BVerwG Beschluss v. - 9 B 79/11; 9 PKH 7/11; 9 VR 1.12; 9 PKH 1.12

Leitsatz

Leitsatz:

Die Zulässigkeit der Klage setzt regelmäßig die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraus. Im Hinblick auf den aus Art. 19 Abs. 4 GG fließenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kann diese Angabe ausnahmsweise entfallen, wenn besondere dem Gericht mitgeteilte Gründe dies rechtfertigen, etwa fehlender Wohnort wegen Obdachlosigkeit oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse (stRspr, wie BVerwG 1 C 24.97 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 19).

Gesetze: GG Art. 19 Abs. 4; VwGO § 82 Abs. 1; ZPO § 130 Nr. 1

Instanzenzug: VG Schwerin, VG 4 A 2111/03 vom OVG Mecklenburg-Vorpommern, OVG 1 L 266/06 vom Veröffentlichungen: Fachpresse: ja; Amtliche Sammlung: nein

Gründe

I. Dem Kläger kann Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, vielmehr aussichtslos erscheint (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO).

II. Die Beschwerde ist unbegründet. Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

1. Die Frage:

"Setzt der für die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift konstitutive Begriff der Wohnung voraus, dass der als Wohnung dienende Raum nicht nur vorübergehend, also eine deutlich größere Zeitspanne als wenige Tage bewohnt werden muss?"

verleiht der Rechtssache nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung. Denn in einem Revisionsverfahren käme es auf die Beantwortung dieser Frage nicht an.

Das Oberverwaltungsgericht ist nach umfassender Würdigung aller einschlägigen Tatsachen davon ausgegangen, dass der Kläger bis zum Ablauf der von dem Verwaltungsgericht gesetzten Ausschlussfrist am keine ladungsfähige Anschrift bezeichnet hat, weil seine Behauptungen sowie die Zeugenaussagen und die sich aus den sonstigen Unterlagen ergebenden Umstände zu der vom Kläger als ladungsfähig angegebenen Anschrift B.straße 89 in H. ein derart widersprüchliches Bild ergäben, dass die Behauptungen des Klägers unauflösbar unglaubhaft seien (UA S. 20, 26). Aus der Gesamtschau der dargestellten Gesichtspunkte ergebe sich das Bild, dass der Kläger die Räumlichkeiten unter der genannten Anschrift nicht bewohnt habe; es fehlten selbst hinreichende Anhaltspunkte für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Räumlichkeiten. Der Kläger habe vielmehr die betreffende Anschrift allenfalls wie ein Postfach zeitweise als Postanschrift benutzt. Danach geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass es sich bei der vom Kläger angegebenen Anschrift wegen der widersprüchlichen Angaben nicht um eine ladungsfähige Anschrift gehandelt und dass der Kläger noch nicht einmal kurzzeitig bzw. vorübergehend und besuchsweise in den Räumlichkeiten gewohnt hat (UA S. 27). Gegen die Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat der Kläger Verfahrensrügen nicht erhoben. Steht danach fest, dass der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht auch nur kurzzeitig gewohnt hat, kommt es auf die Frage, ab welcher Aufenthaltsdauer ein "Wohnen" angenommen werden kann, nicht an.

Daran ändert nicht, dass das Oberverwaltungsgericht darüber hinaus angeführt hat, ein vielleicht kurzzeitiger bzw. vorübergehender und besuchsweiser Aufenthalt zum Übernachten in den Räumlichkeiten könne die Annahme einer ladungsfähigen Anschrift ebenfalls nicht rechtfertigen (UA S. 27); denn insoweit handelt es sich um eine weitere Begründung, die die selbstständige Tragfähigkeit der erstgenannten Begründung nicht berührt. Die Zulassung der Revision kommt nicht in Betracht, wenn - wie hier - im Falle einer mehrfachen, die Entscheidung jeweils selbstständig tragenden Begründung des angefochtenen Urteils die Beschwerde nicht in Bezug auf jede dieser Begründungen einen Zulassungsgrund erfolgreich geltend gemacht hat ( BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 n.F. VwGO Nr. 26 S. 15).

