EuGH Urteil v. - C-306/94

Umsatzsteuer: Hilfsumsätze im Bereich der Finanzgeschäfte

Leitsatz

Nach Artikel 19 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer darf ein Unternehmen, das Gegenstände und Leistungen sowohl für Umsätze verwendet, für die ein Recht zum Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, von seiner Steuerschuld die von ihm entrichtete Vorsteuer in Höhe eines Pro-rata-Satzes abziehen, der sich aus einem Bruch ergibt, der im Nenner den Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug berechtigenden sowie der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze enthält, wobei gemäß Artikel 19 Absatz 2 der Umsatzbetrag ausser Ansatz bleibt, der nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d von der Mehrwertsteuer befreit ist, wenn es sich um Hilfsumsätze handelt.

Nach Artikel 19 Absatz 2 der genannten Richtlinie sind Gelderträge, die ein Unternehmen der Immobilienverwaltung als Entgelt für die auf eigene Rechnung erfolgte Anlage von Mitteln erhält, die es von den Eigentümern oder Mietern erhalten hat, in den genannten Nenner einzubeziehen. Diese Erträge stellen zwar das Entgelt für Dienstleistungen dar, die der Mehrwertsteuer unterliegen und nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d von ihr befreit sind, doch kann die fragliche Anlage nicht zu den Hilfsumsätzen gerechnet werden, weil im Bezug der Zinsen dafür eine unmittelbare, dauerhafte und notwendige Erweiterung der steuerbaren Tätigkeit der Unternehmen der Immobilienverwaltung liegt.

Gesetze: RL 77/388/EWG Art. 19

Instanzenzug: , , ,

Gründe

1 Die Cour administrative d' appel Lyon hat mit Urteil vom 26. Oktober 1994, beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Firma R+gie dauphinoise ° Cabinet A. Forest (Klägerin) und dem Ministre du Budget (Finanzminister), in dem es um die Berücksichtigung von Gelderträgen aus der Geldanlagetätigkeit der Klägerin bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs geht.

3 Das Recht auf Vorsteuerabzug ist in Artikel 17 der Sechsten Richtlinie geregelt. Nach Artikel 17 Absatz 2 ist der Steuerpflichtige zum Vorsteuerabzug nur befugt, soweit "die Gegenstände und Leistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden". Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, ist der Vorsteuerabzug gemäß Artikel 17 Absatz 5 nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt.

4 Die Berechnung des Pro-rata-Satzes wird durch Artikel 19 festgelegt. In Artikel 19 Absatz 2 heisst es:

"In Abweichung von Absatz 1 bleibt der Umsatzbetrag bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs ausser Ansatz, der auf die Lieferung von Investitionsgütern entfällt, die vom Steuerpflichtigen in seinem Unternehmen verwendet werden. Ausser Ansatz bleiben auch die Hilfsumsätze im Bereich der Grundstücks- und Finanzgeschäfte sowie die in Artikel 13 Teil B Buchstabe d) genannten Umsätze, wenn es sich um Hilfsumsätze handelt."

5 Artikel 13 Teil B bestimmt:

"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:

...

d) die folgenden Umsätze:

1. die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber,

...

3. die Umsätze ° einschließlich der Vermittlung ° im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einziehung von Forderungen,

..."

6 Die Klägerin ist hauptsächlich als Grundstücks- und Hausverwalterin tätig. Ihre Tätigkeit umfasst die Verwaltung vermieteter Immobilien im Auftrag der Eigentümer und die Wahrnehmung der Aufgaben des Verwalters in Miteigentum stehender Objekte. Hierfür vertrauen die Miteigentümer und Mieter, deren Immobilien die Klägerin verwaltet, ihr Geldvorschüsse an. Diese Beträge legt sie mit Einverständnis ihrer Klienten auf eigene Rechnung bei Finanzinstituten an. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin erläutert, daß sie mit der Einzahlung dieser Beträge auf ihr Konto das Eigentum an ihnen erwirbt. Sie ist zu ihrer Rückzahlung verpflichtet, darf aber die Erträge der Geldanlagen behalten, die etwa 14 % ihrer jährlichen Gesamteinnahmen ausmachen.

7 Für die ° im Ausgangsverfahren streitige ° Zeit vom bis nahm die Klägerin den Vorsteuerabzug für die gesamte von ihr entrichtete Vorsteuer in Anspruch.

