BFH Urteil v. - III R 57/06

Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG

Gesetze: EStG § 32 Abs. 4; EStG § 70 Abs. 4; AO § 164; AO § 173

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat eine im Jahr 1983 geborene Tochter, die sich im Jahr 2004 in Ausbildung befand.

Mit Schreiben vom bat die Klägerin die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse), die Kindergeldzahlung für ihre Tochter ab April 2004 auszusetzen, weil ihre Tochter voraussichtlich ein höheres Einkommen als zulässig haben werde. Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung zunächst ab April 2004 auf, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung —EStG—) überschritten.

Mit Bescheid vom hob die Familienkasse auch die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 auf und forderte das für die Monate Januar bis März gezahlte Kindergeld von der Klägerin zurück. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt dieser Bescheid folgenden „wichtigen Hinweis”: „Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen.” Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse zurück. Die Klägerin erhob keine Klage.

Mit Schreiben vom legte die Klägerin gegen den Bescheid vom erneut Einspruch ein und bat unter Vorlage einer Kopie der Lohnsteuerbescheinigungen für das Jahr 2004 um Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004. Nach dem (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften der Tochter abzuziehen, so dass deren Einkünfte den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 nicht überschritten.

Die Familienkasse wertete den Einspruch der Klägerin zugleich als erneuten Antrag auf Kindergeld und setzte mit Bescheid vom Kindergeld ab Juni 2004 fest. Eine Festsetzung für die Monate Januar bis Mai 2004 lehnte die Familienkasse ab. Kindergeld könne erst vom Folgemonat nach Bekanntgabe des bestandskräftigen Bescheids vom an festgesetzt werden. Die Voraussetzungen für eine Änderung des Bescheids nach §§ 172 ff. der Abgabenordnung (AO) und des § 70 Abs. 2 bis 4 EStG lägen nicht vor. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.

Unter Änderung der Bescheide vom und vom verpflichtete das Finanzgericht (FG) die Familienkasse, der Klägerin für den Zeitraum Januar bis Mai 2004 Kindergeld zu gewähren. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge der Tochter überschritten im Jahr 2004 nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht den Jahresgrenzbetrag von 7 680 €. Die Bescheide vom 31. März und vom seien deshalb nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren.

Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.

Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Mai 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und der Bescheid nicht nach § 70 Abs. 4 EStG oder nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern ist.

1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2004 hat.

2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da die Klägerin gegen diesen Bescheid nicht innerhalb der Monatsfrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO Anfechtungsklage erhoben hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids (vgl. , BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG —wie im Streitfall— lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt hat (Senatsurteil vom III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

3. Eine Korrektur des Bescheids vom nach § 70 Abs. 4 EStG ist nicht möglich, weil der Jahresgrenzbetrag im Streitfall allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (vgl. Senatsurteil vom III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).

4. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann der Bescheid auch nicht nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert werden. Der „wichtige Hinweis” im Bescheid vom ist nicht als Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) zu verstehen.

Der Regelungsgehalt eines Bescheids ist erforderlichenfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln. Für die Auslegung sind die §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend anzuwenden. Entscheidend ist danach der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Steuerpflichtige nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. , BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339, m.w.N.). Der BFH ist auch als Revisionsgericht zur Auslegung befugt, wenn die tatsächlichen Feststellungen des FG ausreichen (, BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791, m.w.N.). Ein Steuerbescheid ist nur dann wirksam unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt, wenn die Kennzeichnung des Vorbehalts für den Steuerpflichtigen eindeutig erkennbar ist (, BFHE 190, 288, BStBl II 2000, 284, m.w.N.).

Gegen eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung spricht im Streitfall bereits der Umstand, dass sich der „wichtige Hinweis” lediglich auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes bezieht. Ein Vorbehaltsvermerk erfasst jedoch stets den gesamten Bescheid (vgl. , BFH/NV 1999, 1307, m.w.N.). Der „wichtige Hinweis” sollte vielmehr nach seinem objektiven Erklärungsgehalt —wie die Bezeichnung als „Hinweis” verdeutlicht— lediglich auf die gesetzliche Korrekturmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG hinweisen.

