BGH Urteil v. - VI ZR 116/12

Haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang: Sturz eines Verkehrsunfallbeteiligten bei eisglatter Fahrbahn während der Inaugenscheinnahme der Unfallfolgen

Leitsatz

Verlässt ein Unfallbeteiligter wegen eines Auffahrunfalls bei eisglatter Fahrbahn sein Fahrzeug, um sich über die Unfallfolgen zu informieren, eröffnet er dadurch nicht selbst einen eigenständigen Gefahrenkreis. Stürzt er infolge der Eisglätte, verwirklicht sich nicht eine aufgrund der Straßenverhältnisse gegebene allgemeine Unfallgefahr, sondern die besondere durch den Unfall entstandene Gefahrenlage.

Gesetze: § 823 Abs 1 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 1 Abs 2 StVO, § 3 Abs 1 S 1 StVO, § 4 Abs 1 S 1 StVO, § 7 StVG

Instanzenzug: OLG Oldenburg (Oldenburg) Az: 14 U 36/11vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg) Az: 2 O 1378/11

Tatbestand

1Der Kläger verlangt Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden aufgrund einer Schulterverletzung, die er sich durch den Sturz auf eisglatter Fahrbahn nach einem Verkehrsunfall zugezogen hat.

2Am rutschte der Pkw der Beklagten gegen den vor einer vorfahrtsberechtigten Straße anhaltenden Pkw des Klägers. Dabei verhakte sich die vordere Stoßstange des Pkw der Beklagten mit der Anhängerkupplung am Fahrzeug des Klägers, ohne dass die Fahrzeuge selbst beschädigt wurden. Der Kläger stieg nach dem Unfall aus und ging um die Fahrzeuge herum. Noch vor Erreichen des Gehwegs stürzte er auf der eisglatten Fahrbahn und zog sich einen Bruch des rechten Schultergelenks zu.

3Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit seinem Rechtsmittel verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

I.

4Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass dem Kläger ein Anspruch auf Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz weder aus der Haftung des Halters und Fahrers (§§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG) noch aus Verschulden gemäß § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 2 StVO gegen die Beklagte zustehe. Die Beklagte habe zwar ihre Pflicht zur Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt, als sie auf das Fahrzeug des Klägers auffuhr. Nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins stehe fest, dass sie entweder ihre Fahrgeschwindigkeit nicht den örtlichen Gegebenheiten angepasst, den notwendigen Abstand nicht eingehalten oder die im Verkehr erforderliche Aufmerksamkeit beim Heranfahren an das Fahrzeug des Klägers habe vermissen lassen. Bei gebotener wertender Betrachtung seien jedoch der Sturz des Klägers und die darauf beruhende Verletzung dem sorgfaltswidrigen Verhalten der Beklagten nicht zuzurechnen. Zwar schützten die Verhaltensregeln der Straßenverkehrsordnung die körperliche Integrität anderer Verkehrsteilnehmer. Realisiere sich im Schaden aber lediglich ein allgemeines Lebensrisiko, das nicht mit den Gefahren des Straßenverkehrs in einem inneren Zusammenhang stehe, könne der entstandene Schaden dem Unfallgeschehen nicht zugerechnet werden.

5Unstreitig sei der Kläger infolge der besonderen Eisglätte auf der Fahrbahn gestürzt. Dabei habe sich eine Gefahr verwirklicht, der andere Verkehrsteilnehmer ebenso ausgesetzt gewesen seien und die durch den von der Beklagten verursachten Unfall nicht erhöht worden sei. Der Sturz sei dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen. Dem Kläger stehe auch kein Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu. Auch wenn § 7 Abs. 1 StVG weit auszulegen sei, sei der Schaden des Klägers in einem Gefahrenkreis entstanden, der von der Betriebsgefahr des Pkw der Beklagten unabhängig sei.

II.

6Die Revision des Klägers hat Erfolg.

71. Das Berufungsgericht hat der Beklagten allerdings mit Recht ein fahrlässiges Verhalten im Straßenverkehr angelastet, weil sie entweder infolge einer den örtlichen Gegebenheiten nicht angepassten Fahrgeschwindigkeit oder zu geringen Abstands oder Unaufmerksamkeit auf das Fahrzeug des Klägers aufgefahren ist. Gegen diese ihr günstige Beurteilung wendet sich die Revision nicht.

82. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts haftet die Beklagte dem Kläger auch für die Folgen der Verletzung, die dieser durch den Sturz auf der eisglatten Fahrbahn erlitt. Für die Frage der Verschuldenshaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 StVO ist der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang zwischen den beiden Unfällen zu bejahen. Auch umfasst der Schutzbereich der Straßenverkehrsvorschriften, deren Verletzung durch die Beklagte zum Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Klägers geführt hat, den durch den Sturz entstandenen Schaden. Dazu haftet die Beklagte gemäß § 7 Abs. 1 StVG wegen der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs.

9a) Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der für die Verschuldenshaftung erforderliche haftungsbegründende Zurechnungszusammenhang zwischen dem durch die Beklagte verschuldeten Unfall und den Verletzungen des Klägers nicht gegeben sei, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

10Zwar lassen sich allgemein verbindliche Grundsätze, in welchen Fällen ein haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang bejaht oder verneint werden muss, nicht aufstellen. Letztlich kommt es auf eine wertende Betrachtung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls an (vgl. , VersR 2004, 529, 530 und vom - VI ZR 286/09, VersR 2010, 1662 Rn. 20). Auch kann der Verursachungsbeitrag eines Zweitschädigers einem Geschehen eine Wendung geben, die die Wertung erlaubt, dass die durch den Erstunfall geschaffene Gefahrenlage für den Zweitunfall von völlig untergeordneter Bedeutung ist und eine Haftung des Erstschädigers nicht mehr rechtfertigt (vgl. und vom - VI ZR 286/09, jeweils aaO). So liegt der Streitfall aber gerade nicht. Wirken in einem weiteren Unfall die besonderen Gefahren fort, die sich bereits im ersten Unfallgeschehen ausgewirkt hatten, kann der Zurechnungszusammenhang mit dem Erstunfall jedenfalls nicht verneint werden.

11Der erkennende Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich in dem Sturz des Klägers ausschließlich die durch die Straßenverhältnisse begründete allgemeine Unfallgefahr verwirklichte. Auch wenn zum Unfallzeitpunkt aufgrund der winterlichen Straßenverhältnisse die Gefahr allgemein gegeben war, dass Fußgänger ins Rutschen geraten und stürzen, war für die Verletzung des Klägers entscheidend, dass er nur wegen des Auffahrunfalls aus seinem Fahrzeug ausstieg und über die eisglatte Fahrbahn ging, um die Unfallstelle zu besichtigen und zum Gehsteig zu gelangen. Der vom Berufungsgericht gezogene Vergleich mit einem beliebigen anderen Fußgänger, der zu dieser Zeit auf den Straßen des Unfallorts unterwegs war, lässt dies unberücksichtigt. Ohne den Unfall hätte der Kläger sein Fahrzeug an der Unfallstelle nicht verlassen und wäre auch nicht infolge der dort bestehenden Eisglätte gestürzt. In dem Sturz des Klägers realisierte sich mithin die besondere Gefahrenlage für die an einem Unfall beteiligten Fahrzeugführer, die zur Aufnahme der erforderlichen Feststellungen für eine gegebenenfalls notwendige Schadensabwicklung aus dem Fahrzeug aussteigen und sich auf der Fahrbahn bewegen müssen. Der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang mit dem von der Beklagten verschuldeten Unfall kann danach nicht verneint werden.

12b) Die vom Kläger geltend gemachten Unfallfolgen fallen auch in den Schutzbereich der von der Beklagten verletzten Vorschriften. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es anerkannt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Eine Haftung besteht nur für diejenigen äquivalenten und adäquaten Schadensfolgen, die aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte Vertragspflicht übernommen wurde (vgl. , BGHZ 27, 137, 140 ff.; vom - VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359, 364; vom - VI ZR 1/67, VersR 1968, 800, 802 f. und vom - VI ZR 157/11, VersR 2012, 905 Rn. 14; , NJW 2010, 2873 Rn. 24; vom - X ZR 163/02, NJW 2005, 1420, 1421; Palandt/Grüneberg, BGB, 72. Aufl., vor § 249 Rn. 29 f. mwN). Der geltend gemachte Schaden muss in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein "äußerlicher", gleichsam "zufälliger" Zusammenhang genügt nicht. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten (vgl. , VersR 1988, 1273, 1274; vom - VI ZR 259/02, VersR 2003, 1128, 1130; , NJW 1986, 1329, 1332, jeweils mwN). Diese Frage ist nicht nur in Fällen der Haftung aus der Verletzung eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB) zu stellen, sondern auch für § 823 Abs. 1 BGB und § 7 StVG. Dem Täter sollen nur solche Folgen zugerechnet werden, die durch den Gebots- und Verbotszweck der Norm verhindert werden sollen. Hiernach sind Sinn und Tragweite der verletzten Norm zu untersuchen, um zu klären, ob der geltend gemachte Schaden durch diese Norm verhütet werden sollte.

