IWB Nr. 8 vom Seite 308

Treaty Overrides sind verfassungsgemäß

Matthias Trinks und Dr. Robert Frau *

Es [i]BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 2015 - 2 BvL 1/12 NWB YAAAF-66859 war nicht weniger als eine rechtliche Revolution, die der BFH in Sachen Treaty Override anstrebte. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung sollte der Vertragsbruch auch gemessen am nationalen Recht generell unzulässig sein. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nun klar, dass der BFH in Karlsruhe keinen Mitstreiter gefunden hat. Die Rechtmäßigkeit der Vielzahl von Treaty Overrides im deutschen Steuerrecht bleibt dennoch vorerst ungeklärt. [i]Trinks, Treaty Override – end of story? Oder? NWB Experten-Blog vom 13. 2. 2016

I. Hintergrund

Die Praxis der Treaty Overrides in rechtsethischer Hinsicht wurde schon seit jeher kritisiert. Es erscheint besonders verwerflich, dass der deutsche Gesetzgeber auf Vorlage der Bundesregierung, (inhaltlich) vertreten durch das BMF, bewusst einen Vertragsbruch gegenüber dem DBA-Partner begeht, um allein eigene finanzielle Interesse zu wahren.

[i]Treaty Override-Kritik mit langer HistorieDieser völkerrechtliche Verstoß war in der Vergangenheit im innerstaatlichen Rahmen jedoch nicht justiziabel. Der Steuerpflichtige musste die Abweichung vom Abkommen hinnehmen. In einem auch über das Steuerrecht hinaus viel beachteten Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgerichts legte der BFH vor gut vier Jahren hierzu eine neue Rechtsmeinung vor. [1] Mit der vom [i]2012 neuer Ansatz des BFH zur Vorlage beim BVerfGErsten Senat – unter Wortführerschaft des inzwischen aus Altersgründen ausgeschiedenen Vorsitzenden Gosch [2] – mehrfach wiederholten Auffassung [3] sah das Gericht im Treaty Override als solchem einen Verfassungsverstoß, der aus der Verletzung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes resultieren sollte. Zum Anlass nahm das oberste Steuergericht die – in seinen Augen – gewandelte Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Bedeutung völkerrechtlicher Prinzipien in der nationalen Rechtsordnung.

Dieser Einschätzung erteilte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Doppelbesteuerungsabkommen und ihr einseitiges Überschreiben nun eine klare Absage.

II. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

1. Zulässigkeit

[i]Großzügige ZulässigkeitsprüfungDie größte Überraschung in der Entscheidung des Verfassungsgerichts findet sich gleich zu Beginn. Ohne große Umschweife bejaht der Senat die Zulässigkeit der BFH-Vorlage. S. 309Dies war vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht zuvor Zulässigkeitsbedenken gegenüber dem BFH geäußert hatte, so keineswegs zu erwarten. Denn auch der Ergänzungsbeschluss zur Vorlage [4] lieferte letztlich keinen Mehrwert für das Überschreiten der sonst hohen Zulässigkeitshürde. Bis heute erscheint nicht abschließend klar, dass die streitgegenständliche Vorschrift des § 50d Abs. 8 EStG als Treaty Override entscheidungserheblich ist.

In jedem Fall ist die Entscheidung des Gerichts begrüßenswert. Eine strengere Auslegung der Zulässigkeitsanforderungen hätte womöglich dazu geführt, dass der Senat keine Entscheidung in der Sache getroffen hätte. Das Gericht konnte es sich zwar insofern „leicht“ machen, als es die Vorlage zumindest als unbegründet zurückwies. Im Gegenzug entstand der erhöhte Begründungsaufwand. Damit ersparte man sich eine erneute Vorlage des BFH.

2. Wertigkeit des DBA-Rechts

[i]DBA unterliegt nationalen KollisionsregelnDie entscheidenden Ausführungen zur Begründetheit der Entscheidung beschränken sich auf wenige Aspekte. Zunächst stellt der Senat klar, dass dem DBA im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht keine besondere Bedeutung zukommt. Aufgrund der Vorgaben des Art. 59 Abs. 2 GG erhält das jeweilige DBA den Rang einfachen Bundesrechts. Es unterliegt damit den üblichen Kollisionsregeln, insbesondere dem Lex posterior-Grundsatz, wonach die frühere Regelung durch die spätere Norm (gleichen Ranges) verdrängt wird.

