BSG Beschluss v. - B 1 KR 7/19 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Mehrheit von prozessualen Ansprüchen - unechte Beiladung - Verfahrensmangel - keine medizinische Sachaufklärung - Verweis auf angeblich allgemeinkundige Tatsachen

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 103 SGG, § 75 Abs 2 Alt 2 SGG, § 75 Abs 5 SGG

Instanzenzug: Az: S 28 KR 1936/13 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Hamburg Az: L 1 KR 75/16 ZVW Urteil

Gründe

1I. Die Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert. Sie begehrt die Erstattung von Kosten in unbezifferter Höhe für einen unbekannten Zeitraum für - zumindest teilweise mit Privatrezepten - selbst verschaffte, nicht verschreibungspflichtige Rezeptur- und Fertigarzneimittel und ein Nahrungsergänzungsmittel (indische Flohsamenschalen), sowie deren künftige Kostenübernahme. Mit diesem Begehren ist sie bei der Beklagten und den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben (). Das BSG hat das LSG-Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, weil das LSG das Jobcenter team.arbeit.hamburg als möglichen leistungspflichtigen Grundsicherungsträger nicht nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG notwendig beigeladen hat ( - juris). Das LSG hat die Beiladung nachgeholt und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, auch der Beigeladene sei nach § 21 Abs 6 SGB II hinsichtlich der Arzneimittel nicht leistungspflichtig, weil zum Teil die befragten Ärzte die Notwendigkeit eines medizinischen Bedarfs nicht bejaht hätten (Aspirin, Buscopan) und im Übrigen die von der Klägerin geltend gemachten, auf den Monat umgerechneten Kosten den dafür im Regelsatz vorgesehenen Betrag nicht überschritten hätten. Der Beigeladene sei nach § 21 Abs 5 SGB II auch nicht hinsichtlich der indischen Flohsamenschalen leistungspflichtig. Dieses Mittel wirke durch die Formung des Stuhls einer Kontinenzstörung aufgrund Schließmuskelminderfunktion entgegen, eine Normalisierung der Stuhlbeschaffenheit sei aber schon durch Vollkost zu erreichen. Die Ernährung mit Vollkost werde von § 21 Abs 5 SGB II nicht erfasst (Urteil vom ).

2Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der von ihr formulierten Rechtsfrage und rügt Verfahrensfehler.

3II. Die Beschwerde der Klägerin ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung (§ 160a Abs 5 SGG) begründet. Der von ihr gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist entsprechend den gesetzlichen Anforderungen bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Im Übrigen ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

41. Der Rechtsstreit, der der Beschwerde zugrunde liegt, betrifft mehrere prozessuale Streitgegenstände. Die Klägerin begehrt die Erstattung und zukünftige Übernahme von Kosten für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, darunter zum Teil Arzneimittel für die Behandlung von Hautkrankheiten, zum Teil andere nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Daneben begehrt die Klägerin auch die Erstattung und Übernahme von Kosten von indischen Flohsamenschalen, eines Nahrungsergänzungsmittels. Zwar hat das LSG nur einen Antrag auf Kostenerstattung und Kostenübernahme mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten protokolliert und als Klageantrag in seine Entscheidung aufgenommen. Zutreffend hat es unter Berücksichtigung des § 123 SGG aber auch über einen Anspruch hinsichtlich des Nahrungsergänzungsmittels entschieden, indem es die Berufung über den Anspruch auf Kostenerstattung und zukünftige Versorgung mit "Medikamenten" bezüglich der beklagten KK zurückgewiesen hat. Das Klagebegehren war und ist auf diejenigen nicht verschreibungspflichtigen Leistungsgegenstände gerichtet, die die namentlich benannten Ärzte verordnet bzw aus therapeutischen Gründen empfohlen haben. Zu diesen Ärzten zählt auch Dr. H., die rechtlich ungenau ua die indischen Flohsamenschalen als im Falle der Klägerin unter therapeutischen Gesichtspunkten indiziertes Medikament bezeichnet hat. Dies hat das LSG - auch unter Berücksichtigung der Bindungswirkung des Beschlusses des erkennenden Senats vom (B 1 KR 18/16 B - juris) - erkannt. Es hat auch gegenüber dem Beigeladenen ausdrücklich die Gewährung eines Mehrbedarfs bezüglich des Nahrungsergänzungsmittels geprüft und verneint.