8 Die Steuerverwaltung gelangte jedoch nach einer allgemeinen Überprüfung der Buchführung der Klägerin im Jahr 1987 zu der Auffassung, es sei Artikel 212 des Anhangs II des französischen Code g+n+ral des imp_ts in der Fassung des Dekrets Nr. 1163 vom anzuwenden, der bestimmt:

"Die Steuerpflichtigen, die nicht ausschließlich zum Vorsteuerabzug berechtigende Umsätze ausführen, dürfen von der Mehrwertsteuer, mit der die das Anlagevermögen darstellenden Gegenstände belastet waren, einen Anteil abziehen, dessen Höhe durch die Multiplikation des Betrages dieser Steuer mit dem Bruch ermittelt wird, der das Verhältnis zwischen den Jahreseinnahmen aus zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätzen und den Jahreseinnahmen aus sämtlichen ausgeführten Umsätzen ausdrückt".

9 Die Steuerverwaltung nahm den Standpunkt ein, da die Gelderträge aus den Geldanlagegeschäften der Klägerin gemäß Artikel 261 C Absatz 1 Buchstaben a und d des Code g+n+ral des imp_ts, der Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummern 1 und 3 der Sechsten Richtlinie in das französische Recht umsetzt, von der Mehrwertsteuer befreit seien, sei der Vorsteuerabzug nur zu dem Pro-rata-Satz zulässig. Ausserdem dürften die Umsätze aus Geldanlagetätigkeit nach der ° in der entscheidungserheblichen Zeit geltenden ° Verwaltungsanweisung Nr. 3 D vom nicht als "Hilfsumsätze" im Sinne von Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes unberücksichtigt bleiben, da die Einnahmen daraus die Grenze von 5 % der Gesamteinnahmen des Unternehmens überschritten.

10 Demgemäß erließ die Steuerverwaltung gegen die Klägerin einen Bescheid über die Nachforderung von Mehrwertsteuer. Die Klägerin erhob hiergegen Klage beim Tribunal administratif Grenoble. Nach der erstinstanzlichen Abweisung der Klage legte sie bei der Cour administrative d' appel Lyon Berufung ein.

11 In ihrem Vorlageurteil vom führt die Cour administrative d' appel aus, da die Klägerin für ihre Geldanlagetätigkeit keine gesonderte Buchführung gehabt und für diese nicht besonderes Personal und spezielle Sachmittel eingesetzt habe, könne nicht davon ausgegangen werden, daß sie sämtliche mit der Bildung besonderer Bereiche verbundenen Verpflichtungen erfuellt habe. Sie könne daher nicht geltend machen, daß sie für ihre Geldanlagegeschäfte einen solchen besonderen Bereich gebildet habe.

12 Allerdings sei an den Gerichtshof die Frage zu richten, ob die von der Steuerverwaltung vertretene Auslegung des Artikels 212 des Anhangs II des Code g+n+ral des imp_ts mit der Sechsten Richtlinie vereinbar sei. Aus diesem Grund hat die Cour administrative d' appel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die obengenannten Vorschriften des Artikels 19 der Sechsten Richtlinie angesichts ihres Wortlauts dahin auszulegen, daß die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug durch ein mehrwertsteuerpflichtiges Unternehmen, das auch Gelderträge aus der Anlage liquider Mittel einnimmt, durch diese Anlageumsätze ° unter Berücksichtigung ihres Charakters im Verhältnis zum Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer ° grundsätzlich beeinflusst wird?

2. Falls ein Einfluß auf das Recht zum Vorsteuerabzug besteht, sind die Gelderträge dann in den Nenner des Pro-rata-Satzes einzubeziehen oder sind sie aufgrund ihres Charakters oder als "Hilfsumsätze im Bereich der Finanzgeschäfte" im Sinne von Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie mit Rücksicht auf ihre Höhe oder ihren Anteil an den Gesamteinnahmen oder auch weil diese Umsätze eine unmittelbare dauerhafte Erweiterung der steuerbaren Tätigkeit darstellen oder aus irgendeinem anderen Grund in diesem Nenner nicht zu berücksichtigen?

13 Mit diesen beiden gemeinsam zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob nach Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie in den Nenner des Bruchs, mit dem der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs berechnet wird, Gelderträge einzubeziehen sind, die ein Unternehmen der Immobilienverwaltung als Entgelt für die auf eigene Rechnung erfolgte Anlage von Mitteln erhält, die es von den Eigentümern oder Mietern erhalten hat.

14 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, ob die fraglichen Geldanlagen in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen.

15 Nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie, der den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer festlegt, unterliegen dieser nur Tätigkeiten mit wirtschaftlichem Charakter. Als Steuerpflichtiger gilt gemäß Artikel 4 Absatz 1, wer eine dieser wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig ausführt. Nach Artikel 4 Absatz 2 gehören zu den "wirtschaftlichen Tätigkeiten" alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden und insbesondere auch Leistungen, die die Nutzung von körperlichen oder nichtkörperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfassen. Nach Artikel 2 Nummer 1 schließlich unterliegt eine Tätigkeit nur dann der Mehrwertsteuer, wenn der Steuerpflichtige "als solcher" handelt.

