BVerwG Beschluss v. - 6 B 32.03

Leitsatz

Eine Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) hängt nicht nur von der Zustimmung der Beteiligten ab, sondern liegt darüber hinaus im Ermessen des Gerichts. Es hat in diesem Zusammenhang dafür einzustehen, dass trotz der unterbleibenden mündlichen Verhandlung das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht verletzt wird.

Gesetze: GG Art. 103 Abs. 1; WpflG § 8 a; VwGO § 101 Abs. 2; VwGO § 108 Abs. 2

Instanzenzug: VG Karlsruhe VG 9 K 1505/02 vom

Gründe

1. Die allein auf die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).

a) Gegenstand der Klage ist der Musterungsbescheid der Beklagten vom , mit welchem der Kläger als tauglich eingestuft und welchem die Bewertung eines orthopädischen Befundes nach Gesundheitsziffer 42 Gradation IV gemäß ZDv 46/1 zugrunde lag. Während des Verwaltungsverfahrens und des anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens war die wehrmedizinische Bewertung dieses Befundes umstritten. Nach den Feststellungen im verwaltungsgerichtlichen Urteil legte der Kläger im Verwaltungsverfahren ein ärztliches Attest der Abteilung für Orthopädie - Traumatologie II des Klinikums K., Dr. N., vom vor, welches belege, dass er wegen akuter Lumbalgie und des Verdachts auf das Vorliegen eines thoraco-lumbalen Morbus Scheuermann wehrdienstunfähig sei. Im Rahmen des Musterungsverfahrens wurde er am von dem zum medizinischen Dienst der Beklagten gehörenden Arzt für Chirurgie Dr. K. untersucht. In dem darüber am angefertigten Bericht heißt es u.a.: "... Auf der Übersichtsaufnahme thorakolumbale Kyphose, Trapezoidform D 12/L 1/L 2 nach konsolidierter enchondraler Aufbaustörung, übrige Lumbalsegmene o.B. Zusammenfassende Beurteilung: Konsolidierte Aufbaustörung vom thorakolumbalen Übergangstyp".

In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am ist verzeichnet: "Dem Kläger soll die Möglichkeit eingeräumt werden, ein neues ärztliches Gutachten über sein Wirbelsäulenleiden einzuholen. Dieses Gutachten wird der Beklagten - Wehrbereichsverwaltung Süd - bis spätestens vorgelegt werden. Die Beklagte erhält dann Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Für die Zeit der neuen medizinischen Abklärung soll das Verfahren ruhen. Die Parteien sollen das Recht erhalten, das Verfahren jederzeit wieder anzurufen, wobei für diesen Fall der Verzicht auf eine weitere mündliche Verhandlung erklärt werden soll. Daraufhin erklärten die Parteien ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens. Gleichzeitig erklären sie für den Fall des Wiederanrufs den Verzicht auf eine weitere mündliche Verhandlung."

Der Einzelrichter hat sodann "das Ruhen des Verfahrens mit dem Recht des jederzeitigen Wiederanrufs" angeordnet.

Mit Schreiben vom übersandte der Kläger dem Verwaltungsgericht eine ärztliche Bescheinigung von Prof. Dr. R., Chefarzt der Abteilung Orthopädie-Traumatologie II des Klinikums K. vom . Darin hieß es u.a. bei "Befund: Kernspintomographie : Initiale Chondrose L3 bis S1, achsgerechte Stellung, regelrechte Höhe sämtlicher Wirbelkörper, kleine itnerspongiöse Herminationen L1 bis L4, Disci normal hoch! Regelrechte Darstellung der Cauda equina, flache dorso-mediane Vorwölbung in den Segmenten L3 bis S1, jedoch ohne Konsequenzen".

Die Beklagte äußerte sich mit Schriftsatz vom gegenüber dem Verwaltungsgericht zu der vom Kläger vorgelegten Bescheinigung. Unter Beifügung einer Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes vom - Medizinaloberrat Dr. med. S. - vertrat sie die Ansicht, dass weiterhin der Tauglichkeits- und Verwendungsgrad richtig festgesetzt seien. Die einzig neue Erkenntnis aus der ärztlichen Bescheinigung sei, dass in den Segmenten L3 bis S1 Vorwölbungen bestünden, die aber wehrmedizinisch unbedeutend seien.

