BFH Urteil v. - VIII R 5/06 BStBl 2008 II S. 844

Berichtigung und Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zur Einleitung eines Strafverfahrens nach Eingang einer Selbstanzeige

Leitsatz

1. Nach dem das Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzip sind die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, nach Eingang einer Selbstanzeige ein Strafverfahren zum Zwecke der Prüfung der Straffreiheit gemäß § 371 Abs. 1 und 3 AO einzuleiten. Eine derartige Strafverfahrenseinleitung hemmt den Anlauf der Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO.

2. Ausnahmsweise hemmt aber eine Strafverfahrenseinleitung, die sich nach den für die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Einleitung bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen als greifbar rechtswidrig darstellt, den Anlauf der Festsetzungsfrist nicht.

Gesetze: AO § 169 Abs. 1 Satz 1AO § 235 Abs. 1 Satz 1AO § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3AO § 371 Abs. 1 und 3AO § 385 Abs. 1AO § 386 Abs. 2AO § 397 Abs. 1AO § 399 Abs. 1StPO § 152 Abs. 2StPO § 160 Abs. 1StPO § 170 Abs. 2

Instanzenzug: (EFG 2006, 474) (Verfahrensverlauf),

Gründe

I.

Streitig ist, ob der Beginn der Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen durch ein eingeleitetes Strafverfahren gehemmt wurde.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wandte sich mit Schreiben vom an den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt —FA—), um seine Einkommensteuererklärungen der Jahre 1987 bis 1996 zu berichtigen. Er gab bislang nicht erfasste Einkünfte aus Kapitalvermögen an und legte berichtigte Anlagen KSO sowie Bankbescheinigungen vor.

Das FA behandelte das Schreiben vom als Selbstanzeige und gab es am nächsten Tag urschriftlich an die zuständige Steuerfahndungsstelle (Steufa) mit der Bitte um Kenntnisnahme und weitere Veranlassung weiter. Mit Ermittlungsauftrag vom begann die Steufa, die steuerlichen Verhältnisse des Klägers im Rahmen seiner Selbstanzeige zu prüfen. Die Steufa ihrerseits unterrichtete die Straf- und Bußgeldsachenstelle (Strabu) am über die Selbstanzeige und fügte eine Kopie derselben bei. Die Strabu verfügte daraufhin am die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Kläger wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung ab 1987.

Die Steufa hielt in einem Aktenvermerk vom fest, dass die gemachten Angaben ohne nennenswerte Beanstandungen überprüft worden seien. Die Selbstanzeige sei ihres Erachtens wirksam. Von ihrer Seite habe man kein Verfahren eingeleitet. Die Strabu wurde von der Steufa entsprechend unterrichtet. Jene stellte mit Verfügung vom das Verfahren wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung 1989 bis 1992 mit der Begründung ein, dass eine wirksame Selbstanzeige vorliege.

Noch während der Prüfung durch die Steufa hatte das FA mit Bescheiden vom die Einkommensteuerfestsetzungen 1987 bis 1996 auf der Grundlage der Angaben des Klägers geändert, der die Bescheide bestandskräftig werden ließ und die Mehrsteuern bezahlte. Die von der Steufa für die Jahre 1989 bis 1992 vorgenommenen Korrekturen berücksichtigte das FA durch eine nochmalige Bescheidänderung.

Mit Bescheid vom setzte das FA Hinterziehungszinsen in Höhe von 33 332 DM fest. Berechnungsgrundlage der Festsetzung waren die in den Einkommensteueränderungsbescheiden vom festgesetzten Mehrsteuern. Den Beginn des Zinslaufs bestimmte das FA dergestalt, dass es —abgesehen von der hinterzogenen Einkommensteuer 1989— jeweils auf das Datum des Erlasses des Erstbescheids abstellte.

Mit Einspruch und Klage, die jeweils erfolglos blieben, wandte sich der Kläger gegen die Zinsfestsetzung. Zur Begründung führte er an, dass das FA im März 2000 keine Zinsen mehr habe festsetzen dürfen, weil die einjährige Zinsfestsetzungsfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Zu einer Anlaufhemmung gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) sei es nicht gekommen, weil kein Strafverfahren im Sinne dieser Vorschrift eingeleitet worden sei.

Das Finanzgericht (FG) wies mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 474 veröffentlichtem Urteil die Klage ab.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Weder die förmliche Verfügung der Verfahrenseinleitung noch die Prüfungshandlungen der Steufa seien das Strafverfahren einleitende Maßnahmen gewesen.

Bei den Prüfungshandlungen der Steufa habe es sich allenfalls um Vorfeldermittlungen zur Prüfung der Frage gehandelt, ob die Strafverfahrenseinleitung gerechtfertigt sei. Allgemeine Vorermittlungen oder die bloße Überprüfung einer Selbstanzeige seien keine einleitenden Maßnahmen, wenn —wie vorliegend— kein ernstlicher Anhaltspunkt für die Unwirksamkeit der Selbstanzeige gegeben sei. Dass der zuständige Fahndungsprüfer noch zweimal mit seinem Steuerberater habe telefonieren müssen, sei unschädlich. Denn die Selbstanzeige müsse nur soviel Material enthalten, dass das FA ohne Weiteres in der Lage sei, sich durch geringfügige eigene Aufklärungsarbeit Klarheit zu verschaffen.

