil es einer Prüfung unterliegt und damit eine Qualitätsaussage verbunden ist. Ab 2020 aber wird der elektronische Geschäftsbericht zum verpflichtenden Prüfgegenstand – brauchen wir da wirklich noch ein Buch? Nach meinen Erfahrungen werden Geschäftsberichte heute kaum noch von Umschlag zu Umschlag gelesen, es sind vielmehr Nachschlagewerke, und die lassen sich auch anderweitig bereitstellen – die Firma Brockhaus kann davon ein Lied singen. Der von Ihnen gefragte Widerspruch lässt sich mithin so auflösen, indem man die Frage der Daten erstellung (was) von der Art der Daten bereitstellung (wie) trennt.

Wenn Sie einen IFRS-Geschäftsbericht eines spezifischen Unternehmens vor fünf Jahren mit einem aktuellen vergleichen würden, würden Sie in Anbetracht der diversen „Aufklärungsarbeiten“ des DRSC aber auch der DPR erwarten, dass dieser nun „besser“ geworden ist?

Ich glaube, ich würde dem DRSC da einen größeren Einfluss zusprechen als tatsächlich gerechtfertigt, würde ich Ihre Frage bejahen. Natürlich unterstützen wir die deutsche Wirtschaft bei der Anwendung neuer Standards und betreiben nach Kräften Aufklärung, ich sehe uns aber weder als Ausbilder in der Breite noch als Schiedsstelle oder gar als Enforcer.

Welcher Teil eines Geschäftsberichts ist für Sie der interessanteste Bestandteil: a) als Investor, b) als Prüfer oder c) persönlich?

Da ich weder in Aktien investiert bin noch Unternehmen prüfe, kann ich Ihnen auf die ersten beiden Teilaspekte keine Antwort geben. Persönlich bekenne ich dagegen, dass auch ich Geschäftsberichte nicht von vorn nach hinten lese. Seit meiner Zeit am Lehrstuhl für Externe Rechnungslegung an der Uni Paderborn habe ich mich aber intensiv mit der Analyse von Geschäftsberichten befasst und habe den größten Teil meiner Erkenntnisse aus der Auswertung und dem Vergleich von Aussagen aus den verschiedenen Berichtsbestandteilen gewonnen, also etwa Lagebericht und Segmentbericht oder Lagebericht und Anhang. Natürlich gilt der erste schnelle Blick den Zahlenwerken und darin den Veränderungen zum Vorjahr. Bei auffälligen Veränderungen sehe ich mir dann die zugehörigen Angaben im Anhang an. Wenn ich tatsächlich nur einen Bestandteil nennen dürfte, würde ich mich für den Lagebericht entscheiden.

Die großen Reformierungen zu IFRS 9, IFRS 15 und IFRS 16 stehen vor der Umsetzung. Mit IFRS 17 scheinen auch für die Versicherungswirtschaft Lösungen gefunden zu sein: Welche weiteren Veränderungen und Herausforderungen sehen Sie für die Welt der IFRS in der Zukunft?

Auch wenn das Regelwerk schon viele Seiten aufweist, würde ich nicht sagen, dass das Ende der Fahnenstange schon erreicht ist. Für eine ganze Reihe von Themenbereichen liegen keine Regeln vor – denken Sie an den Bergbau und die Diskussion um Rohstoffvorkommen und deren Ausbeutung –, andere sind hoffnungslos veraltet und nicht mehr zeitgemäß – hierunter fällt bspw. mein Lieblingsthema immaterielle Vermögenswerte, die für unsere Welt immer wichtiger werden, jedoch nur dann im Zahlenwerk aufscheinen, wenn sie entgeltlich erworben werden. Damit greifen wir aber nur einen Bruchteil des tatsächlich in Unternehmen vorhandenen Wertschöpfungspotenzials ab, so dass viele Aussagen, die wir aus einem solchen Abschluss generieren, unvollständig und zweifelhaft sind.

Insgesamt stelle ich fest, dass sich die Standardsetzer zu sehr mit Themen von gestern und zu wenig mit jenen von morgen befassen. Wenn Sie sich das Arbeitsprogramm des IASB anschauen, dann ist dort nur ein Sachverhalt aufgeführt, bei dem wir wirklich Neuland betreten: Die Bilanzierung von Effekten aus dem dynamischen Risikomanagement. Alle anderen Themen sind mehr oder minder umfangreiche Korrekturen an und Überarbeitungen von bestehenden Standards. Das ist zweifellos auch sinnvoll, aber bringt es uns wirklich nach vorn? Ich habe das Gefühl, dass sich Ökonomie und Rechnungslegung gegenwärtig auseinanderentwickeln: Welche Bilanzierungskonsequenzen ergeben sich aus der Digitalisierung der Wirtschaft? Wo diskutieren wir das Thema „digitale Währungen“ wie Bitcoin? Warum gehen wir das Thema „selbstgeschaffenes immaterielles Vermögen“ nicht S. 201an? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen finanzieller und nichtfinanzieller Berichterstattung? Wer ist aktuell Nutzer von Abschlussinformationen und wie muss er angesprochen werden? Welchen Einfluss hat elektronische Berichterstattung in diesem Kontext? Es sind Fragen wie diese, bei denen ich uns Standardsetzer in der Pflicht sehe, Antwortvorschläge zu unterbreiten und die Diskussion in Gang zu bringen.

IFRS und Rechnungslegung 4.0: Welche Herausforderungen birgt die zunehmende Digitalisierung von Geschäftsmodellen für die Abbildung in der Rechnungslegung aus Ihrer Sicht? Muss der IASB dem Rechnung tragen?

