BGH Beschluss v. - 4 StR 422/19

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen: Ausnutzen der fehlenden sexuellen Selbstbestimmung des Tatopfers

Gesetze: § 182 Abs 3 Nr 1 StGB

Instanzenzug: LG Essen Az: 65 KLs 1/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in vier Fällen und Verbreitung pornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Seine hiergegen eingelegte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Die auf § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB gestützte Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in den Fällen II. 2. a) bis d) der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben. Zwar wird die Verurteilung nicht durch die Rücknahme des Strafantrages des Nebenklägers im Revisionsverfahren in Frage gestellt, denn die Staatsanwaltschaft hat mit der Anklageerhebung das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung im Sinne des § 182 Abs. 5 StGB bejaht (Seite 6 der Anklageschrift); die Urteilsgründe belegen aber nicht, dass der Angeklagte die ihm gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausgenutzt hat.

3a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen war der 1971 geborene Angeklagte, ein Arzt, mit der Familie des am geborenen Nebenklägers befreundet. Sowohl der Angeklagte als auch der Nebenkläger haben eine homosexuelle Neigung. Der Nebenkläger hatte mit 13 Jahren erste sexuelle Erfahrungen gemacht. Nachdem es ab dem Jahr 2013 zu keinen Treffen innerhalb der Familie mehr gekommen war, an denen der Angeklagte und der Nebenkläger teilgenommen hatten, nahm der Nebenkläger im Oktober 2015 in Form einer Kurznachricht Kontakt zu dem Angeklagten auf, weil er Interesse an sexuellen Erfahrungen hatte und er den Angeklagten in Bezug hierauf als „interessant“ empfand. Im Verlauf der weiteren Kommunikation schrieb der Nebenkläger dem Angeklagten, dass er Kontakt zu ihm suche, weil er „schwul“ sei, und schickte ihm auch ein Ganzkörpernacktbild von sich. Die sich anschließende Kommunikation war sexuell motiviert; konkrete Vorstellungen davon, wie sich die Verbindung zu dem Angeklagten entwickeln sollte, hatte der Nebenkläger nicht. Eine Liebesbeziehung bestand zu keinem Zeitpunkt.

4In der Zeit zwischen dem und Dezember 2015 kam es sodann zu mehreren Treffen zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger, die der Vornahme sexueller Handlungen dienten. Im ersten Fall, bei dem es sich zugleich um das erste persönliche Zusammentreffen beider nach der erneuten Kontaktaufnahme handelte, trafen sich der Angeklagte und der Nebenkläger in einem Hallenbad. Nachdem der Nebenkläger Bedenken des Angeklagten zerstreut hatte, begaben sich beide in eine Umkleidekabine und führten unter anderem wechselseitig den Oralverkehr aus. Dabei hatte sich der Nebenkläger zeitlich noch vor dem Angeklagten entkleidet (Fall II. 2. a) der Urteilsgründe). In der Folge berichtete der Nebenkläger dem Angeklagten über Telekommunikationsdienste von weiteren - von ihm erfundenen - sexuellen Kontakten zu anderen Männern. Bis November 2015 fanden noch zwei Treffen in dem Schwimmbad statt, bei denen es jeweils zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger kam (Fälle II. 2. b) und c) der Urteilsgründe). Bei einem weiteren Treffen auf einem Parkplatz vollzogen beide im Pkw des Angeklagten wechselseitig den Oralverkehr. Zuvor hatte der ortskundige Nebenkläger dem Angeklagten eine geeignete Parkposition für sein Fahrzeug gezeigt (Fall II. 2. d) der Urteilsgründe). In allen Fällen nahm der Angeklagte zumindest in Kauf, dass der Nebenkläger nur aus Unreife und seiner fehlenden Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung die sexuellen Handlungen ausführte und an sich vornehmen ließ, und nutzte dies zur Tatbegehung aus.

5b) Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen begegnet die Annahme eines sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

6aa) Nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB wird bestraft, wer - als Person über 21 Jahren - eine Person unter 16 Jahren dadurch missbraucht, dass er sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt und dabei die ihm gegenüber fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. Das vom Tatbestand vorausgesetzte Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung dem Täter gegenüber ergibt sich nicht schon allein aus dem Umstand, dass die betroffene jugendliche Person unter 16 Jahre alt ist, sondern bedarf der konkreten Feststellung im Einzelfall (vgl. , NStZ-RR 2020, 344, 345; Beschluss vom - 2 StR 57/20 Rn. 10; Urteil vom - 3 StR 83/17, NStZ-RR 2018, 75; Beschluss vom - 2 StR 555/07, BGHR StGB § 182 Abs. 2 Selbstbestimmungsfähigkeit 1; Beschluss vom - 4 StR 341/06, NStZ 2007, 329 mwN). Dabei ist wertend zu beurteilen, ob der Jugendliche im Zeitpunkt der Tatbegehung nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug war, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln in Bezug auf den (erwachsenen) Täter danach auszurichten (vgl. , NStZ-RR 2020, 344, 346; BT-Drucks. 12/4584, S. 8, BT-Drucks. 18/2601, S. 29; Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 182 Rn. 13a). Ersteres wird dann zweifelhaft sein, wenn das jugendliche Opfer - etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte soziale Fehlentwicklungen bedingt - einen bedeutenden Mangel an Urteilsvermögen aufweist (vgl. , NStZ-RR 2018, 75 f.; MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 182 Rn. 61; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 182 Rn. 12a; AnwK-StGB/Lederer, 3. Aufl., § 182 Rn. 24). Die Fähigkeit zur sexuellen Autonomie gegenüber dem Täter kann im Einzelfall auch fehlen, wenn die Beziehung zwischen ihm und dem Jugendlichen auf eine sexuelle Beherrschung angelegt ist oder der Täter sich - durch dominantes oder manipulatives Auftreten - unlauterer Mittel der Willensbeeinflussung bedient. Ein weiteres Indiz für das Bestehen eines solchen „Machtgefälles“ kann auch ein erheblicher Altersunterschied sein (vgl. , NStZ-RR 2020, 344, 346; BT-Drucks. 12/4584, S. 8; Hörnle et al., Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Notwendige Reformen im Strafgesetzbuch, S. 136; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 182 Rn. 65). Das Merkmal des Ausnutzens ist erfüllt, wenn sich der Täter die Unreife seines Opfers mit seinem unlauteren Verhalten bewusst zunutze macht (vgl. , NStZ-RR 2020, 344, 346).

7bb) Daran gemessen vermögen die Urteilsgründe nicht zu belegen, dass der Nebenkläger gegenüber dem Angeklagten zu einer sexuellen Selbstbestimmung nicht fähig war und der Angeklagte dies ausgenutzt hat.

8(1) Die Strafkammer meint, der Nebenkläger habe ein altersuntypisches auffällig sexualisiertes Verhalten gezeigt, das angesichts des jungen Alters des Nebenklägers nicht auf einer alterstypischen sexuellen Entwicklung beruht haben konnte. Seine fehlende sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit sei auch dadurch deutlich erkennbar hervorgetreten, dass er dem Angeklagten auf Nachfrage über noch intensivere sexuelle Handlungen mit anderen Männern berichtete.

9(2) Diese Erwägungen greifen zu kurz. Soweit die Strafkammer aus dem als altersuntypisch eingestuften Sexualverhalten des Nebenklägers auf einen Mangel an sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit schließen will, fehlt es dafür an ausreichenden Belegen. Feststellungen zu einer Retardierung im intellektuellen Bereich oder zu ausgeprägten sozialen Fehlentwicklungen hat die Strafkammer in Bezug auf den Nebenkläger nicht getroffen. Die Art und Weise, wie der Nebenkläger die Beziehung zu dem Angeklagten angebahnt hat, und sein bestimmendes Auftreten bei den sexuellen Kontakten, lassen sich nicht ohne Weiteres als Ausdruck von Unreife oder Unkenntnis im Umgang mit der eigenen Sexualität deuten. Für ein „Machtgefälle“ zwischen dem Nebenkläger und dem Angeklagten, das es dem Nebenkläger erschwert haben könnte, seine sexuellen Interessen durchzusetzen, fehlt angesichts seiner Dominanz bei der Konstellierung und der Durchführung der Treffen mit dem Angeklagten jeglicher Anhaltspunkt.

102. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Wegfall der Verurteilung in den Fällen II. 2. a) bis d) der Urteilsgründe entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage. Der Senat hebt auch die Einzelstrafe für die Verurteilung wegen Verbreitung pornografischer Schriften gemäß § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf, um der Strafkammer gegebenenfalls eine abgestimmte Strafzumessung zu ermöglichen. Dabei wird auch die überlange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen sein.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:181120B4STR422.19.0

Fundstelle(n):
LAAAH-75711