13Von diesen Grundsätzen geht zwar das Berufungsgericht aus. Doch fasst es den Schutzbereich der von der Beklagten missachteten straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften der § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 StVO zu eng. Deren Schutzzweck erstreckt sich, wie schon aus § 1 StVO zu entnehmen ist, auf die Verhütung von Unfallrisiken und die mit dieser Bedrohung für Leben und Gesundheit in einem inneren Zusammenhang stehenden Gesundheitsschäden. Hierzu können auch erst im Anschluss an den Verkehrsunfall also bei der Bergung oder bei der Unfallaufnahme erlittene Verletzungen gehören, in denen sich die Gefahren des Straßenverkehrs an der Unfallstelle verwirklichen (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359, 364). Mithin wird auch der durch den Sturz bedingte Schaden des Klägers vom Schutzzweck der von der Beklagten missachteten Straßenverkehrsvorschriften umfasst.

14c) Irrigerweise hat das Berufungsgericht auch die Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte aus Gefährdungshaftung gemäß §§ 7, 11 StVG verneint.

15Voraussetzung des § 7 Abs. 1 StVG ist, dass eines der dort genannten Rechtsgüter "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs" verletzt worden ist. Auch das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass dieses Haftungsmerkmal nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen ist. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. , BGHZ 105, 65, 66 f.; vom - VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261 Rn. 17; vom - VI ZR 96/87, VersR 1988, 641; vom - VI ZR 241/88, VersR 1989, 923, 924 f. und vom - VI ZR 33/90, VersR 1991, 111, 112). Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist (vgl. , BGHZ 37, 311, 315 ff.; vom - VI ZR 204/79, BGHZ 79, 259, 262 f.; vom - VI ZR 43/11 aaO; vom - VI ZR 241/88 aaO und vom - VI ZR 33/90 aaO). An dem auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es dann, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 168/04, VersR 2005, 992, 993 mwN). Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es außerdem maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. , VersR 1972, 1074 f.; vom - VI ZR 104/71, VersR 1973, 83 f. und vom - VI ZR 218/03, VersR 2004, 529, 531).

16Nach diesen Grundsätzen ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Verletzung des Klägers der vom Fahrzeug der Beklagten ausgehenden Betriebsgefahr zuzurechnen. Auch das Berufungsgericht bejaht zutreffend den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auffahrunfall und dem Sturz des Klägers. Anders als das Berufungsgericht meint, fällt der Schaden des Klägers jedoch gerade nicht deshalb in einen Gefahrenkreis, der unabhängig von der Betriebsgefahr bestand, weil zur Zeit des Unfalls auf den Straßen des Unfallortes eine allgemeine Eisglätte herrschte. Anders als in dem vom Berufungsgericht für seine Auffassung zitierten Senatsurteil vom - VI ZR 6/91, BGHZ 115, 84 ff. verwirklichte sich beim Sturz des Klägers nicht ein von ihm selbst eröffneter eigenständiger Gefahrenkreis, dessen Risiken er selbst tragen muss. Vielmehr wurde der Kläger durch den beim Betrieb des Fahrzeugs von der Beklagten verursachten Auffahrunfall erst veranlasst, aus seinem Pkw auszusteigen und über die eisglatte Fahrbahn zu gehen, um sich über die Unfallfolgen zu informieren.

173. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs ist Aufgabe des Tatrichters (Senatsurteil vom - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388 Rn. 11).

Galke                         Zoll                              Diederichsen

               Pauge                      von Pentz

Fundstelle(n):
NJW 2013 S. 1679 Nr. 23
NJW 2013 S. 8 Nr. 14
NWB-Eilnachricht Nr. 16/2013 S. 1147
KAAAE-32578