Die förmliche Verfügung der Strabu vom könne nur als Scheinmaßnahme qualifiziert werden, die nicht das Ziel gehabt habe, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen. Die rein formale Handlungsweise komme bereits darin zum Ausdruck, dass zwar ein Verfahren für die Zeiträume ab 1987 eingeleitet, die Einstellungsverfügung sich aber nur auf die Jahre 1989 bis 1992 bezogen habe. Mehr als das Ausfüllen eines Formularvordrucks sei nicht geschehen, eigene Prüfungshandlungen der Strabu seien nicht ersichtlich. Die Einleitung sei im Übrigen rechtswidrig gewesen, weil die Selbstanzeige Straffreiheit begründet habe. Die Strabu sei deshalb gehalten gewesen, die Selbstanzeige vor förmlicher Einleitung des Strafverfahrens zunächst einer Vorprüfung zu unterziehen. Verzichte sie auf die gebotene Vorprüfung, dann handele sie —auch nach der vom ) vertretenen Auffassung— ermessens- und rechtswidrig.

Der Kläger beantragt,

das sowie den Hinterziehungszinsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben.

Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Prüfungen der Steufa seien, selbst wenn es sich um Vorfeldermittlungen gehandelt haben würde, Handlungen strafprozessualer Natur und damit ein Vorgehen i.S. des § 397 Abs. 1 AO.

Da die Selbstanzeige des Klägers zunächst noch nicht wirksam gewesen sei, habe die Strabu mit der förmlichen Einleitung des Strafverfahrens nicht rechtswidrig gehandelt. Denn die Selbstanzeige habe zum einen noch der Überprüfung bedurft, zum anderen seien die hinterzogenen Steuern zum Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung noch nicht entrichtet gewesen. Letzteres sei erst am geschehen. Der Sachverhalt sei vorliegend also wesentlich anders gelagert als in dem wiederholt vom Kläger zitierten Fall des FG Düsseldorf. Dort seien die nachgemeldeten Steuerbeträge bereits vor Einleitung des Strafverfahrens bezahlt gewesen.

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur teilweisen Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996 war dem Grunde nach rechtmäßig, weil die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war. Allerdings hat das FA den Beginn des Zinslaufs unzutreffend bestimmt und dadurch die Hinterziehungszinsen —geringfügig— zu hoch angesetzt (nachfolgend unter II.2. der Gründe dieses Urteils).

Dahingegen waren die Ansprüche auf Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1987 bis 1991 zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Zinsbescheids bereits verjährt. Das 1998 eingeleitete Strafverfahren führte nicht zur Anlaufhemmung gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, weil die Einleitungsverfügung der Strabu vom greifbar rechtswidrig war, soweit sie auch die strafrechtlich bereits verjährten Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1987 bis 1991 erfasste (hierzu nachfolgend unter II.3. der Gründe dieses Urteils).

1. Gemäß § 235 Abs. 1 Satz 1 AO sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. Auf die Zinsen sind die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, jedoch beträgt die Festsetzungsfrist nur ein Jahr (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Folge dieser Verweisung auf die steuerlichen Vorschriften ist, dass die Festsetzung von Zinsen nicht mehr zulässig ist, wenn die einjährige Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO).

Die Zinsfestsetzungsfrist beginnt nach § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist, jedoch nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem ein eingeleitetes Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Aus dem Wortlaut und dem Zweck dieser den Anlauf der Festsetzungsfrist hemmenden Bestimmung folgt, dass das Strafverfahren bereits in demjenigen Jahr eingeleitet worden sein muss, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist (, BFHE 196, 26, BStBl II 2001, 782).

Ein Strafverfahren ist dann eingeleitet, sobald die Finanzbehörde, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, eine ihrer Ermittlungspersonen oder der Strafrichter eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen (§ 397 Abs. 1 AO). Die förmliche Einleitung des Strafverfahrens ist der Regelfall einer einleitenden Maßnahme. Für das Steuerstrafrecht gelten diesbezüglich keine anderen Grundsätze als im allgemeinen Strafverfahren. Somit ist auch die förmliche Einleitungsverfügung der Staatsanwaltschaft —als solche— eine einleitende erkennbare Maßnahme i.S. des § 397 Abs. 1 AO (, BFH/NV 1996, 451, m.w.N.; a.A. Wannemacher/Seipl in Beermann/Gosch, AO, § 397 Rz 35).

Für die förmliche Einleitungsverfügung der Finanzbehörde gilt nichts anderes (vgl. Scheurmann-Kettner in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 397 Rz 6; Rolletschke, Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht —wistra— 2007, 89). Denn führt die Finanzbehörde das Ermittlungsverfahren aufgrund des § 386 Abs. 2 AO selbstständig durch, so nimmt sie die Rechte und Pflichten wahr, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen (§ 399 Abs. 1 AO). Von den gesetzlich bestimmten Ausnahmen (vgl. § 386 Abs. 2 AO i.V.m. §§ 400, 401 AO) abgesehen, hat die Finanzbehörde im Ermittlungsverfahren eine Stellung inne, die sich von der der Staatsanwaltschaft nicht unterscheidet. Sie ist, solange das Verfahren nicht an die Staatsanwaltschaft abgegeben oder von dieser an sich gezogen wurde (§ 386 Abs. 4 AO), das allein zuständige Strafverfolgungsorgan und als solches Herrin des Ermittlungsverfahrens (vgl. Klein/Gast-de Haan, AO, 9. Aufl., § 386 Rz 2). Maßnahmen der zur selbstständigen Erforschung des Sachverhalts berufenen Finanzbehörde haben damit kein minderes rechtliches Gewicht als strafprozessuale Maßnahmen der Staatsanwaltschaft.