Gleiches gilt für die weitere Begründung des Oberverwaltungsgerichts, soweit es eine hinreichende Bezeichnung der ladungsfähigen Anschrift durch den Kläger im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vom deshalb verneint hat, weil mit der Angabe, er wohne "jetzt" bei seiner Schwester, allenfalls ein für die Annahme einer ladungsfähigen Anschrift nicht ausreichender besuchsweiser bzw. kurzzeitiger und vorübergehender Aufenthalt behauptet werde (UA S. 29).

2. Die weitere Frage:

"Reicht es für eine ordnungsgemäße Klage aus, dass das Gericht den Eindruck gewinnt, dass der Kläger über keine ladungsfähige Anschrift verfügt, ohne dass es darüber hinaus noch maßgeblich auf die Gründe für diesen Umstand ankommt, und, wenn die Gründe hierfür doch maßgeblich sind, abstrakt welche Gründe wären zureichend, um von der Angabe einer ladungsfähigen Anschrift als Zulässigkeitsvoraussetzung abzusehen?"

erfüllt die Anforderungen für die Zulassung der Revision ebenfalls nicht. Um den ersten Teil der Frage zu beantworten, bedarf es nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 1 BvR 2211/94 - NJW 1996, 1272 und vom - 1 BvR 1203/99 - [...]; BVerwG 1 C 24.97 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 19 S. 8; IVb ZR 4/87 - BGHZ 102, 332 <336>; - [...] Rn. 15). Es liegt auf der Hand, dass damit objektive Gegebenheiten gemeint sind, zu denen konkrete Feststellungen getroffen werden müssen. Bloße Eindrücke oder Vermutungen des Gerichts reichen also nicht aus.

Der zweite Teil der Frage ist schon zu unbestimmt, um einen Klärungsbedarf zu begründen. Ohne Angabe von Gründen, die nach Auffassung der Beschwerde den Verzicht auf die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift rechtfertigen könnten, fehlt es dieser Fragestellung am notwendigen Bezug zu dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt und damit an einer Grundlage zur Beurteilung ihrer Entscheidungserheblichkeit. Das Revisionszulassungsverfahren dient nicht der Klärung abstrakt ohne Bezug zum Rechtsstreit interessierender Rechtsfragen. Gleiches gilt für die in der ergänzenden Beschwerdebegründung vom konkretisierend aufgeworfene Frage:

"Genügt im Falle des Fehlens einer ladungsfähigen Anschrift unter der Prämisse, allein dieser Umstand führt noch nicht zur Unzulässigkeit der Klage, sondern es sind auch die Gründe hierfür maßgeblich (siehe erster Teil der Frage), die fehlende Sesshaftigkeit als sich bereits über einen längeren Zeitraum verfestigte Lebensweise des Klägers, das wirtschaftliche Unvermögen zur Errichtung eines eigenen Wohnsitzes oder die drohende Gefahr der Zwangsvollstreckung?"

Weder hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass der Kläger nicht sesshaft ist, noch, dass er wirtschaftlich nicht in der Lage ist, einen eigenen Wohnsitz zu begründen, noch, dass ihm die Gefahr der Zwangsvollstreckung droht.

3. In einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig ist auch die weitere Frage:

"Sind bei belastenden Verwaltungsakten geringere Anforderungen an die Zulässigkeitsvoraussetzung der Bezeichnung einer ladungsfähigen Anschrift derart zu stellen, dass insoweit - ungeachtet einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des Klägers etwa mit Blick auf § 82 Abs. 2 VwGO - im Zweifel vor einer Klageabweisung aufgrund fehlender Angabe einer ladungsfähigen Anschrift die Zustellung an den Kläger ebenso wie dessen persönliches Erscheinen und die Beitreibung entstandener Gerichtskostenforderungen anderweitig, Letzteres etwa durch Sicherheitsleistung, sicherzustellen versucht werden muss?"