Abb. 1 Kollision von nationalem und Völkerrecht

[i]§ 2 AO hat nur klarstellende BedeutungDer Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes führt dabei zu keinem anderen Ergebnis. Auch über die Formel pacta sunt servanda erhält das DBA keine dem Bundesrecht übergeordnete Wertigkeit. Gleiches gilt für die Anordnung des § 2 Abs. 1 AO. Damit bleibt das Gericht exakt bei seiner bisher verfolgten Linie.

Die vom Verfassungsgericht ausnahmsweise angenommene vorrangige Berücksichtigung von Völkerrecht erscheint im Steuerrecht irrelevant. Explizit festgehalten hat sie das Bundesverfassungsgericht bislang nur für die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Eine Kollision mit dem Steuerrecht erscheint ausgeschlossen, da die Besteuerung – allein aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben – nur schwerlich Ausmaß und Intensität für einen Eingriff in Menschenrechte zu erreichen vermag.S. 310

Abb. 2 Bindungswirkung im internationalen Steuerrecht (ohne EU-Recht) [5]

3. Gleichheitsrechtliche Aspekte

[i]Treaty Override kann im Einzelfall gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenBei der Prüfung des Gleichheitsgrundsatzes verliert das Verfassungsgericht in angemessener Form nur wenige Worte. Die Ausführungen bedürfen jedoch einer genaueren Auswertung, da die Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG womöglich noch für andere Treaty Overrides bzw. DBA-Klauseln relevant werden.

Hinweis: Der Prüfungsmaßstab des Gleichheitsgrundsatzes im Steuerrecht ist stets zweiteilig. Zum einen müssen Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch besteuert werden (horizontale Steuergerechtigkeit). Zum anderen muss die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen (vertikale Steuergerechtigkeit).

Zutreffend [i]§ 50d Abs. 8 EStG: Vergleichsgruppe Arbeitnehmer und Selbständigebenennt das Gericht zunächst als Vergleichsgruppe im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer einerseits und dort tätige Selbständige andererseits. Nur erstere fallen unter § 50d Abs. 8 EStG. Die Ungleichbehandlung erscheint evident. Für die Rechtfertigung lässt das Bundesverfassungsgericht einen vernünftigen, einleuchtenden Grund im Sinne des Willkürverbots genügen. Hierfür stellt es zu Recht auf die geringe Eingriffsintensität der Norm ab und belässt es beim Stichwort der Missbrauchsvermeidung. Woher dessen Anwendung im Streitfall kommt, ist indes fraglich. Denn während es im streitgegenständlichen DBA-Türkei a. F. an einer expliziten Klausel zur Missbrauchsvermeidung fehlte, ist die Berücksichtigung eines ungeschriebenen Missbrauchsvorbehalts bislang ungeklärt. [6] Ohnehin ergibt sich ein möglicher Missbrauch nur im anderen Vertragsstaat des DBA, wie das Gericht durch den Verweis auf die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 50d Abs. 8 EStG unmittelbar deutlich macht. [7]

[i]Vertragspartner hat kaum Interesse an deutschem Treaty OverrideEtwas überraschend blendet der Senat die Argumentationslinie des BFH im Vorlagebeschluss zur Missbrauchsvermeidung als Rechtfertigungsgrund aus. Deutschland schwingt sich letztlich zum Hüter fremden Besteuerungssubstrats auf. Das als Rechtfertigungsgrund gelten zu lassen, setzt allerdings voraus, dass der ausländische Staat daran tatsächlich ein Interesse hat. [8] Unmittelbar dürfte der Treaty Override den anderen Vertragsstaat des DBA allerdings kaum interessieren, schlicht weil er an den daraus generierten Steuermehreinnahmen nicht partizipiert. Mittelbar entsteht womöglich eine gewisse Abschreckungswirkung zugunsten des ausländischen Staates, vor allem, S. 311wenn sein Steuerniveau unter dem deutschen liegt. Dieses mittelbare Interesse mag man (noch) genügen lassen. [9]

4. Sondervotum

Die Vorstellung, welche der BFH in seinem Vorlagebeschluss zum Verhältnis von Verfassungs- und Völkerrecht formuliert, wurde von der Senatsmehrheit im Verfassungsgericht dezidiert abgelehnt. Lediglich die Richterin König schlägt sich nach Maßgabe des Sondervotums auf die Seite des BFH.

