EuGH Urteil v. - 268/83

Harmonisierung des Mehrwertsteuerrechts - Begriff des Steuerpflichtigen

Leitsatz

Der Erwerb eines Anspruchs auf Übertragung eines Teilerbbaurechts an einem noch zu errichtenden Gebäude in der Absicht, den erworbenen Gegenstand zu gegebener Zeit zu vermieten, ist als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie anzusehen; der Abgabenverwaltung steht es jedoch frei, objektive Belege für die erklärte Nutzungsabsicht, z.B. den Nachweis der besonderen Eignung der zu errichtenden Räumlichkeiten für eine gewerbliche Nutzung, zu verlangen.

Gesetze: RL 77/388/EWG Art. 4 Abs. 1

Tatbestand

Tatbestand nicht wiedergegeben.

Gründe

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 2 Satz 2 der Sechsten Richtlinie des Rates vom „zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage” (77/388; ABl. L 145, S. 1) – im folgenden: „Sechste Richtlinie” – zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn und Frau Rompelman, Amsterdam, und dem Minister van Financiën (Finanzminister) über die Erstattung der für das erste bis dritte Quartal 1979 entrichteten Mehrwertsteuer.

3 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erwarben mit zwei schriftlichen Verträgen vom einen Anspruch auf zwei Einheiten eines seit dem im Bau befindlichen Gebäudes in Verbindung mit einem Erbbaurecht an dem zugehörigen Grundstück. Im Bauplan waren die beiden Einheiten als „Ausstellungsräume” bezeichnet.

4 Mit Schreiben vom teilten die Kläger des Ausgangsverfahrens dem Inspecteur der omzetbelasting mit, daß die Ausstellungsräume an Unternehmer vermietet werden sollten und daß Vermieter und Mieter zu gegebener Zeit gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe b Nr. 5 der Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) 1968 i. d. F. des Gesetzes vom (Staatsblad 677; im folgenden: WOB) beantragen würden, von der für den Fall der Vermietung vorgesehenen Befreiung von der Umsatzsteuer ausgenommen zu werden. Ferner teilten sie mit, daß sie gemäß Artikel 15 Absatz 3 WOB die Vorsteuer abziehen würden, die in den gemäß dem Baufortschritt zu entrichtenden Kaufpreisraten enthalten sei.

5 Am gaben die Kläger des Ausgangsverfahrens für das erste bis dritte Quartal 1979 eine Umsatzsteuererklärung ab, in der sie die Erstattung von Vorsteuer in Höhe von 14 186,46 HFL beantragten. Die notarielle Urkunde zur Übertragung der Teilerbbaurechte wurde erst am ausgefertigt; die in Rede stehenden Räume waren daher bei Abgabe der genannten Steuererklärung noch nicht vermietet.

6 Der Inspecteur lehnte den Erstattungsantrag mit der Begründung ab, daß mit der tatsächlichen Nutzung des Grundstücks noch nicht begonnen worden sei. Gegen diese Entscheidung riefen die Kläger des Ausgangsverfahrens den Gerechtshof Amsterdam an.

7 Gegen das Urteil des Gerechtshof, das die Entscheidung des Inspecteur bestätigte, legten die Kläger des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde zum Hoge Raad ein.

8 Laut Vorlageurteil machten sie geltend, nach Artikel 15 Absatz 1 WOB könne der Unternehmer die Umsatzsteuer abziehen, die andere Unternehmer ihm während des Zeitraums, auf den sich die Steuererklärung beziehe, in Rechnung gestellt hätten; wer erst später die Unternehmereigenschaft erlange, könne die ihm als Nichtunternehmer in Rechnung gestellte Umsatzsteuer dagegen nach der WOB nicht abziehen. Die WOB stehe daher im vorliegenden Fall dem Vorsteuerabzug nicht entgegen, wenn für Recht erkannt werde, daß die Unternehmereigenschaft schon durch die erste auf die Nutzung eines Gegenstands gerichtete Handlung begründet werde.

9 Laut Vorlageurteil war der Gerechtshof der Ansicht, daß die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht als Unternehmer angesehen werden könnten. Der Gerechtshof führte dazu aus, Unternehmer sei zwar auch, wer einen Gegenstand nutze; unter „Nutzung eines Gegenstands” im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b WOB sei jedoch seine tatsächliche Benutzung im gesellschaftlichen Verkehr zu verstehen; das setze seine Existenz voraus. Im vorliegenden Fall hätten die Kläger des Ausgangsverfahrens jedoch lediglich eine Forderung, nicht aber ein dingliches Recht erworben.

