BGH Beschluss v. - VIII ZB 88/05

Leitsatz

[1] Der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit der Klage ist auch dann für die Rechtsmittelzuständigkeit maßgebend, wenn eine Partei später im Laufe des Verfahrens ihren Wohnsitz in das Ausland verlegt. An der so begründeten Rechtsmittelzuständigkeit ändert auch die Erhebung einer Widerklage nach der Wohnsitzverlegung einer Partei nichts.

Gesetze: GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1 b

Instanzenzug: AG Achern 1 C 133/03 vom OLG Karlsruhe 8 U 161/05 vom

Gründe

I.

Die Kläger haben die Beklagten auf Zahlung rückständiger Wohnraummiete und Nebenkosten in Anspruch genommen. Die Klageschrift, in der die Kläger ihren Wohnort in Deutschland (Bühl) angegeben haben, ist den Beklagten am zugestellt worden. Die Beklagten haben Widerklage erhoben, die dem Prozessbevollmächtigen der Kläger am zugestellt worden ist. Die Ladungen zur mündlichen Verhandlung sind den Klägern am 2. und ebenfalls in Deutschland (Achern) zugestellt worden. Durch Schriftsatz vom haben die Kläger mitgeteilt, dass sie "wieder in Griechenland" wohnten. In der mündlichen Verhandlung vom vor dem Amtsgericht Achern hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger erklärt, diese seien "zwischenzeitlich in Griechenland wohnhaft". Später, durch Schriftsatz vom , haben die Beklagten die Widerklage erweitert.

Das Amtsgericht hat der Klage durch Urteil vom teilweise stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Gegen das ihnen am zugestellte Urteil haben die Beklagten fristgerecht Berufung zum Oberlandesgericht Karlsruhe eingelegt. Durch Verfügung vom hat das Oberlandesgericht im Hinblick auf § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf Bedenken im Hinblick auf seine Zuständigkeit hingewiesen, weil die Kläger ihren Wohnsitz bei Klagezustellung in Deutschland gehabt hätten. Die Beklagten haben nunmehr vorgetragen, nach einer - von ihnen nicht vorgelegten - Auskunft des Einwohnermeldeamtes Bühl hätten sich die Kläger zum nach Griechenland abgemeldet; vorsorglich haben die Beklagten Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Baden-Baden beantragt. Die Kläger haben daraufhin mitgeteilt, dass sie "im Mai 2003" nach Griechenland umgezogen seien.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Beschluss als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, dass es zur Entscheidung über das Rechtsmittel nicht zuständig sei. Es sei davon auszugehen, dass die Kläger bei Klageerhebung ihren allgemeinen Gerichtsstand (§ 13 ZPO) in Deutschland gehabt hätten. Dies hätten die Beklagten erstinstanzlich nie in Frage gestellt. Daher könnten sie den inländischen Wohnsitz der Kläger bei Klageerhebung nunmehr nicht mehr mit Erfolg anzweifeln. Maßgeblich für die Rechtsmittelzuständigkeit nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG sei der Gerichtsstand bei Zustellung der Klage. Dabei komme es auf die zeitlich erste Anhängigmachung an, also auf den Klageanspruch. Später eingetretene Veränderungen des Wohnsitzes bewirkten nach Sinn und Zweck der Regelung weder eine Aufspaltung der Zuständigkeit für die Berufung nach Klage und Widerklage noch könnten sie dazu führen, dass sich die Rechtsmittelzuständigkeit im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens ändere. Aus Gründen der Rechtssicherheit, Verfahrensvereinfachung und Rechtsmittelklarheit müsse bereits bei Verfahrensbeginn vor dem Amtsgericht bestimmbar sein, wo gegebenenfalls Rechtsmittel einzulegen seien. Daher ändere es die Zuständigkeit zur Entscheidung über das Rechtsmittel nicht, dass die Kläger bei Erhebung der Widerklage ihren Wohnsitz inzwischen in Griechenland begründet hätten. Eine Abgabe des Verfahrens an das funktionell zuständige Landgericht Baden-Baden komme - zumal nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - nicht in Betracht.

Mit der Rechtsbeschwerde erstreben die Beklagten Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht Karlsruhe, hilfsweise Verweisung an das Landgericht Baden-Baden.

II.

Die gemäß §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.

1. Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG sind die Oberlandesgerichte zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel der Berufung und der Beschwerde gegen Entscheidungen der Amtsgerichte in Streitigkeiten über Ansprüche, die von einer oder gegen eine Person erhoben werden, die ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes hatte. Maßgeblich ist hiernach der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit, so dass es regelmäßig auf die Zustellung der Klageschrift ankommt (§§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 und 2 ZPO; vgl. BGHZ 155, 46, 48; Senatsbeschluss vom - VIII ZB 2/04, NJW-RR 2004, 1505 unter II 2 b). Bei Klagezustellung hatten die Kläger ihren allgemeinen Gerichtsstand noch an ihrem damaligen Wohnsitz in Deutschland (§ 13 ZPO). Das haben die Beklagten, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, erstinstanzlich nicht in Frage gestellt; es war deshalb einer Nachprüfung in zweiter Instanz grundsätzlich entzogen. Für die Frage der Rechtsmittelzuständigkeit nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG ist nach der Rechtsprechung des Senats regelmäßig der im Verfahren vor dem Amtsgericht unangegriffen gebliebene ausländische oder - wie vorliegend - inländische Gerichtsstand einer Partei zugrunde zu legen. Dies entspricht dem aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit abgeleiteten Gebot der Rechtsmittelklarheit, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (Beschluss vom - VIII ZB 66/03, NJW-RR 2004, 1073 unter II 2 c bb; Beschluss vom aaO unter II 2 b; zuletzt Beschlüsse vom - VIII ZB 28/05 unter II 2 sowie vom - VIII ZB 100/04 unter II 2 a, jew. zur Veröffentlichung bestimmt; ebenso , NJW-RR 2005, 780 unter A II 2 a; zur verfassungsrechtlich gebotenen Klarheit der Rechtsmittelvorschriften siehe BVerfGE 107, 395, 416 f.).

2. Eine Berufungszuständigkeit des Oberlandesgerichts ergibt sich auch dann nicht, wenn eine Partei ihren allgemeinen Gerichtsstand zwar bei Klagezustellung im Inland hat, ihn aber - wie hier - im weiteren Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens in das Ausland verlegt (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl., § 119 GVG Rdnr. 9; Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hart-mann, ZPO, 64. Aufl., § 119 GVG Rdnr. 9; Zimmermann, ZPO, 7. Aufl., § 119 GVG Rdnr. 2; von Hein, ZZP 116 [2003], 335, 355; ders., IPrax 2004, 90, 95 f.; siehe auch Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 119 Rdnr. 27a; Brand/Karpenstein, NJW 2005, 1319, 1320). Eine andere Auffassung wäre nicht mit der formalen, typisierten Natur des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG in Einklang zu bringen, der ausdrücklich an einen bestimmten Stichtag anknüpft. Auf einen anderen, später gelegenen Zeitpunkt als den des Eintritts der Rechtshängigkeit stellt die Vorschrift entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde, die den Wohnsitz zur Zeit der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils als maßgeblich ansehen will, gerade nicht ab. Das entspricht der Regelung des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, wonach eine Verlegung des Wohnsitzes nach Rechtshängigkeit auf die örtliche Zuständigkeit des Prozessgerichts keine Auswirkungen hat.

Auch der Zweck des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG bestätigt, dass ein Wohnsitzwechsel nach Klagezustellung für die Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts unbeachtlich ist; denn durch diese Bestimmung soll, wie ausgeführt, bereits bei Verfahrensbeginn für die Parteien erkennbar sein, bei welchem Gericht gegebenenfalls ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Amtsgerichts einzulegen ist. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde steht dem nicht entgegen, dass die Sonderzuweisung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auch dem Umstand Rechnung tragen soll, dass durch die Internationalisierung des Rechts und den zunehmenden grenzüberschreitenden Rechtsverkehr ein großes Bedürfnis nach Rechtssicherheit durch eine obergerichtliche Rechtsprechung besteht (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S. 118 f.). Das genügt schon aufgrund des entgegenstehenden und klaren Wortlauts der Vorschrift nicht, um die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts zu begründen.

3. Die von den Beklagten erhobene Widerklage führt ebenfalls nicht zur Zuständigkeit des Oberlandesgerichts.

a) Die Rechtsbeschwerde räumt ein, dass eine Aufspaltung der Berufungszuständigkeit nach Klage und Widerklage nicht in Betracht zu ziehen ist. Dies wäre nicht nur denkbar unpraktikabel, sondern widerspräche auch der Vereinfachungstendenz des Gesetzes sowie seinem Zweck, die Rechtssicherheit zu verstärken (vgl. bereits BGHZ 155, 46, 49). Das gilt erst recht für die Erweiterung der Widerklage durch den Schriftsatz vom .

b) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde stellt die Widerklage aber auch nicht insgesamt die Rechtsmittelzuständigkeit des Oberlandesgerichts für den Rechtsstreit her.