[i]Einzige Völkerrechtlerin teilt BFH-MeinungAls einzige Völkerrechtlerin im Senat teilt sie die hervorgehobene Bedeutung der Materie im Zeitalter stetig fortschreitender Globalisierung. Die von ihr geforderte Einzelfallabwägung zur Auflösung des Spannungsverhältnisses vermag jedoch kaum zu überzeugen. Die Abwägungskriterien bleiben vage und scheinen keine zuverlässigen und voraussehbaren Lösungen zu bieten. Hinzu tritt der uferlose Anwendungsbereich einer solchen Regelung. [10]

Hinweis: Zudem ist das Argument der Senatsmehrheit nachvollziehbar, dass dem Gesetzgeber unmittelbar keine völkerrechtlichen Lösungsmöglichkeiten eines eventuellen Spannungsverhältnisses von nationalem und Völkerrecht offen stehen. Weder kann der Gesetzgeber selbst ein DBA nachverhandeln noch kündigen.

Nähme man eine solche Abwägung im Fall des § 50d Abs. 8 EStG vor, so unterläge dessen Rechtfertigung wohl unstreitig der Einhaltung des DBA als völkerrechtlichem Vertrag. Die einzigen denkbaren Rechtfertigungsgründe der Steuerehrlichkeit und Verhinderung von Steuermissbrauch erscheinen schon deshalb untauglich, weil sie sich nur auf das Verhalten des Steuerpflichtigen im anderen Vertragsstaat beziehen. Diese Motive wirken im Streitfall ausschließlich zugunsten der Türkei. Im Inland schlagen sich unmittelbar – wie vom BFH zutreffend identifiziert – nur die fiskalischen Interessen nieder. Daraus lässt sich keine Rechtfertigung in Form einer Gemeinwohlorientierung des § 50d Abs. 8 EStG ableiten.

III. Praktische Auswirkungen der Entscheidung

An der Verfassungsmäßigkeit des § 50d Abs. 8 EStG besteht nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nun keinerlei Zweifel mehr.

Hinweis: Das [i]§ 50d Abs. 8 EStG auch für künftige DBA wirksambetrifft gleichermaßen den Fall, in dem ein DBA zeitlich nach § 50d Abs. 8 EStG abgeschlossen wurde. Die gegenteilige Auffassung [11] stützte sich – wie der BFH in seinem hier beschiedenen Vorlagebeschluss – auf die Idee der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Diese kann jedoch nicht als Kollisionsregel herangezogen werden. Gegenüber einem DBA ist § 50d Abs. 8 EStG die speziellere Norm, [12] so dass sie durch künftige DBA grundsätzlich ebenso wenig verdrängt wird – lex posterior generalis non derogat legi priori specialis.

[i]Auswirkung auf andere Treaty Overrides bleibt unklarUngleich interessanter ist indes ohnehin die Frage nach der Bedeutung der vorliegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für das internationale Steuerrecht insgesamt. Abschließend geklärt erscheint, dass die Rechtsfigur des Treaty Overrides generell von Verfassungs wegen unbeanstandet bleibt. Trotzdem ist die Diskussion um die S. 312Zulässigkeit von Treaty Overrides weiterhin ein Stück weit offen. Denn die Entscheidung des Senats macht deutlich, dass – wenn auch nur im Einzelfall – ein Verfassungsbruch vorliegen kann, sofern und soweit die streitentscheidende Norm die Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG unterschreitet.