Ein eingeleitetes Steuerstrafverfahren ist dann i.S. von § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO abgeschlossen, wenn der förmliche Verfahrensabschluss, sei es durch Erlass eines rechtskräftigen Strafurteils oder eines Strafbefehls, sei es durch Einstellungsverfügung der Strafverfolgungsbehörde oder gerichtlichen Einstellungsbeschluss gemäß §§ 170 Abs. 2, 153 ff. der StrafprozessordnungStPO—, erfolgt ist (vgl. , juris).

2. Zur Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996

a) Gemessen an den vorstehend dargestellten Maßstäben war die einjährige Frist zur Festsetzung der rechtlich selbstständigen Ansprüche auf Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996 noch nicht abgelaufen. Denn die Strabu des FA X hatte am unter Bezugnahme auf die Selbstanzeige des Klägers förmlich die Einleitung des Strafverfahrens wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung ab 1987 verfügt. Mit dieser Maßnahme war im Hinblick auf die fünf Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1992 bis 1996 in rechtmäßiger Weise ein Strafverfahren im Sinne des § 397 Abs. 1 AO eingeleitet worden, was den Anlauf der Frist zur Festsetzung der Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996 hemmte. Da das Strafverfahren erst im folgenden Jahr durch Einstellungsverfügung gemäß § 170 Abs. 2 StPO abgeschlossen wurde, begann die einjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 1999. Der Hinterziehungszinsbescheid vom erging damit in offener Festsetzungsfrist.

Dass die Einstellungsverfügung ausweislich ihres Tenors —möglicherweise in Folge eines Versehens— lediglich die Einkommensteuerhinterziehungen 1989 bis 1992 erfasste, hat in Bezug auf die Festsetzungsverjährung keine für den Kläger günstigen Auswirkungen. Denn der Lauf der einjährigen Festsetzungsfrist begann jedenfalls nicht Ende 1998, weil zu diesem Zeitpunkt das wirksam eingeleitete Strafverfahren noch lief. Durch den unvollständigen Verfahrensabschluss im März 1999 wurde der Fristbeginn allenfalls noch weiter hinausgeschoben.

b) Die Angriffe der Revision gegen diese rechtliche Beurteilung gehen fehl.

Die Einleitung des Strafverfahrens war im Hinblick auf die Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1992 bis 1996 rechtmäßig. Es war insbesondere zulässig, das Strafverfahren allein zur Prüfung der Frage einzuleiten, ob der Kläger mit Abgabe seiner Berichtigungserklärungen Straffreiheit gemäß § 371 AO erlangen konnte. Auch in einem solchen Fall tritt eine Anlaufhemmung i.S. des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO ein (a.A. Krieger, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2002, 750; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, § 235 AO Rz 50; vgl. auch , juris).

aa) Das Vorbringen des Klägers, bei der Einleitung des Strafverfahrens habe es sich um eine Scheinmaßnahme gehandelt, geht an den Feststellungen des FG vorbei. Welche Vorstellung der Kläger auch immer mit dem Begriff „Scheinmaßnahme” verbindet, so ist im Streitfall doch zu konstatieren, dass die Einleitung tatsächlich erfolgt ist und es vom Einleitungszeitpunkt an ein Strafverfahren in der Rechtswirklichkeit gab, das seine Wirkung auf den Lauf der Festsetzungsfrist zu entfalten vermochte.

bb) Das FA war entgegen einer in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung (vgl. Rüping in HHSp, § 371 AO Rz 114; Hübner in HHSp, § 397 AO Rz 22; Klein/Gast-de Haan, a.a.O., § 371 Rz 9 und 16; Krieger, DStR 2002, 750; vgl. auch , juris) nicht gehalten, die Wirksamkeit der Selbstanzeige außerhalb des regulären Ermittlungsverfahrens einer Art Vorprüfung zu unterziehen und zunächst die Einleitung des Strafverfahrens zurückzustellen. Eine solche Verfahrensweise wäre mit dem das Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzip nicht zu vereinbaren.

(1) Nach dem in § 385 Abs. 1 AO i.V.m. § 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1 StPO niedergelegten Legalitätsprinzip sind die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (sog. Anfangsverdacht). Erhält das Strafverfolgungsorgan Kenntnis von dem Anfangsverdacht einer Straftat, dann hat es den Sachverhalt zu erforschen, also zu ermitteln. Es besteht —abgesehen von den in §§ 153 ff. StPO geregelten Fällen des Opportunitätsprinzips— kein Ermessen, ob eingeschritten werden soll oder nicht.