52. Die Klägerin hat die Beschwerde über die Nichtzulassung der Revision auf das Ziel beschränkt, nur die Zurückweisung der Berufung wegen des Nahrungsergänzungsmittels und der Hautkrankheiten betreffenden Arzneimittel mit dem Rechtsmittel der Revision überprüfen zu lassen. Hinsichtlich der anderen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel betreffenden Ansprüche ist das Urteil des LSG rechtskräftig geworden. Für die damit verbliebenen prozessualen Ansprüche des Beschwerdeverfahrens macht die Klägerin unterschiedliche Revisionszulassungsgründe geltend. Als Zulassungsgrund für die Versagung der Kosten für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel rügt sie allein die grundsätzliche Bedeutung. Als Zulassungsgrund für die Versagung der Kosten für ein Nahrungsergänzungsmittel (Flohsamenschalen) macht sie allein einen Verfahrensfehler geltend.

6Bei einem Streitgegenstand, der zwei oder mehrere prozessuale Ansprüche umfasst, ist das Vorliegen von ordnungsgemäß dargelegten Revisionszulassungsgründen für jeden prozessualen Anspruch gesondert zu prüfen (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 13g mwN; Becker, SGb 2007, 261, 265). Soweit die Beschwerde hinsichtlich eines prozessualen Anspruchs iS der Zurückverweisung an das LSG nach § 160a Abs 5 SGG begründet, hinsichtlich der anderen prozessualen Ansprüche unzulässig ist, entscheidet der Senat, soweit zuvor keine Trennung erfolgt (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 145 Abs 1 ZPO), insgesamt über die Beschwerde in der Besetzung mit den ehrenamtlichen Richtern (vgl B 9a SB 2/06 B). So liegt der Fall hier.

7Die Mehrheit von prozessualen Ansprüchen mit der Rechtsfolge, dass für jeden prozessualen Anspruch Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde zu prüfen ist, wird im Falle der unechten Beiladung (§ 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG) nicht dadurch in Frage gestellt, dass - wie hier - die einzelnen mit der Klage geltend gemachten prozessualen Ansprüche für den gegenüber dem Beigeladenen nach dessen Leistungsrecht nur Berechnungselemente eines einheitlichen Anspruch sind (vgl - SozR 4-4200 § 21 Nr 14 RdNr 12; - SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 9 f; - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 11). Für die Bestimmung des Streitgegenstandes bleiben die mit der Klage gegen die Beklagte gerichteten prozessualen Ansprüche maßgeblich. Diese werden hier durch das Leistungsrecht des für die beklagte KK maßgeblichen SGB V mitbestimmt, nicht jedoch durch das Leistungsrecht des für den beigeladenen Grundsicherungsträger maßgeblichen SGB II (zu der Bedeutung des Streitgegenstandes nach dem SGB II für eine Verurteilung des Beigeladenen vgl bereits Beschluss des erkennenden Senats vom - B 1 KR 18/16 B - juris RdNr 5 und 9).

83. Das LSG-Urteil beruht hinsichtlich des Nahrungsergänzungsmittels auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den die Klägerin entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet.

9Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Klägerin bezeichnet hiernach den Verfahrensmangel der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) hinreichend.

10Das Urteil des LSG ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen. Das LSG ist dem von der nicht anwaltlich vertretenen Klägerin gestellten "Beweisantrag", ein Gutachten einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).

11Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund derer bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (stRspr; vgl zB - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Dazu muss bei einem anwaltlich oder ähnlich rechtskundig vertretenen Beteiligten aufgezeigt werden, dass er zu Protokoll einen formellen Beweisantrag iS von §§ 373, 404 ZPO iVm § 118 SGG bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt oder noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt. Der Tatsacheninstanz soll durch einen Beweisantrag vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (stRspr, vgl - SozR 1500 § 160 Nr 67 S 73 f = juris RdNr 4; B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Bei einem - wie hier der Klägerin - nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten sind jedoch geringere Anforderungen zu stellen. Hier genügt es, dass dem Vorbringen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass der Beteiligte überhaupt in einer bestimmten Richtung noch eine Aufklärung für erforderlich gehalten hat (vgl - juris RdNr 7; - juris RdNr 5; ähnlich - juris RdNr 11; - juris RdNr 8; - juris RdNr 17). So liegt der Fall hier.