Denn in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Zulässigkeit der Klage regelmäßig die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraussetzt, ohne dass insoweit nach Klagearten differenziert wird, § 82 Abs. 1 VwGO, § 173 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO (Urteil vom a.a.O. S. 3 ff.; BVerwG 1 B 79.05 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 22; a.a.O. S. 334 f.; - [...] Rn. 11 ff.; vgl. auch - NVwZ-RR 1996, 179; - [...] Rn. 3 f.; - [...] Rn. 19 ff. = BeckRS 2011, 16758; a.A. VGH Mannheim, Urteil vom - 1 S 662/95 - NVwZ 1997, 1233). Ebenfalls ist geklärt, dass die Pflicht zur Angabe der Anschrift im Hinblick auf den aus Art. 19 Abs. 4 GG fließenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der unabhängig von der jeweiligen Klageart besteht, ausnahmsweise entfällt, etwa bei fehlendem Wohnort wegen Obdachlosigkeit oder wegen eines schutzwürdigen Geheimhaltungsinteresses, wenn dem Gericht die Gründe hierfür mitgeteilt werden (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom a.a.O. und vom a.a.O.; a.a.O. S. 8; a.a.O. S. 336; - BFHE 193, 52 <55>; Beschluss vom a.a.O. Rn. 14 f.). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist jedoch eine Frage des jeweiligen Einzelfalles und deshalb einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.

4. Die weitere Frage:

"Kann für die Zulässigkeit einer Klage die Angabe der ladungsfähigen Anschrift auch dann verlangt werden, wenn der Kläger sich bei ihrer Nennung der Gefahr einer Verhaftung aussetzen würde?"

ist schon deshalb in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, weil das Oberverwaltungsgericht auch insoweit weder Tatsachen festgestellt noch in den Entscheidungsgründen darauf abgestellt hat. Zwar ist im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom festgehalten, dass gegen den Kläger zwei staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren anhängig sein sollen und er darüber hinaus zur Fahndung ausgeschrieben sein soll. Das Oberverwaltungsgericht ist dem jedoch nicht nachgegangen. Soweit der Einwand des nicht festgestellten Sachverhalts einer Grundsatzbeschwerde ausnahmsweise dann nicht entgegengehalten werden kann, wenn eine in der Vorinstanz ordnungsgemäß beantragte Sachverhaltsaufklärung nur deswegen unterblieben ist, weil das Tatsachengericht die als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage anders als der Beschwerdeführer beantwortet und deswegen die Beweisaufnahme als nicht entscheidungserheblich abgelehnt hat (s. BVerwG 8 B 287.99 - BVerwGE 111, 61 <62> = Buchholz 428 § 30a VermG Nr. 14), liegt dieser Ausnahmefall hier nicht vor. Denn der Kläger hatte einen Beweisantrag zur Gefahr seiner Verhaftung nicht gestellt und auf eine diesbezügliche Aufklärung auch nicht hingewirkt. Da im Übrigen ein etwaiger Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO mit der Beschwerde ausdrücklich nicht geltend gemacht und demzufolge nicht dargelegt worden ist (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), kommt die Zulassung der Revision auch unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht.

III. Der zulässige Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides (§ 80 Abs. 5, § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO) bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Zwar ist das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache und überdies kraft bindender Verweisung der Sache durch das zunächst angerufene Verwaltungsgericht für die Entscheidung über den Antrag zuständig. Der Antrag ist jedoch nicht begründet, weil mit der Zurückweisung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der Haftungsbescheid vom bestandskräftig wird.

IV. Die Kostenpflicht des Klägers für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Beschwerdeverfahren (auf den Betrag des Haftungsbescheides) beruht auf § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG, für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. II.1.5, 3.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Fundstelle(n):
ZAAAE-04080