Es steht auch nicht im Belieben des Strafverfolgungsorgans, bloße Vor-Ermittlungen anzustellen. Denn diese im Gesetz nicht ausdrücklich geregelten, aber zulässigen Maßnahmen dienen in der Strafverfolgungspraxis der Klärung der Frage, ob ein Anfangsverdacht vorliegt oder nicht (vgl. Wache in Karlsruher Kommentar, Strafprozessordnung, 5. Aufl., § 158 Rz 1 und § 160 Rz 11; Schoreit in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 152 Rz 3; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 50. Aufl., § 152 Rz 4a). Ist ein solcher aber unzweifelhaft gegeben, so ist kein Raum für Vor-Ermittlungen. Vielmehr sind die Ermittlungen i.S. des § 160 StPO aufzunehmen und es ist ein „reguläres” Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Mit dem Merkmal der verfolgbaren Straftat zeigt das Gesetz allerdings auf, dass die Strafverfolgungsbehörden nur dann zum Einschreiten aufgerufen sind, wenn zwingende Verfahrenshindernisse nicht gegeben sind. Mit anderen Worten: Die Einleitung des Strafverfahrens darf nicht erfolgen, wenn von vornherein feststellbar ist, dass ein nicht ausräumbares Verfahrenshindernis, z.B. bereits eingetretene Strafverfolgungsverjährung, besteht (Wache in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 160 Rz 16; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 6. Aufl., § 397 Rz 55; Dumke in Schwarz, AO, § 371 Rz 15).

(2) Im vorliegenden Fall erlangte die Strabu durch die Selbstanzeige Kenntnis von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für verfolgbare Steuerstraftaten. Die Strabu war daher zum Einschreiten berechtigt und auch verpflichtet ( (50) 187/86 Ns, wistra 1988, 317; Blesinger, wistra 1994, 48; Rolletschke, wistra 2007, 89; Dumke in Schwarz, a.a.O., § 371 Rz 11, 12; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, a.a.O., § 397 Rz 48).

Die Kenntniserlangung von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten ergibt sich schon daraus, dass alle beteiligten Dienststellen —und auch das FG— wie selbstverständlich die beim Veranlagungsteilbezirk eingegangenen Berichtigungserklärungen als Selbstanzeige bewertet und bezeichnet haben. Eine Eingabe im Besteuerungsverfahren als Selbstanzeige zu bewerten, zu bezeichnen und sie sodann gerade an die Steufa oder die Strabu abzugeben, ist nichts anderes als die Schöpfung des Anfangsverdachts, dass in der Vergangenheit Steuerstraftaten begangen wurden (vgl. Dumke in Schwarz, a.a.O., § 371 Rz 5, 6 und 11; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, a.a.O., § 397 Rz 48).

Die Verfolgbarkeit der Tat war zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens in Bezug auf die rechtlich selbstständigen Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1992 bis 1996 gegeben. Denn die Selbstanzeige beseitigt als persönlicher Strafaufhebungsgrund die Straf- und damit Verfolgbarkeit der Tat erst dann, wenn sie sich —nach gegebenenfalls intensiver Überprüfung— als wirksam erwiesen hat und die hinterzogenen Beträge gemäß § 371 Abs. 3 AO entrichtet wurden (allgemeine Meinung vgl. Hoyer in Beermann/Gosch, a.a.O., § 371 Rz 52, m.w.N.). Liegen die Voraussetzungen einer wirksamen Selbstanzeige einschließlich der Zahlung der hinterzogenen Beträge in atypischen Fällen bereits im Zeitpunkt der Schöpfung des Anfangsverdachts erkennbar vor, dann hat die Einleitung des Strafverfahrens zu unterbleiben (vgl. Dumke in Schwarz, a.a.O., § 371 Rz 15; Rolletschke, wistra 2007, 89). Da nach den Feststellungen des FG zum Zeitpunkt der Einleitung des Ermittlungsverfahrens weder die inhaltliche Überprüfung der Selbstanzeige abgeschlossen noch die Nachzahlung der hinterzogenen Beträge erfolgt war, handelte die Strabu unter diesem Gesichtspunkt im Rahmen der Gesetze.

cc) Abgesehen davon, dass das Gesetz eine Ausnahme vom Verfolgungszwang im Falle der Erstattung von Selbstanzeigen nicht kennt, ist auch im Übrigen kein Grund ersichtlich, die stets gebotene Überprüfung einer Selbstanzeige irgendwo außerhalb eines regulären Strafverfahrens anzusiedeln und hierdurch eine Grauzone zwischen Besteuerungs- und Strafverfahren zu schaffen. Das von Teilen der Literatur ins Feld geführte Argument, es widerspreche dem fiskalischen Zweck des § 371 AO, im Falle von Selbstanzeigen sogleich ein Strafverfahren einzuleiten (vgl. Klein/Gast-de Haan, a.a.O., § 371 Rz 9 und 16), vermag nicht zu überzeugen. Dem fiskalischen Zweck wird bereits dadurch hinreichend entsprochen, dass der Steuerstraftäter im Falle einer wirksamen Selbstanzeige vollständige Straffreiheit erlangt, eine im deutschen Strafrecht ohnehin einmalige Privilegierung der tätigen Reue. Ihn darüber hinaus noch dadurch zu begünstigen, dass schon kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, ist weder geboten noch sachgerecht. Denn nach ständiger Rechtsprechung von BFH und Bundesgerichtshof (BGH) ist die Selbstanzeige —nicht zuletzt aufgrund der systematischen Stellung des § 371 AO im Abschnitt Strafvorschriften des achten Teils der AO— als ein rein strafrechtliches Institut zu bewerten (, BFHE 135, 145, BStBl II 1982, 352, zur Rechtsnatur der Frist gemäß § 371 Abs. 3 AO; , BGHSt 49, 136, BFH/NV 2004, Beilage 4, 380, zum persönlichen Strafaufhebungsgrund gemäß § 371 Abs. 1 AO). Die Ermittlungen zur Überprüfung der Frage, ob die Selbstanzeige Straffreiheit verschafft, sind damit strafrechtlicher Natur. Das reguläre Strafverfahren ist nach alledem als das adäquate Verfahren zur Prüfung einer Selbstanzeige zu betrachten.