12Die Klägerin hat ausweislich des Protokolls in der mündlichen Verhandlung am nochmals darauf verwiesen, dass sie einen Antrag auf ein Sachverständigengutachten zum Beweis ihrer Erkrankungen gestellt habe und an diesem Antrag festhalte (vgl bereits Beweisanregungen gegenüber dem SG im Schriftsatz vom , ua zur Einholung eines proktologischen Gutachtens). Zwar hat die Klägerin damit keinen formellen Beweisantrag gestellt und insbesondere kein genaues Beweisthema im Hinblick auf die von ihr begehrte Kostenerstattung und zukünftige Kostenübernahme mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln (indische Flohsamenschalen) formuliert. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich jedoch, dass das Sachverständigengutachten die medizinische Notwendigkeit ua des streitigen Nahrungsergänzungsmittels bestätigen soll. Unerheblich ist, dass im Sitzungsprotokoll vom die indischen Flohsamenschalen nicht ausdrücklich erwähnt werden, sondern nur von "Medikamenten" die Rede ist (vgl dazu bereits 1.).

13Das LSG durfte nicht durch Verweis auf angeblich allgemeinkundige Tatsachen von weiterer medizinischer Sachaufklärung Abstand nehmen. Es hat die medizinische Notwendigkeit der Einnahme von indischen Flohsamenschalen zur Milderung der Folgen der Kontinenzstörung aufgrund Schließmuskelminderfunktion verneint, obwohl die Proktologin Dr. H. in ihrem vom LSG eingeholten Befundbericht vom die medizinische Indikation ausdrücklich bejaht hat. Es hat nur auf einen, von ihm behaupteten "allgemeinkundigen" Erfahrungssatz verwiesen, dass diese spezifische, nicht unwesentliche körperliche Funktionsminderung der Klägerin schon durch "ballaststoffreiche Vollwerternährung" in gleichem Umfang in ihren Auswirkungen abgemildert bzw behoben werden könne. Allgemeinkundige Tatsachen sind nur solche, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne Weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen unschwer überzeugen können oder auch solche, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde unterrichten kann (vgl - SozR 4-4200 § 21 Nr 14 RdNr 20). Das LSG zeigt die Quellen, aus denen sich dieser Erfahrungssatz auch gerade in Bezug auf die konkreten gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin ableiten lässt, nicht auf. Hierfür ist auch ansonsten nichts ersichtlich. Das LSG hätte sich daher zu weiterer medizinischer Sachverhaltsaufklärung veranlasst sehen müssen.

14Auf der Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG insoweit beruhen, als es den Beigeladenen nicht zur begehrten Leistung verurteilt hat; ein Anspruch gegen die Beklagte scheidet hingegen aus (vgl dazu bereits die Gründe II. 1. a bb im Beschluss des erkennenden Senats vom - B 1 KR 18/16 B - juris RdNr 8). Es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung einer weiteren Beweisaufnahme der Rechtsstreit einer anderen, für die Klägerin günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

154. Die für eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache notwendigen Voraussetzungen legt die Klägerin hinsichtlich des zweiten Streitgegenstandskomplexes, die Erstattung und zukünftige Übernahme der Kosten für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar, soweit die entsprechenden prozessualen Ansprüche noch nicht rechtskräftig abgelehnt sind. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 f mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.

18Soweit die Klägerin deshalb davon abgesehen hat, hinsichtlich der LSG-Feststellungen, die auch die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel zur Behandlung ihrer Hautkrankheiten betreffen, eine Verfahrensrüge zu erheben, legt sie nicht dar, warum die Rechtsfrage gleichwohl in dem von ihr angestrebten Revisionsverfahren geklärt werden könnte.

195. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:260520BB1KR719B0

Fundstelle(n):
QAAAH-61549