Im Übrigen kann der von § 70 Abs. 4 EStG („..., wenn nachträglich bekannt wird, ...”) abweichenden Formulierung des „wichtigen Hinweises” („Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, ...”) nicht entnommen werden, dass die Familienkasse —abweichend von § 70 Abs. 4 EStG— auch dann (nachträglich) Kindergeld gewähren würde, wenn sich lediglich die rechtliche Beurteilung der Einkünfte und Bezüge ändert. Für einen objektiven Erklärungsempfänger in der Lage der Klägerin ist erkennbar, dass sich der „wichtige Hinweis” nur auf tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge bezieht, da der Bescheid vom während des laufenden Kalenderjahres ergangen ist, die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2004 aber erst nach dessen Ablauf feststeht.

Der Bescheid vom steht ferner nicht —wie die Klägerin meint— nach § 164 Abs. 1 Satz 2 AO kraft Gesetzes unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. § 164 Abs. 1 Satz 2 AO gilt nur für Vorauszahlungsbescheide. Bei der (positiven) Festsetzung von Kindergeld wird jedoch eine Steuervergütung (vgl. § 31 Satz 3 EStG) und nicht die Vorauszahlung einer Steuer festgesetzt. Eine analoge Anwendung des § 164 Abs. 1 Satz 2 AO auf Kindergeldbescheide ist gleichfalls nicht möglich, weil es bereits an der für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke fehlt (vgl. z.B. Senatsurteil vom III R 15/04, BFHE 210, 141, BStBl II 2005, 828, unter B. II. 2. a).

Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG eine spezielle Korrekturvorschrift geschaffen, welche die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung ermöglicht, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten oder nicht überschreiten. § 70 Abs. 4 EStG regelt damit abschließend die Fälle, in denen sich die Prognoseentscheidung der Familienkasse hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des Jahres als unzutreffend erweist (so auch Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1). Eine analoge Anwendung des § 164 Abs. 1 Satz 2 AO würde im Streitfall die Entscheidung des Gesetzgebers unterlaufen, dass § 70 Abs. 4 EStG gerade keine rückwirkende Korrektur von materiellen Fehlern —wie im Streitfall der unterlassenen Minderung der Einkünfte um die gezahlten Sozialversicherungsbeiträge— ermöglichen soll (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338).

Im Übrigen ist kein Wertungswiderspruch darin zu sehen, dass der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ggf. hinsichtlich der Kinderfreibeträge (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) in den Fällen umgesetzt werden kann, in denen der Kindergeldanspruch zwar bestandskräftig abgelehnt worden ist, der Einkommensteuerbescheid für das fragliche Kalenderjahr aber noch nicht bestandskräftig ist (vgl. hierzu , BStBl I 2005, 1027). Dies ist lediglich die verfahrensrechtliche Folge davon, dass über die Gewährung der Kinderfreibeträge (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) nicht durch Kindergeldbescheid, sondern im Rahmen der Festsetzung der Einkommensteuer entschieden wird.

5. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist schon deshalb nicht zulässig, weil die Familienkasse auch bei ursprünglicher Kenntnis der von der Tochter gezahlten gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht anders entschieden hätte. Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am minderten die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sowohl nach der Rechtsprechung des , BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) als auch nach Abschn. 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG), Stand August 2004 (BStBl I 2004, 743) nicht die Einkünfte des Kindes (vgl. Senatsurteil vom III R 31/06, BFH/NV 2007, 392).

Für die Beurteilung der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache ist allein maßgebend, ob die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel anders entschieden hätte oder nicht (, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Unerheblich ist deshalb der Vortrag der Klägerin, das Einspruchsverfahren gegen den Bescheid vom hätte gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zwingend geruht, wären der Familienkasse die Sozialversicherungsbeiträge und der Klägerin die Relevanz dieser neuen Tatsache bekannt gewesen. Unabhängig davon hätte ein Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO vorausgesetzt, dass die Klägerin ihren Einspruch auf das beim BVerfG anhängige Verfahren in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 gestützt hätte.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1461 Nr. 8
IAAAC-48514