10 Da es für die Bestimmung des Begriffs „Nutzung eines Gegenstands” im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 Buchstabe b WOB seiner Ansicht nach auf die Auslegung des Artikels 4 Absatz 2 Satz 2 der Sechsten Richtlinie ankommt, hat der Hoge Raad das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„Muß von einer Nutzung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Satz 2 der Sechsten Richtlinie schon von dem Zeitpunkt an gesprochen werden, in dem jemand einen zukünftigen Gegenstand in der Absicht kauft, ihn zu gegebener Zeit zu vermieten?”

11 Nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens beginnt die Nutzung eines Gegenstands bereits mit dem Erwerb des Anspruchs auf diesen. Dabei handele es sich um eine Vorbereitungshandlung, die bereits zur Ausübung des Gewerbes zu rechnen sei, da diese ohne sie nicht möglich wäre.

12 Die niederländische Regierung vertritt die Ansicht, die wirtschaftliche Tätigkeit beginne vor dem Zeitpunkt, von dem ab regelmäßige Einnahme aus dem Gegenstand erzielt werden. Dies bedeute in Fällen der hier gegebenen Art, daß der Vermieter der unbeweglichen Sache mit deren Nutzung in dem Zeitpunkt beginne, in dem er den künftigen Gegenstand kaufe. Da eine Investition aber nicht zwangsläufig zu einer Nutzung des Gegenstands führe, sondern nur dazu führen könne, sei von der Nutzung eines Gegenstands erst zu sprechen, wenn für die Nutzungsabsicht des Investierenden darüber hinaus objektive Anzeichen vorlägen. Die Absichtserklärung des Betroffenen bedürfe einer Bestätigung durch andere Umstände.

13 Nach Ansicht der Kommission ergibt sich aus Artikel 17 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, daß die Nutzung eines Grundstücks in der Regel mit der ersten Vorbereitungshandlung, d. h. mit der ersten Handlung, auf die Vorsteuer erhoben werden kann, beginnt. Die erste Handlung im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit sei der Erwerb der für die Nutzung erforderlichen Mittel und damit der Kauf der Gegenstände. Jede andere Auffassung laufe dem Sinn und Zweck des Mehrwertsteuersystems zuwider, da sonst während des Zeitraums zwischen der Entrichtung der für die erste Handlung geschuldeten Mehrwertsteuer und deren Erstattung eine finanzielle Belastung des Gegenstands eintrete, von der der Wirtschaftsteilnehmer nach dem Mehrwertsteuersystem gerade völlig frei gehalten werden solle.

14 Die Frage des nationalen Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob der Erwerb des Anspruchs auf ein Teilerbbaurecht an einem noch zu errichtenden Gebäude in der Absicht, den erworbenen Gegenstand zu gegebener Zeit zu vermieten, als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie angesehen werden kann.

15 Es ist angebracht, vor Beantwortung der Vorlagefrage kurz die im vorliegenden Fall erheblichen Elemente und Merkmale des Mehrwertsteuersystems, insbesondere die Grundsätze dieses Systems, die Regelung des Vorsteuerabzugs und den Begriff des Steuerpflichtigen, darzustellen.

16 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom in der Rechtssache 15/81 (Schul, Slg. 1982, 1409) ausgeführt hat, ist es ein grundlegendes Element des Mehrwertsteuersystems, daß bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet wird, der die verschiedenen Kostenelemente der Gegenstände und Dienstleistungen unmittelbar belastet. Ferner ist der Mechanismus des Vorsteuerabzugs so ausgestaltet, daß allein die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind.

17 In diesem allgemeinen Zusammenhang steht Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie, wonach „als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis”. In Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie heißt es: „Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden … Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfaßt.”

18 Artikel 17 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie lautet: „Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.” Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige nach Artikel 17 Absatz 2 der Richtlinie befugt, „von der von ihm geschuldeten Steuer … abzuziehen: a) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden …”

19 Aus den angeführten Merkmalen der Richtlinie ist abzuleiten, daß der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, daß alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden.

20 Ausgehend von diesen Elementen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist zu prüfen, ob der Erwerb des Anspruchs auf ein Teilerbbaurecht an einem noch zu errichtenden Gebäude gegen Zahlung von Kaufpreisraten gemäß dem Baufortschritt bereits als Beginn der Nutzung eines körperlichen Gegenstands und damit als Gegenstand oder Leistung anzusehen ist, die für die Zwecke des besteuerten Umsatzes – hier: der Vermietung – verwendet werden.

21 Für die Vermietung von Grundstücken sieht Artikel 13 Teil B Buchstabe b der Sechsten Richtlinie grundsätzlich eine Befreiung von der Mehrwertsteuer vor. Da die Kläger des Ausgangsverfahrens jedoch offenbar von ihrem in Artikel 17 Teil C der Richtlinie begründeten Recht Gebrauch gemacht haben, für die Besteuerung der Grundstücksvermietung zu optieren, ist diese hier als steuerbarer Umsatz anzusehen.

22 Zu der Frage, in welchem Zeitpunkt die Nutzung eines Grundstücks beginnt, ist festzustellen, daß die wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1, wie sich schon aus der in Artikel 4 Absatz 2 verwendeten Formulierung „alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden” ergibt, mehrere aufeinanderfolgende Handlungen umfassen können. Die zu diesen gehörenden vorbereitenden Tätigkeiten, wie der Erwerb der für die Nutzung erforderlichen Mittel und damit der Kauf eines Grundstücks, sind bereits der wirtschaftlichen Tätigkeit zuzurechnen.

23 Dabei ist nicht nach den verschiedenen Rechtsformen dieser vorbereitenden Handlungen zu differenzieren und insbesondere kein Unterschied zwischen einem Anspruch auf künftiges Eigentum und der Erlangung des Eigentums selbst zu machen. Außerdem verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer hinsichtlich der Abgabenbelastung des Unternehmens, daß schon die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens oder zu dessen Verwirklichung getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden. Es würde dem genannten Grundsatz zuwiderlaufen, wenn als Beginn der wirtschaftlichen Tätigkeiten erst der Zeitpunkt angesetzt würde, von dem an das Grundstück tatsächlich genutzt wird, d. h. die zu versteuernden Einkünfte entstehen. Bei jeder anderen Auslegung des Artikels 4 der Sechsten Richtlinie würde der Wirtschaftsteilnehmer mit den Mehrwertsteuerkosten belastet, ohne daß er sie gemäß Artikel 17 abziehen könnte, und es würde willkürlich zwischen Investitionsausgaben vor und während der tatsächlichen Nutzung eines Grundstücks unterschieden. Selbst wenn vorgesehen wäre, daß die für die vorbereitenden Handlungen gezahlte Vorsteuer nach Aufnahme der tatsächlichen Nutzung eines Grundstücks erstattet wird, würde auf dem Gegenstand wegen des manchmal sehr langen Zeitraums zwischen den ersten Investitionsausgaben und der tatsächlichen Nutzung eine finanzielle Belastung ruhen. Wer solche in engem Zusammenhang mit der künftigen Nutzung eines Grundstücks stehenden und für diese erforderlichen Investitionshandlungen vornimmt, ist daher als Steuerpflichtiger im Sinne des Artikels 4 anzusehen.

24 Zu der Frage, ob Artikel 4 so auszulegen ist, daß die Erklärung der Absicht, einen zukünftigen Gegenstand vermieten zu wollen, ausreicht, um die Bestimmung des erworbenen Gegenstands zur Verwendung für einen steuerbaren Umsatz zu bejahen und aus diesem Grund den Investierenden als Steuerpflichtigen anzusehen, ist festzustellen, daß derjenige, der einen Vorsteuerabzug vornimmt, nachzuweisen hat, daß die Voraussetzungen hierfür gegeben sind und insbesondere daß er Steuerpflichtiger ist. Artikel 4 steht daher dem nicht entgegen, daß die Abgabenverwaltung objektive Belege für die erklärte Nutzungsabsicht, z. B. den Nachweis der besonderen Eignung der zu errichtenden Räumlichkeiten für eine gewerbliche Nutzung, verlangt.

25 Auf die vorgelegte Frage ist somit zu antworten, daß der Erwerb eines Anspruchs auf Übertragung eines Teilerbbaurechts an einem noch zu errichtenden Gebäude in der Absicht, den erworbenen Gegenstand zu gegebener Zeit zu vermieten, als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie anzusehen ist, daß es der Abgabenverwaltung jedoch freisteht, objektive Belege für die erklärte Nutzungsabsicht, z. B. den Nachweis der besonderen Eignung der zu errichtenden Räumlichkeiten für eine gewerbliche Nutzung, zu verlangen.

Kosten

26 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
HAAAC-43238