dd) Dass sich dieses Strafverfahren in der Praxis häufig darin erschöpft, zunächst nur die Wirksamkeit der Selbstanzeige zu überprüfen, macht die Einleitung nicht zu einem rein formalen Akt, der für die Anwendung des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht genügen würde (a.A. Krieger, DStR 2002, 750; Heuermann in HHSp, § 235 AO Rz 50).

Der Gegenauffassung liegt die gedankliche Unterscheidung zwischen einem bloß formal wirksam eingeleiteten und einem „materiellen” Strafverfahren zugrunde. Eine solche Differenzierung zwischen verschiedenen Formen von Strafverfahren kennt das Gesetz aber nicht. Das Eingreifen der Anlaufhemmung gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO davon abhängig zu machen, dass das Strafverfahren auch in einem „materiellen” Sinne eingeleitet sein müsse, also die bloß formale Strafverfahrenseinleitung zum Zwecke der Überprüfung einer Selbstanzeige als ungenügend zu betrachten sei, ist der Rechtssicherheit, der gerade im Verjährungsrecht besondere Bedeutung zukommt, abträglich. Denn es muss zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens feststehen, ob die Strafverfahrenseinleitung Einfluss auf den Beginn der Festsetzungsverjährung nimmt oder nicht. Die Gegenauffassung führt zu Rechtsunsicherheit, wenn sich bei der Überprüfung der Selbstanzeige im Rahmen eines bloß formal eingeleiteten Strafverfahrens nach einigen Wochen oder Monaten herausstellen sollte, dass die Selbstanzeige unwirksam ist oder dem Anzeigenden schlicht die Geldmittel fehlen, um sämtliche hinterzogene Steuern zu bezahlen. Auch nach der Gegenauffassung müsste das bloß formal eingeleitete Strafverfahren spätestens zu diesem Zeitpunkt in ein „echtes” Strafverfahren übergeleitet werden. Von derartigen künftigen, nicht vorhersehbaren Entwicklungen darf die Frage aber nicht abhängen, ob die einjährige Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen der zunächst bloß „formalen” Strafverfahrenseinleitung bereits zu laufen begonnen hat oder nicht.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die in § 397 Abs. 1 AO enthaltene Formulierung, es müsse gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat vorgegangen werden, nicht in dem Sinne interpretiert werden darf, dass stets ein aktives auf die Bestrafung des Beschuldigten ausgerichtetes Verhalten der Strafverfolgungsbehörden zu fordern sei, woran es bei der bloßen Überprüfung der Wirksamkeit einer Selbstanzeige fehle. Wird ein Anfangsverdacht geschöpft, dann besteht das Ziel der daraufhin eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen darin, den Sachverhalt umfassend zugunsten wie zuungunsten des Beschuldigten zu erforschen, um den Strafverfolgungsorganen die Entschließung darüber zu ermöglichen, ob die Erhebung der öffentlichen Klage geboten erscheint oder das Verfahren einzustellen ist (vgl. § 160 Abs. 1 und 2 StPO; Meyer-Goßner, a.a.O., § 160 Rz 11). Maßnahme i.S. des § 397 Abs. 1 AO ist damit jede Handlung, die geeignet ist, dem Ziel der Bestrafung des Verdächtigen oder der Beseitigung des Verdachts näherzukommen (Jäger in Franzen/Gast/Joecks, a.a.O., § 397 Rz 67). Dementsprechend sind Ermittlungen zur Prüfung der Frage, ob der Verdächtige durch eine Selbstanzeige Straffreiheit erlangen kann oder nicht, erkennbar strafrechtliche Maßnahmen.

Weil auch Strafverfahren generell zielgerichtet, effektiv und verhältnismäßig zu führen sind, ist es auch nicht zu beanstanden, dass sich in der Praxis die strafrechtlichen Ermittlungen zunächst auf die Überprüfung der Wirksamkeit der Selbstanzeige konzentrieren (vgl. Dumke in Schwarz, a.a.O., § 371 Rz 13). Denn „unnötige” Ermittlungen, etwa zur Frage des Vorsatzes, können selbstverständlich zurückgestellt werden, wenn im Raume steht, dass die erstattete Selbstanzeige zur Straflosigkeit der Tat führen wird (vgl. Nr. 5 Abs. 1 Satz 1 der —vornehmlich für den Staatsanwalt bestimmten— Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren —RiStBV—: „Die Ermittlungen sind zunächst nicht weiter auszudehnen, als nötig ist, um eine schnelle Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Einstellung des Verfahrens zu ermöglichen”).

ee) Schließlich ist eine Einschränkung des in § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO enthaltenen Hemmungstatbestands im speziellen Falle der strafrechtlichen Überprüfung einer Selbstanzeige gerade auch nach dem Sinn und Zweck dieser Verjährungsregelung nicht geboten. Der Zweck der Anlaufhemmung besteht darin, dem FA die Berücksichtigung der im Strafverfahren gewonnenen Erkenntnisse bei der Festsetzung der Hinterziehungszinsen zu ermöglichen (Entwurf einer Abgabenordnung [AO 1974], BTDrucks VI/1982, S. 173; , BFHE 175, 13, BStBl II 1994, 885). Dieser Zweck kommt auch bei Strafverfahren zur Geltung, die nach Eingang von Selbstanzeigen eingeleitet werden. Denn der strafrechtlichen Überprüfung der Berichtigungserklärung auf Vollständigkeit und Richtigkeit (zeitliche Zuordnung, subjektive Zurechnung, Höhe der bislang verschwiegenen Einnahmen) kann ohne Weiteres Bedeutung für die Festsetzung der Hinterziehungszinsen zukommen.

c) Der angegriffene Bescheid konnte in Bezug auf die Höhe der Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996 keinen Bestand haben als dieser von einem zu frühen Beginn des Zinslaufs ausgeht.

aa) Nach § 235 Abs. 2 Satz 1 AO beginnt der Zinslauf mit dem Eintritt der Verkürzung oder der Erlangung des Steuervorteils, es sei denn, dass die hinterzogenen Beträge ohne die Steuerhinterziehung erst später fällig geworden wären. In diesem Fall ist der spätere Zeitpunkt maßgebend (§ 235 Abs. 2 Satz 2 AO).

bb) Diesen gesetzlichen Vorgaben wird der Zinsbescheid vom nicht gerecht. Denn das FA hat zur Bestimmung des Beginns des Zinslaufs jeweils auf die Daten des Erlasses der einzelnen Steuerbescheide abgestellt, die aufgrund der unrichtigen Steuererklärungen des Klägers ergingen. Mit dieser rechtlichen Beurteilung wird jedoch zum einen außer Acht gelassen, dass eine vollendete Steuerhinterziehung und damit ein Hinterzogensein der Einkommensteuerbeträge erst dann vorliegt, wenn der „falsche” Bescheid dem Steuerpflichtigen —ggf. i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO— bekannt gegeben wird (vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 235 Rz 22; Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., § 235 Rz 31 f.). Zum anderen verschiebt sich der Beginn des Zinslaufs zeitlich dann noch weiter nach vorne, wenn die Steuerbeträge ohne die Hinterziehung erst später fällig geworden wären (hierzu Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., § 235 Rz 35). So liegt der Fall hier. Der Kläger hätte bei wahrheitsgemäßer Angabe seiner Kapitaleinkünfte jeweils Abschlusszahlungen zu leisten gehabt, die nach § 36 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erst einen Monat nach Bekanntgabe der Bescheide fällig gewesen wären. Hieraus folgt etwa für die hinterzogene Einkommensteuer 1992, dass der Beginn des Zinslaufs nicht, wie im Zinsbescheid angegeben, auf den , sondern auf den fällt (Bescheiddatum: ; Bekanntgabe gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO: ; Fälligkeit der Abschlusszahlung gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG: ). Der Zinszeitraum ist daher für die Steuerabschnitte 1992 bis 1996 jeweils um einen Monat zu verringern. Die betragsmäßigen Auswirkungen des kürzeren Zinszeitraumes summieren sich auf 998 DM.

cc) Im Wege der Saldierung war ein weiterer Fehler, der sich in Höhe von 108,50 DM zugunsten des Klägers ausgewirkt hat, mit den soeben dargestellten Änderungen zu verrechnen. Daraus folgt, dass gegenüber dem Ansatz im Zinsbescheid im Ergebnis ein um 889,50 DM verringerter Gesamtbetrag der Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 bis 1996 anzusetzen ist.

Für das Jahr 1992 ist nach den Ermittlungen der Steufa von einem Hinterziehungsbetrag von 33 500 DM auszugehen. Zudem ist ein verlängerter Zinslauf in Rechnung zu stellen, weil die vollständige Bezahlung der hinterzogenen Steuern erst 1999 erfolgt war (vgl. § 235 Abs. 3 Satz 1 AO). Die Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1992 sind daher um 396,50 DM zu erhöhen, was unter Einbeziehung der gemäß § 235 Abs. 4 AO anzurechnenden Nachzahlungszinsen von 288 DM, zu einem verbleibenden Betrag von 108,50 DM führt.

3. Zur Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1987 bis 1991

a) Die Einleitung des Strafverfahrens war in Bezug auf die Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1987 bis 1991 greifbar rechtswidrig und vermochte das Hinausschieben des Beginns der Frist zur Festsetzung der Hinterziehungszinsansprüche 1987 bis 1991, die wegen ihrer rechtlichen Selbstständigkeit einer gesonderten Verjährungsprüfung unterzogen werden müssen, nicht zu bewirken.

Damit beantwortet der Senat die vom BFH bislang offen gelassene Frage, ob nur eine rechtmäßige Einleitung des Strafverfahrens geeignet ist, den Beginn der Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen hinauszuschieben (vgl. BFH-Urteil in BFHE 196, 26, BStBl II 2001, 782), dahingehend, dass eine Strafverfahrenseinleitung, die sich nach den für die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Einleitung bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen (ex ante Betrachtung) als greifbar rechtswidrig darstellt, nicht geeignet ist, Einfluss auf die Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen zu nehmen. Die bloße Wirksamkeit der Strafverfahrenseinleitung genügt damit nicht, um den Hemmungstatbestand auszulösen.

aa) Aus dem Wortlaut des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO geht nicht klar hervor, ob mit der dort erwähnten Einleitung des Strafverfahrens eine bloß wirksame oder weitergehend auch eine rechtmäßige Maßnahme gefordert wird.

bb) Die an Sinn und Zweck des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (hierzu oben unter II.2.b ee der Gründe dieses Urteils) orientierte Auslegung zeigt, dass ein zwar wirksames, aber greifbar rechtswidriges Strafverfahren nicht genügend ist, um den Fristbeginn hinauszuschieben. Denn ein Strafverfahren, das nach den bereits zum Einleitungszeitpunkt deutlich erkennbaren Umständen niemals hätte eingeleitet werden dürfen und daher umgehend gemäß § 170 Abs. 2 StPO wieder einzustellen ist, kann typischerweise nicht dazu führen, dass die Strafverfolgungsbehörden bei ihren Ermittlungen Erkenntnisse —etwa zum subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung— zu Tage fördern, die von der zur Festsetzung der Hinterziehungszinsen berufenen Finanzbehörde sinnvoll verwertet werden können.

cc) Die zu anderen den An- oder den Ablauf der Verjährung hemmenden Regelungen der AO ergangene Rechtsprechung und Literatur, die davon ausgehen, dass es grundsätzlich, soweit der Erlass von Verwaltungsakten oder die Vornahme von Verfahrenshandlungen Bedeutung für den Beginn oder den Ablauf von Verjährungsfristen haben, nur auf die Wirksamkeit, nicht aber die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts oder der Verfahrenshandlung ankommt (vgl. , BFHE 171, 15, BStBl II 1993, 649; vom XI R 61/94, BFHE 183, 13, BStBl II 1997, 595; vom VII R 66/96, BFHE 182, 262, zur Unterbrechung der Zahlungsverjährung gemäß § 231 AO; Hartmann in Beermann/Gosch, a.a.O., § 171, Rz 2; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Rz 4 und Rz 81a; Pahlke/Koenig/ Fritsch, Abgabenordnung, § 231 Rz 9), sind auf § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht übertragbar.

Nach der Rechtsprechung des BFH hemmt eine Außenprüfung, die auf einer unwirksamen Prüfungsanordnung fußt, den Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 4 AO nicht. Die gleichen Folgen treten ein, wenn eine wirksame, aber rechtswidrige Prüfungsanordnung erfolgreich angefochten und aufgehoben wird. Denn mit der Aufhebung des Verwaltungsakts entfallen die an seine Wirksamkeit geknüpften Rechtsfolgen, einschließlich der Wirkung, die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 4 AO herbeizuführen (BFH-Urteil in BFHE 171, 15, BStBl II 1993, 649). Die tatsächlich begonnene und dem Steuerpflichtigen erkennbar gewordene Steuerfahndungsprüfung erfüllt den Tatbestand des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO. Die gegenüber einem Handlungsunfähigen vorgenommene Steuerfahndungsprüfung ist dahingegen unwirksam und vermag deshalb keine Ablaufhemmung herbeizuführen (BFH-Urteil in BFHE 183, 13, BStBl II 1997, 595). Dieser BFH-Rechtsprechung liegt jeweils die Vorstellung zugrunde, dass der Steuerpflichtige entweder förmliche Rechtsschutzmöglichkeiten besitzt, um die Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns geltend zu machen, dass ihm die Maßnahme bekannt wird und er sich gegen sie in sonstiger Weise wehren kann oder dass seiner „Wehrlosigkeit” im Fall der Handlungsunfähigkeit Rechnung getragen wird. Nur wenn der Steuerpflichtige es versäumt, den rechtswidrigen Verwaltungsakt anzufechten, muss er zum Schutz des Rechtsinstituts der Bestandskraft den rechtswidrigen Verwaltungsakt und seine verjährungsrechtlichen Folgen hinnehmen.

Der Steuerpflichtige, der sich mit einem Hinterziehungszinsanspruch konfrontiert sieht, befindet sich demgegenüber in einer anderen, und zwar deutlich ungünstigeren Lage. Es fehlt sowohl an Anfechtungsmöglichkeiten als auch an der Erkennbarkeit der eingetretenen Hemmung. Ihm ist daher die Berufung auf die greifbare Rechtswidrigkeit der —wirksamen— Einleitungsmaßnahme zu gestatten.

Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die Einleitung des Ermittlungsverfahrens nicht angefochten werden kann. Denn Rechtsschutz gegen die Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens stellt die Rechtsordnung nicht zur Verfügung (vgl. , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1984, 1676; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des , BVerfGK 2, 27; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, a.a.O., § 397 Rz 7; Dumke in Schwarz, a.a.O., § 397 Rz 13). Der durch die Strafverfahrenseinleitung zum Beschuldigten gewordene Steuerpflichtige hat damit im Unterschied zum Adressaten einer Prüfungsanordnung oder eines anderen „verjährungsrelevanten” Verwaltungsakts keine Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit der strafrechtlichen Ermittlungen in einem förmlichen Verfahren geltend zu machen und deren Aufhebung zu erreichen. Zum anderen ist er in vielen Fällen noch nicht einmal in der Lage, rein faktisch auf den Gang des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen, wenn er, wie auch im Streitfall geschehen, von der erfolgten Einleitung zunächst nicht —oder auch nie— Kenntnis erlangt. Im Unterschied zu den Hemmungstatbeständen des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO, der eine dem Steuerpflichtigen erkennbare Steuerfahndungsprüfung voraussetzt (BFH-Urteil in BFHE 183, 13, BStBl II 1997, 595), des § 171 Abs. 5 Satz 2 AO, der die Bekanntgabe der Einleitung des Strafverfahrens vorsieht, und des § 171 Abs. 4 AO, der eine wirksam bekannt gegebene Prüfungsanordnung fordert, muss dem Schuldner von Hinterziehungszinsen die Einleitung des Strafverfahrens und damit der Eintritt der Anlaufhemmung nicht bekannt gegeben oder sonst erkennbar geworden sein. Wäre er jedoch in einer dem § 171 Abs. 4 und 5 AO entsprechenden Weise ins Bild zu setzen, so könnte er sich wenigstens dergestalt gegen das Ermittlungsverfahren und seine verjährungsrechtlichen Folgen zur Wehr setzen, indem er etwa die evidente Verjährung der Straftaten geltend macht und formlos die sofortige Einstellung des Ermittlungsverfahrens beantragt. Einem derartigen „Antrag” hätte die an Recht und Gesetz gebundene Strafverfolgungsbehörde umgehend zu entsprechen.

b) Die Einleitung des Strafverfahrens war in Bezug auf die Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1987 bis 1991 greifbar rechtswidrig. Eine Anlaufhemmung ist daher nicht eingetreten.

aa) Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für Vergehen der Einkommensteuerhinterziehung 1987 bis 1991 ergaben sich aus der Selbstanzeige des Klägers. Bei der Prüfung des Anfangsverdachts sind der Strabu keine Fehler unterlaufen, zumal ihr diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zustand (Meyer-Goßner, a.a.O., § 152 Rz 4, m.w.N.; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, a.a.O., § 397 Rz 63, m.w.N.), den sie nicht überschritten hat.

bb) Die Taten der Einkommensteuerhinterziehung 1987 bis 1991 waren aber verjährt und deshalb nicht mehr verfolgbar. Das Vorliegen dieses Verfahrenshindernisses war bereits im Zeitpunkt der Kenntniserlangung von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten leicht und eindeutig feststellbar.

Die Verjährungsfrist beträgt bei Steuerhinterziehung gemäß § 369 Abs. 2 AO i.V.m. § 78 Abs. 3 Nr. 5 des Strafgesetzbuchs (StGB) fünf Jahre. Die Frist beginnt mit Bekanntgabe des „falschen” Einkommensteuerbescheids an den Steuerpflichtigen (§ 78a StGB; , BFH/NV 1998, 1059). Übertragen auf die dem Zinsbescheid zugrundeliegenden Straftaten bedeutet dies für die Einkommensteuerhinterziehung 1991, dass Strafverfolgungsverjährung mit Ablauf des eintrat, weil die Bekanntgabe des „falschen” Einkommensteuerbescheids 1991 auf den datiert. Die noch älteren Taten waren ohnehin verjährt. Die Einkommensteuerhinterziehung 1992 war dahingegen im Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens im Oktober 1998 noch verfolgbar, weil der „falsche” Bescheid am bekannt gegeben worden war und die Straftat folglich erst im Dezember 1998 verjährte.

Fundstelle(n):
BStBl 2008 II Seite 844
AO-StB 2008 S. 302 Nr. 11
BB 2008 S. 2096 Nr. 39
BB 2008 S. 2502 Nr. 46
BFH/PR 2008 S. 521 Nr. 12
BStBl II 2008 S. 844 Nr. 19
DB 2008 S. 2174 Nr. 40
DStR 2008 S. 1875 Nr. 39
DStRE 2008 S. 1298 Nr. 20
GStB 2008 S. 45 Nr. 12
HFR 2008 S. 1205 Nr. 12
NJW-RR 2009 S. 212 Nr. 3
NWB-Eilnachricht Nr. 39/2008 S. 3635
StB 2008 S. 391 Nr. 11
StBW 2008 S. 5 Nr. 20
StC 2008 S. 13 Nr. 11
StuB-Bilanzreport Nr. 19/2008 S. 770
wistra 2009 S. 166 Nr. 4
wistra 2009 S. 35 Nr. 1
WAAAC-90732