aa) Wie das Oberlandesgericht richtig gesehen hat, gilt dies auch dann, wenn man zugunsten der Beklagten einen Wohnsitzwechsel der Kläger in das Ausland nach Zustellung der Klageschrift, aber vor Rechtshängigkeit des mit der Widerklage erhobenen Anspruchs zugrunde legt. Dies ist für die Zuständigkeit des Berufungsgerichts unbeachtlich, weil das Gebot der Rechtsmittelklarheit, den Parteien den Rechtsmittelweg bereits bei Verfahrensbeginn vorzuzeichnen, auch für eine während des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht erhobene Widerklage gilt. Nur dann erfüllt das Gerichtsstandskriterium in jeder Hinsicht seinen Zweck, eine hinreichende Bestimmtheit und damit Rechtssicherheit für die Abgrenzung der Berufungszuständigkeit zwischen Landgericht und Oberlandesgericht zu gewährleisten (vgl. dazu die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S. 119).

bb) Überdies war nach der Rechtsprechung des Senats das Oberlandesgericht hier bereits deshalb nicht zur Entscheidung über das Rechtsmittel berufen, weil ein weiterer Gesichtspunkt hinzu kommt, der ebenfalls aus dem Gebot der Rechtsmittelklarheit herzuleiten ist. Wie ausgeführt, folgt daraus nämlich auch, dass für die Frage der Rechtsmittelzuständigkeit nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG regelmäßig der im Verfahren vor dem Amtsgericht unangegriffen gebliebene - hier inländische - Gerichtsstand einer Partei zugrunde zu legen und einer Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht grundsätzlich entzogen ist. Eine Abweichung von diesem Grundsatz ist hier nicht geboten. Auch bei einer Widerklage widerspräche es dem Gebot der Rechtsmittelklarheit, wenn der in erster Instanz nicht angegriffene in- oder ausländische Wohnsitz einer Partei in der Rechtsmittelinstanz uneingeschränkt wieder in Frage gestellt werden könnte mit der Folge, dass bei Durchgreifen dieses Einwands das Rechtsmittel bei dem unzuständigen Gericht eingelegt und eine Berufung daher als unzulässig verworfen werden müsste, wenn - wie regelmäßig - zu diesem Zeitpunkt die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem zuständigen Gericht verstrichen ist.

Für den Streitfall bedeutet dies, dass es sein Bewenden bei der Zuständigkeit des Landgerichts hat (§ 72 Halbs. 1 GVG). Erstinstanzlich ist nämlich nicht nur unangegriffen geblieben, dass die Kläger ihren Gerichtsstand zur Zeit der Zustellung der Klage in Deutschland hatten, sondern auch zur Zeit der Zustellung der Widerklage. Aus der Widerklageschrift vom ergibt sich nichts anderes, zumal den Klägern die Ladungen zur mündlichen Verhandlung noch am 2. und in Deutschland zugestellt worden sind. Es gibt auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte, ihre Erklärung im Schriftsatz vom , wonach sie "wieder in Griechenland" wohnten, bereits auf den Zeitpunkt der Zustellung der Widerklage am zu beziehen. Auf der Grundlage des erstinstanzlichen Verfahrens mussten die Beklagten daher auch in diesem Zeitpunkt von einem Wohnsitz der Kläger in Deutschland ausgehen und haben dies hingenommen, so dass in zweiter Instanz keine Nachprüfung mehr vorzunehmen war.

4. Die Rechtsbeschwerde beanstandet schließlich ohne Erfolg, dass das Oberlandesgericht den Rechtsstreit nicht an das zuständige Landgericht verwiesen hat. Eine Verweisung auf Antrag in entsprechender Anwendung des § 281 ZPO scheidet aus, weil die Vorschrift für die funktionelle Zuständigkeit nicht gilt (BGHZ 155, 46, 50; , NJW-RR 1997, 55 unter II 2) und die Berufungsfrist bei Antragstellung ohnehin abgelaufen war (vgl. , NJW 2003, 1672 unter II 4).

Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde kam auch eine Abgabe des Verfahrens durch das angerufene Gericht an das funktionell zuständige Gericht entsprechend den für das Kartellverfahren geltenden Sonderregeln (dazu BGHZ 71, 367, 371 ff.) nicht in Betracht, weil die Bestimmung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG nicht mit vergleichbaren Unsicherheiten wie das Kartellverfahren belastet ist ( aaO). Unabhängig davon bestand eine erhebliche, von der Rechtsprechung nicht hinreichend beseitigte Unsicherheit in der Zuständigkeitsregelung hier schon deshalb nicht, weil es zur Zeit der Berufungseinlegung nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am durch die Senatsbeschlüsse vom (aaO) und vom (aaO) geklärt war, dass der im Verfahren vor dem Amtsgericht unangegriffen gebliebene in- oder ausländische Gerichtsstand einer Partei zugrunde zu legen und einer Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht grundsätzlich entzogen ist.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BB 2006 S. 1822 Nr. 34
NJW 2006 S. 2782 Nr. 38
DAAAC-03911

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja