BAG Urteil v. - 2 AZR 675/03

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB IX § 2; SGB IX § 69; SGB IX § 85 aF

Instanzenzug: ArbG Dortmund 6 Ca 4296/02 vom LAG Hamm 8 (12) Sa 471/03 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer personenbedingten Kündigung.

Die Klägerin war bei der Beklagten als Auszeichnerin/Kommissioniererin beschäftigt. Nach ärztlichem Attest vom - bestätigt durch betriebsärztliche Untersuchung - ist sie auf Grund einer Bandscheibenoperation nicht mehr einsetzbar für Arbeiten in Zwangshaltung, Überkopf-Arbeiten und Arbeiten, die mit dem Heben von Lasten über 10 kg verbunden sind. Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte daraufhin das Arbeitsverhältnis zum . Der zuvor angehörte Betriebsrat hatte der Kündigung widersprochen und in seiner Stellungnahme ua. angeführt, die Klägerin habe erklärt, sie habe einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte gestellt. Daraufhin teilte der Personalleiter der Beklagten dem Betriebsrat mit, von einem Antrag auf Schwerbehinderung beim Versorgungsamt sei der Personalleitung nichts bekannt. Durch Bescheid des Versorgungsamtes Dortmund vom wurde der Grad der Behinderung rückwirkend ab mit 50 festgestellt.

Die Klägerin hat Kündigungsschutzklage erhoben und Weiterbeschäftigung begehrt. Die Kündigung sei schon auf Grund der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes unwirksam.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom mit dem nicht beendet wurde;

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Auszeichnerin und Kommissioniererin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat eine anderweitige Einsatzmöglichkeit der Klägerin bestritten. Die Kündigung habe nicht der Zustimmung des Integrationsamts bedurft, da die Klägerin die Beklagte nicht rechtzeitig über ihre Antragstellung informiert habe. Der eher beiläufige Hinweis in der Stellungnahme des Betriebsrats reiche insoweit nicht aus. Diesem Hinweis des Betriebsrats nachzugehen habe für sie ebenso wenig Anlass bestanden, als wenn ihr entsprechende Gerüchte aus Kantinengesprächen zugetragen worden wären.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung der Klägerin stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Gründe

Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung ist mangels vorheriger Zustimmung des Integrationsamts unwirksam.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, für den Sonderkündigungsschutz des schwerbehinderten Menschen nach § 85 SGB IX aF sei es ausreichend, dass der Arbeitgeber aus der Stellungnahme des Betriebsrats Kenntnis von der Schwerbehinderung bzw. der Antragstellung gehabt habe. Dazu sei es nicht erforderlich, dass die Arbeitnehmerin den Betriebsrat um Weiterleitung der Information gebeten habe und dieser als Bote der Arbeitnehmerin anzusehen sei.

II. Dem folgt der Senat im Ergebnis und auch weitgehend in der Begründung. Zu Unrecht rügt die Beklagte eine Verletzung des § 85 SGB IX aF.

1. Die Klägerin ist schwerbehindert iSv. § 2 Abs. 1 und 2 SGB IX. Auf Grund des auf den zurückwirkenden Bescheids des Versorgungsamts Dortmund vom steht fest, dass sie schon im Kündigungszeitpunkt schwerbehindert war. Die Eigenschaft als schwerbehindert entsteht kraft Gesetzes, wenn die in § 2 SGB IX in der im Zeitpunkt der Kündigung geltenden Fassung genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts hat nach § 2 Abs. 2, 69 SGB IX keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung (vgl. Senat - 2 AZR 612/00 - BAGE 100, 355; - 2 AZR 462/76 - BAGE 30, 141).

2. Die rechtlichen Wirkungen der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch treten im Falle des Sonderkündigungsschutzes nach der im Zeitpunkt der Kündigung geltenden Fassung des SGB IX allerdings nicht ohne weiteres, dh. schon bei bloß bestehender objektiver Eigenschaft als schwerbehindert ein. Voraussetzung ist vielmehr nach ständiger Rechtsprechung des Senats, dass vor Zugang der Kündigung ein Bescheid über die Eigenschaft als schwerbehindert ergangen ist oder jedenfalls ein entsprechender Antrag gestellt ist ( - 2 AZR 612/00 - BAGE 100, 355; - 2 AZR 770/76 - BAGE 29, 331; - 2 AZR 462/76 - BAGE 30, 141; - 2 AZR 10/82 - BAGE 43, 148).

An dieser zuletzt zu § 15 SchwbG bestätigten Rechtsprechung hält der Senat auch nach der insoweit unveränderten Übernahme des Schwerbehindertenrechts in das SGB IX (Gesetz vom , BGBl. I S. 1046) fest (siehe auch aaO unter II 3 der Gründe). Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil auch der Gesetzgeber nunmehr ausdrücklich erhebliche Einschränkungen des besonderen Kündigungsschutzes schwerbehinderter Menschen für den Fall vorgenommen hat, dass dem Arbeitgeber die Eigenschaft seines Arbeitnehmers als schwerbehindert bei Ausspruch der Kündigung nicht bekannt war (vgl. jetzt § 90 SGB IX, in der Fassung vom , BGBl. I S. 606).

Das Antragserfordernis hat die Klägerin hier erfüllt, denn sie hat rechtzeitig vor Ausspruch der Kündigung beim zuständigen Versorgungsamt einen Antrag auf Feststellung der Behinderung und des Grads der Behinderung gestellt.

3. Entgegen der Auffassung der Revision fehlte es auch nicht deshalb an der Zustimmungsbedürftigkeit für die ausgesprochene Kündigung, weil die Klägerin selbst die Beklagte nicht innerhalb eines Monats nach Ausspruch der Kündigung auf ihren besonderen Kündigungsschutz bzw. den beim Versorgungsamt gestellten Antrag hingewiesen hat.

a) Wenn der Senat bisher zu § 85 SGB IX aF darauf abgestellt hat, den schwerbehinderten Menschen treffe die Obliegenheit, bei Unkenntnis des Arbeitgebers von der Eigenschaft als schwerbehindert bzw. der Antragstellung beim Versorgungsamt diesen innerhalb einer Frist von regelmäßig einem Monat auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen, so ist dies aus Vertrauensschutzgesichtspunkten gerechtfertigt (siehe zuletzt - 2 AZR 612/00 - BAGE 100, 355). Der Arbeitgeber, der keine Kenntnis von dem bestehenden oder möglichen Schutztatbestand hat, hat keinen Anlass, ein Zustimmungsverfahren beim Integrationsamt einzuleiten. Je nach dem Stand des Verfahrens beim Versorgungsamt ist ihm ein Zustimmungsverfahren sogar unmöglich. Will man vermeiden, dass der Arbeitgeber bei allen Kündigungen vorsorglich einen Zustimmungsantrag beim Integrationsamt stellen muss, damit der besondere Schutztatbestand nicht möglicherweise erst nach jahrelanger Prozessdauer offenbart wird, war es deshalb erforderlich, im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit im Kündigungsrecht die Geltendmachung des besonderen Kündigungsschutzes zeitlich zu begrenzen.

b) Eine solche zeitliche Begrenzung der Geltendmachung des besonderen Kündigungsschutzes ist jedoch nur in den Fällen erforderlich, in denen ein derartiges Schutzbedürfnis des Arbeitgebers anzuerkennen ist. Es ist etwa zu verneinen, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich ist und er deshalb auch ohne Kenntnis, ob der Arbeitnehmer einen Feststellungsantrag beim Versorgungsamt gestellt hat, vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt beantragen kann (vgl. Senat - 2 AZR 380/99 - BAGE 96, 123 zur Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen Falschbeantwortung der Frage nach einer Schwerbehinderung). Hat der Arbeitnehmer seine Anerkennung als schwerbehinderter Mensch nicht beantragt, reicht dem Arbeitgeber nach § 85 SGB IX aF zum Ausspruch der Kündigung das Negativattest des Integrationsamts. Ebenso wenig ist der Arbeitgeber schutzbedürftig, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer den Arbeitgeber vor dem Ausspruch der Kündigung über seine körperlichen Beeinträchtigungen informiert und über die beabsichtigte Antragstellung in Kenntnis gesetzt hat. Dann tritt der Sonderkündigungsschutz selbst dann - ohne vorherige Antragstellung - ein, wenn der Arbeitgeber mit seiner Kündigung der Antragstellung des Arbeitnehmers beim Versorgungsamt zuvor kommt ( - BAGE 100, 355).

c) Mit zutreffender Begründung geht das Landesarbeitsgericht davon aus, dass ein Vertrauensschutz des Arbeitgebers auch dann nicht in Betracht kommt, wenn der Betriebsrat im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG dem Arbeitgeber mitteilt, der Arbeitnehmer habe dem Betriebsrat gegenüber geäußert, er habe beim Versorgungsamt einen Feststellungsantrag nach § 69 SGB IX gestellt. Eine solche Mitteilung verschafft dem Arbeitgeber eine hinreichende Kenntnis von dem möglichen Sonderkündigungsschutz, die es ihm ermöglicht, vorsorglich beim Integrationsamt einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung zu stellen. Dieser Kenntnis darf sich der Arbeitgeber nicht verschließen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer den Betriebsrat um Weiterleitung der Information gebeten hat, der Betriebsrat also als Erklärungsbote des Arbeitnehmers handelt. Das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG hat ua. den Zweck, dass der Betriebsrat möglichst nach Anhörung des Arbeitnehmers dessen besondere Schutzbedürftigkeit, die der Kündigungsabsicht des Arbeitgebers entgegensteht, aufklärt und im Rahmen des Anhörungsverfahrens mit dem Arbeitgeber erörtert. Ein Widerspruch des Betriebsrats unter ausdrücklicher Bezugnahme auf einen Feststellungsantrag des Arbeitnehmers nach § 69 SGB IX und damit einen möglichen Sonderkündigungsschutz hat dabei ein solches Gewicht, dass der Arbeitgeber gegen seine eigenen Interessen handelt, wenn er diese Information einfach unberücksichtigt lässt und mit der Erklärung, der Arbeitnehmer selbst habe ihn über diesen Antrag nicht unterrichtet, ohne Einschaltung des Integrationsamts kündigt. Mit vagen Kantinengesprächen ist im Gegensatz zu der Auffassung der Beklagten eine solche Information durch den Betriebsrat im Verfahren nach § 102 BetrVG nicht vergleichbar.

d) Danach scheitert die Wirksamkeit der Kündigung an § 85 SGB IX aF. Die Erklärung des Betriebsrats war im vorliegenden Fall so deutlich, dass sie die Beklagte zur vorsorglichen Antragstellung nach § 87 SGB IX aF veranlassen musste, mindestens aber zur Rückfrage bei der Klägerin. In seinem Widerspruch hat der Betriebsrat nicht nur allgemein auf einen möglichen Sonderkündigungsschutz der Klägerin hingewiesen, sondern konkret angegeben, die Klägerin habe in einem Gespräch mit einem namentlich bezeichneten Betriebsratsmitglied ihre Antragstellung offenbart. Wenn die Beklagte sich daraufhin lediglich auf den Standpunkt stellte, sie wisse nichts von einer Antragstellung, handelte sie auf eigenes Risiko.

III. Über den Weiterbeschäftigungsantrag ist nicht mehr zu befinden, da der Senat abschließend über den Feststellungsantrag entschieden hat.

IV. Die Beklagte hat nach § 97 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

Fundstelle(n):
DB 2005 S. 1391 Nr. 25
NJW 2005 S. 2796 Nr. 38
VAAAB-93790

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