Hier kann ich nahtlos an meine vorherige Antwort anschließen: Ein ganz klares Ja, und zwar sowohl inhaltlich als prozessual. Das Vermögen der Unternehmen wird – relativ gesehen – immer weniger in physischen Werten, sondern in geistigem Eigentum und Zugang zu Informationen bestehen. Daraus ergeben sich völlig neue Geschäftsmodelle, die wir aber mit unserem tradierten Satz an Rechnungslegungsstandards nicht sachgerecht abbilden können, was häufig in einer enormen Spreizung zwischen Unternehmenswert und Buchwert des Eigenkapitals zum Ausdruck kommt. Das ist die inhaltliche Dimension. Hinsichtlich der Proliferation von Rechnungslegungsinformationen halte ich ein Umdenken und eine Weiterentwicklung ebenfalls für geboten. Wir denken noch zu sehr an Papier und geschlossene Abhandlung, wenn wir Rechnungslegungsnormen entwickeln und nutzen dabei die Möglichkeiten anderweitiger Informationsaufbereitung nur äußerst rudimentär.

Noch einmal zurück zum DRSC: Im Oktober 2015 erwähnten Sie, dass die Expertise des DRSC auf internationaler Ebene geschätzter und anerkannter ist als auf nationaler. Sehen Sie hier eine Veränderung auf nationaler Bühne?

Nicht in dem Maße, wie ich es mir wünschen würde. Ich glaube aber auch nicht, dass wir hier kurz- bis mittelfristig eine spürbare Änderung sehen werden, weil wir national nur wenig Möglichkeit zum Reüssieren besitzen. Das liegt zum einem sicherlich an unserer begrenzten Mandatierung auf die Konzernrechnungslegung, zum anderen aber auch daran, dass wir in Deutschland auf eine lange Bilanzierungstradition treffen, bei der viele Beteiligte eine Weiterentwicklung aus verschiedenen Gründen nicht wünschen – bspw. aufgrund der damit verbundenen Kosten. International haben wir eine andere Ausgangslage, weil wir hier die Regeln nicht selbst setzen, sondern deren Entwicklung durch Andere fachlich konstruktiv begleiten.

Kürzlich wurde der Internetauftritt des DRSC neu gestaltet und auch das Angebot des DRSC-Quartalsberichts wird aktuell überdacht. Sehen Sie die Interessen Ihrer Mitglieder nun stärker im Fokus?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Fokus allein auf die Interessen unserer Mitglieder legen würde. Internetauftritt und Quartalsbericht sind Bestandteile unserer Kommunikation mit der Öffentlichkeit allgemein, zu der natürlich auch unsere Mitglieder gehören. Im Vordergrund des neuen Internetauftritts stand neben dem frischen Anstrich etwas ganz Anderes, nämlich die Verdeutlichung unserer Arbeit und unseres Mehrwerts, den wir durch diese schaffen. Bislang konnten Sie bei uns inhaltlich dieselben Nachrichten wie beim IASB oder der EFRAG lesen (von Drittanbietern ganz zu schweigen); wir haben fast ausschließlich darüber berichtet, was diese beiden Organisationen machen. Sie fanden bei uns aber kaum etwas zur Arbeit des DRSC und seiner Gremien, und das ist schon erstaunlich. Wir wollen den überarbeiteten Auftritt daher auch zum Anlass nehmen, deutlicher herauszustellen, womit wir uns befassen und welche Schritte wir unternehmen werden, um etwas zu erreichen.

Werfen wir einen Blick auf die nächsten 20 Jahre Facharbeit des DRSC. Welche Themen werden Ihrer Ansicht nach die Agenda der kommenden Jahre dominieren? Wird die handelsrechtliche Konzernrechnungslegung in 20 Jahren noch eine Rolle spielen?

Für das DRSC wünsche ich mir zunächst einmal, dass wir weiterhin eine maßgebliche Rolle bei der Weiterentwicklung der Berichterstattung spielen werden. Das gilt international wie national. Für das nationale Umfeld benötigen wir dafür aber eine offene und unaufgeregte Diskussion, womit sich der deutsche Standardsetzer künftig befassen soll. Die Konzernrechnungslegung wird sicherlich ihren Stellenwert behalten, und hinsichtlich der Frage, ob diese nun handelsrechtlich oder durch die IFRS reglementiert sein wird, bin ich nicht religiös. Konzernierung ist in weiten Teilen Technik, die hüben wie drüben vergleichbar ausgestaltet ist. Die Unterschiede in unseren Denkansätzen liegen auf der Ebene darunter. Hier würde ich mir, wie bereits erwähnt, eine stärkere Durchlässigkeit wünschen. Und hinsichtlich der zuerst genannten Frage nach den maßgeblichen Themen wird die Sinnfrage m. E. immer lauter gestellt werden. Die Rechnungslegung muss sich weiterentwickeln und dabei in Teilen auch neu erfinden; sie darf nicht vor Themen zurückschrecken, die schwierig und vermeintlich nicht lösbar erscheinen; und sie muss über die bekannten Berichtsformate hinausdenken. Wenn diese Aspekte nicht durch die Standardsetzer aufgegriffen werden, dann wird es jemand anders an unserer Stelle tun, und den freiwilligen Untergang mag ich mir nun wirklich nicht vorstellen wollen.

Herr Prof. Barckow, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

Autor

Prof. Dr. Andreas Barckow ist Präsident des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee e. V. (DRSC), Berlin.

Fundstelle(n):
PiR 7/2017 Seite 197
NWB DAAAG-49370

1Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee e. V. (DRSC), Berlin.