Hinweis: Da § 50d Abs. 8 EStG unter der Vielzahl von Treaty Overrides im deutschen Steuerrecht der mit der geringsten Eingriffsintensität ist, sind weitere Diskussionen vorprogrammiert. [13]

[i]Praxisbedeutung verschiebt sich von nationaler Ebene auf die DBA-EbeneÄhnlich wie schon vor dem Vorlagebeschluss des BFH dürfte sich die Problematik infolge abnehmender Praxisrelevanz allerdings insgesamt entspannen. Die Vertragsstaaten auf DBA-Ebene sind bereits seit einigen Jahren dazu übergangen, explizit Klauseln zur Missbrauchsabwehr in den Vertragstext zu integrieren. [14] Damit wird sich die verfassungsrechtliche Prüfung künftig von der Ebene des Treaty Overrides auf die Klauseln im DBA verlagern. Eine entsprechende Entwicklung ist beispielsweise in Österreich bereits angestoßen worden. [15] Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dürften nur eine Frage der Zeit sein.

[i]BVerfG relativiert ZulässigkeitshürdenUnter diesem Aspekt sind schließlich noch einmal die Ausführungen in der Zulässigkeitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts hervorzuheben. Dort gewährt das Gericht zwei Erleichterungen, die auch für künftige Vorlagen nach Karlsruhe bedeutsam erscheinen. Zum einen genügt für die Frage der Entscheidungserheblichkeit – in Fortführung der bisherigen Rechtsprechung – die Darlegung der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist. Zum anderen ist es für die zwingend vorzunehmende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entbehrlich, sämtliche Kammerentscheidungen auszuwerten.

Fazit

Nachdem man infolge der „Zulässigkeitsrüge“ durch das Verfassungsgericht schon eine Abweisung aus formalen Gründen befürchten musste, ist die Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts überaus begrüßenswert. Verfassungsrechtlich belässt die Entscheidung alles beim Alten. Steuerrechtlich ist nun geklärt, dass ein Treaty Override grundsätzlich verfassungskonform und daher rechtlich nicht zu beanstanden ist. Im Einzelfall kann sich gleichwohl eine Verfassungswidrigkeit ergeben, etwa aufgrund einer Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitsgrundsatz) oder wegen eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot.

Autoren

Matthias Trinks,
Dipl.-Jurist., BSc. BA, ist Lehrbeauftragter für Steuerrecht an der FH Dortmund. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen des grenzüberschreitenden Ertrag- und Umsatzsteuerrechts und moderiert hierzu in der NWB Community.

Dr. Robert Frau
ist Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/O. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit den Wirkungen des Völkerrechts in der deutschen Rechtsordnung.

Fundstelle(n):
IWB 8 / 2016 Seite 308 - 312
NWB DAAAF-71719

1 NWB RAAAE-09077; dazu Cloer/Trinks, IWB 11/2012 S. 402 NWB BAAAE-11018.

2

3Etwa NWB JAAAE-55050; NWB SAAAE-75265.

4 NWB HAAAE-96103.

5Konsultationsvereinbarungen können Recht nur in Übereinstimmung mit dem jeweils betroffenen DBA setzen, s. NWB BAAAF-04542.

6Frau/Trinks, DÖV 2013 S. 228, 233; Trinks, EWS 2013 S. 218.

7BT-Drucks. 15/1562 S. 39 f.

8Dieses Interesse bejahend – ohne Begründung – Mitschke, IStR 2015 S. 629.

9Mit nicht zu vernachlässigenden Einwänden Thiemann, JZ 2012 S. 908, 909.

10Frau, JuWissBlog vom unter https://www.juwiss.de/.

11 NWB MAAAE-46995 mit Anm. Wagner, EFG 2013 S. 1932; Revision am BFH unter Az. I R 64/13.

12Drüen in: Tipke/Kruse, AO - FGO, Loseblattkommentar [Stand Januar 2016], § 2 AO, Rn. 38.

13Pro Verfassungsmäßigkeit von § 50d Abs. 9 EStG nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts etwa bereits Mitschke, DStR 2016 S. 376 f.

14Im Überblick für den EWR-Raum Trinks, EWS 2013 S. 218.

15Lang, SWI 2014 S. 402, 409.