Durch Beschluss vom hat der Einzelrichter das zum Ruhen gebrachte Verfahren wieder aufgenommen. Außerdem hat er die Übersendung des Wiederaufnahmebeschlusses sowie des Beklagtenschriftsatzes vom samt Anlage an den Kläger verfügt. Ausweislich Kanzleivermerk ist das entsprechende Schreiben am abgesandt worden. Ein Zustellungsnachweis findet sich nicht bei den Akten, da förmliche Zustellung nicht angeordnet war. Vor dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil vom hat sich der Kläger nicht mehr geäußert.

Mit der Beschwerde macht der Kläger geltend, er habe weder den Schriftsatz der Beklagten vom noch den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom über die Wiederaufnahme des Verfahrens erhalten. Das Urteil des Verwaltungsgerichts sei für ihn völlig überraschend gekommen. Dadurch sei ihm das rechtliche Gehör abgeschnitten worden. Es sei ihm die Möglichkeit genommen worden, vor Erlass des Urteils zu dem Antrag der Beklagten und zu der Stellungnahme selbst Ausführungen zu machen. Es sei völlig unverständlich, weshalb er sich zunächst nochmals von einem Spezialisten untersuchen lassen sollte, wenn danach seitens der Beklagten durch einen Medizinaloberrat entschieden werde.

b) Durch den Gang des gerichtlichen Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt worden, und die Beschwerde hat auch dargetan, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht. Die Rüge, das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) sei versagt worden, erfordert regelmäßig die substantiierte Darlegung dessen, was die Prozesspartei bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. BVerwG 9 B 56.91 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 25 <12> m.w.N.; BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26).

Der Kläger bringt vor, den Beschluss des Verwaltungsgerichts und den Schriftsatz der Beklagten samt Anlage nicht erhalten zu haben. Diese Einlassung ist ihm nicht zu widerlegen. Sie ist glaubhaft, weil der Kläger bereits in seiner persönlich verfassten Eingabe vom den Nichterhalt des gerichtlichen Wiederaufnahmebeschlusses sowie der Stellungnahme der Beklagten vom nebst Anlage gerügt hatte. Insbesondere existiert durch die vom Verwaltungsgericht gewählte - bei derartigen Schriftstücken im Übrigen zulässige und übliche (vgl. § 56 Abs. 1, § 86 Abs. 4 Satz 3 VwGO) - Übersendungsweise auch kein Zustellnachweis. Somit ist davon auszugehen, dass er diese Schriftstücke vor Zustellung des angefochtenen Urteils nicht erhalten hat. Die Verfahrenswahl einer Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) hängt nicht nur von der Zustimmung der Beteiligten ab, sondern liegt darüber hinaus im Ermessen des Gerichts. Es hat in diesem Zusammenhang dafür einzustehen, dass trotz der unterbleibenden mündlichen Verhandlung das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht verletzt wird. Dabei ist es für die Annahme einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör unerheblich, ob und ggf. wen innerhalb des Gerichts ein Verschulden trifft, ob den oder die zur Entscheidung berufenen Richter oder einen sonstigen Bediensteten; das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, dass dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird ( BVerwG 6 B 13.01 - Buchholz 448.6 § 19 KDVG Nr. 6).

Der Beschwerdebegründung ist sinngemäß zu entnehmen, dass der Kläger bei Erhalt des Schriftsatzes der Beklagten vom sich kritisch damit auseinandergesetzt und - ggf. unter Vorlage einer weiteren ärztlichen Stellungnahme - das Gericht zu weiteren Ermittlungen veranlasst hätte, die bei diesem im Ergebnis zu seine Ausmusterung gebietenden Erkenntnissen geführt hätten. Indem dem Kläger diese Möglichkeit unter Verstoß gegen § 86 Abs. 4 Satz 3 VwGO genommen wurde, wurde zugleich sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Denn dieser erfasst auch die Verpflichtung des Gerichts, vor der abschließenden Entscheidung jedem Beteiligten die Gelegenheit zu geben, zu schriftsätzlichem Vorbringen der Gegenseite Stellung zu nehmen (vgl. BVerwG 6 C 60.86 - BVerwGE 78, 30, 33).

Auf dem vorbezeichneten Verfahrensfehler kann das angefochtene Urteil beruhen. Es ist denkbar, dass das Verwaltungsgericht bei konkreter Verfahrensweise zu einer dem Kläger günstigen Entscheidung gelangt wäre.

2. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO.

4. Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

Fundstelle(n):
TAAAC-12966