16 Wie in Randnummer 6 erwähnt, erwirbt die Klägerin an den Mitteln, die ihr die Miteigentümer und Mieter der von ihr verwalteten Immobilien anvertrauen, das Eigentum, auch wenn sie sie zurückzahlen muß. Wegen ständiger Neuanlagen ist der Stand ihrer Bankkonten auch relativ konstant. Daher sind die Anlagen der Klägerin bei Finanzinstituten als an diese erbrachte Dienstleistungen anzusehen, nämlich als befristete Gelddarlehen, für die als Entgelt Zinsen gezahlt werden.

17 Anders als der Bezug von Dividenden durch eine Holdinggesellschaft, der nach dem Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache C-333/91 (Sofitam, Slg. 1993, I-3513, Randnr. 13) kein Entgelt für eine wirtschaftliche Tätigkeit ist und daher nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt, fallen Zinsen, die ein Unternehmen der Immobilienverwaltung für Geldanlagen erhält, die es auf eigene Rechnung mit von den Miteigentümern oder Mietern erhaltenen Mitteln vornimmt, in diesen Bereich, da Zinszahlungen nicht auf dem blossen Eigentum eines Wirtschaftsguts beruhen, sondern das Entgelt für die Überlassung von Kapital an einen Dritten darstellen.

18 Zwar unterlägen Dienstleistungen wie Geldanlagen eines Immobilienverwalters bei Banken der Mehrwertsteuer nicht, wenn sie von nicht als Steuerpflichtige handelnden Personen erbracht würden. Im Ausgangsfall aber liegt im Bezug von Zinsen, die ein Immobilienverwalter für die Anlage von Mitteln einnimmt, die er von seinen Klienten im Zusammenhang mit der Verwaltung ihrer Immobilien erhält, eine unmittelbare, dauerhafte und notwendige Erweiterung seiner steuerbaren Tätigkeit. Bei einer derartigen Geldanlage handelt der Immobilienverwalter deshalb als Steuerpflichtiger.

19 Da die Geldanlagen der Klägerin bei Finanzinstituten als Dienstleistungen in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, sind sie gemäß Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummern 1 und 3 der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit.

20 Damit stellt sich die Frage, ob sie Hilfsumsätze im Bereich der Finanzgeschäfte im Sinne von Artikel 19 Absatz 2 sind.

21 Mit der Regelung des Artikels 19, nach der Hilfsumsätze im Bereich der Finanzgeschäfte nicht in den Nenner des für die Berechnung des Pro-rata-Satzes verwendeten Bruchs einbezogen werden, soll die vollkommene Neutralität sichergestellt werden, die das gemeinsame Mehrwertsteuersystem garantiert. Wie der Generalanwalt in Nummer 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, würde die Berechnung des Vorsteuerabzugs verfälscht, wenn sämtliche Erträge aus Finanzgeschäften des Steuerpflichtigen, die einen Zusammenhang mit einer steuerbaren Tätigkeit aufweisen, in den fraglichen Nenner einbezogen werden müssten, auch wenn die Erzielung dieser Erträge keine oder eine jedenfalls nur sehr begrenzte Verwendung von Gegenständen oder Dienstleistungen erfordert, für die die Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

22 Allerdings gehen Geldanlagen von Unternehmen der Immobilienverwaltung auf Vorauszahlungen von Mitteln zurück, die die Miteigentümer und Mieter der verwalteten Immobilien diesen Unternehmen anvertrauen. Die Unternehmen können diese Beträge mit Zustimmung ihrer Klienten auf eigene Rechnung bei Finanzinstituten anlegen. Wie in Randnummer 18 ausgeführt, stellen die Zinseinnahmen aus diesen Geldanlagen die unmittelbare, dauerhafte und notwendige Erweiterung der steuerbaren Tätigkeit der Unternehmen der Immobilienverwaltung dar. Solche Geldanlagen können deshalb nicht als Hilfsumsätze im Sinne von Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie angesehen werden. Ihre Berücksichtigung bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs ist nicht geeignet, die Neutralität des Mehrwertsteuersystems zu beeinträchtigen.

23 Nach alledem ist auf die beiden Vorabentscheidungsfragen zu antworten, daß nach Artikel 19 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie Gelderträge, die ein Unternehmen der Immobilienverwaltung als Entgelt für die auf eigene Rechnung erfolgte Anlage von Mitteln erhält, die es von den Eigentümern oder Mietern erhalten hat, in den Nenner des für die Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs verwendeten Bruchs einzubeziehen sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
JAAAD-91513