BVerwG Urteil v. - 10 C 24.07

Leitsatz

Im Falle des Widerrufs einer Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling nach § 73 Abs. 1 AsylVfG findet die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Anerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG widerrufen wird.

Es bleibt offen, ob dies auch für Widerrufsentscheidungen nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist gilt.

Gesetze: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 4; VwVfG § 49 Abs. 2 Satz 2; Richtlinie 2004/83/EG Art. 6; Richtlinie 2004/83/EG Art. 11; Richtlinie 2004/83/EG Art. 14; Richtlinie 2004/83/EG Art. 15

Instanzenzug: VG Regensburg RN 3 K 05.30326 vom VGH München VGH 23 B 06.30064 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

I

Die Kläger wenden sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG).

Der 1967 geborene Kläger zu 1, seine 1969 geborene Ehefrau, die Klägerin zu 2, sowie ihre 1998 und 2000 geborenen Töchter, die Klägerinnen zu 3 und 4, sind irakische Staatsangehörige christlicher Religionszugehörigkeit aus Bagdad. Sie reisten im April 2001 auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragten am die Anerkennung als Asylberechtigte. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - die Asylanträge ab, stellte aber zugleich fest, dass bei den Klägern die Voraussetzungen für die Anerkennung als politische Flüchtlinge nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) wegen Verfolgungsgefahren infolge der Asylantragstellung vorliegen. Im Januar 2004 leitete die Beklagte wegen der veränderten Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren betreffend die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ein und hörte die Kläger hierzu im Februar 2004 an. Mit Schriftsatz vom meldete sich deren Bevollmächtigter und wies auf die christliche Religionszugehörigkeit und die hieraus resultierende Gefährdung der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak hin. Mit weiterem Schriftsatz vom wies der Bevollmächtigte nochmals umfassend auf die Lage im Irak und die Gefährdung von Christen hin. Das Bundesamt widerrief die Flüchtlingsanerkennung mit Bescheid vom (Nr. 1 des Bescheids) und stellte gleichzeitig fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3 des Bescheids). Der Bescheid wurde den Klägern am zugestellt.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage haben die Kläger beantragt, den Bescheid des Bundesamtes aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei ihnen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und den angefochtenen Widerrufsbescheid insgesamt aufgehoben, weil den Klägern bei einer Rückkehr in den Irak als Christen eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG drohe. Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof durch das angefochtene Urteil vom die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgeführt, die Kläger hätten zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise drohten ihnen nach der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung des Regimes keine Verfolgungsmaßnahmen im Irak mehr. Weder von den Koalitionstruppen noch von der irakischen Regierung hätten Exiliraker Gefährdungen zu erwarten. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe für eine Änderung der Situation zum Nachteil der Kläger kein Anhalt. Zwar fänden vermehrt Anschläge statt, die aber an einer grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts änderten. Allerdings seien im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Die allgemeine Sicherheitslage sei nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden. Überfälle und Entführungen - alle Minderheiten würden überdurchschnittlich Opfer von Entführungen - seien an der Tagesordnung. Christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von Anschlägen und Plünderungen. Gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mosul hätten zugenommen. Generell komme es immer wieder zu Terroranschlägen auch gegenüber Muslimen, seien es Sunniten oder Schiiten, oder anderen Bevölkerungsgruppen. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten. Entsprechendes gelte für die Lage der Frauen im Irak. Zwar habe es mehrere Fälle von Säureattentaten gegen Frauen gegeben, weil sie es abgelehnt hätten, sich zu verschleiern. Von einer gezielten individuellen Verfolgung von Frauen als Angehörige religiöser Minderheiten könne jedoch nicht ausgegangen werden. Der Widerruf sei daher zu Recht erfolgt. Die Kläger hätten bei Rückkehr in den Irak auch keine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu befürchten, denn insoweit fehle es an dem erforderlichen staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Handeln. Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak begründe keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das Bayerische Staatsministerium des Innern habe im Erlasswege die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt. Diese Erlasslage vermittle derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung, so dass eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht komme. Im Übrigen sei nichts dafür ersichtlich, dass den Klägern eine erhebliche individuelle konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne dieser Bestimmung drohe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstreben die Kläger die Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof. Sie tragen vor, der Verwaltungsgerichtshof hätte seine Entscheidung zur Verfolgungsgefahr nicht ohne nähere Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und verweisen auf das Urteil des Senats vom (BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243). Außerdem sei der Widerrufsbescheid rechtswidrig, weil er nicht innerhalb der Jahresfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 48 Abs. 4 VwVfG erlassen worden sei.

Die Beklagte tritt der Revision entgegen.

II

Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nach der unbeschränkten Zulassung der Revision das mit dem Hauptantrag verfolgte Anfechtungsbegehren der Kläger, das auf die Aufhebung des Widerrufsbescheids insgesamt gerichtet ist. Daneben ist Gegenstand der Revision das Hilfsbegehren auf Verpflichtung der Beklagten zur (positiven) Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG (vgl. zur Auslegung dieses Klagebegehrens im Einzelnen BVerwG 1 C 38.06 -).

Die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht ist mit Bundesrecht nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Senat kann auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist. Die Sache ist deshalb wegen fehlerhafter Ablehnung des Hauptantrags ohne weitere Prüfung des Hilfsantrags an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben das Klagebegehren zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am geänderten Rechtslage beurteilt.

a) Der angefochtene Widerruf durfte nach § 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung ergehen und erforderte keine Ermessensausübung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gemäß § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG. Nach § 73 Abs. 2a AsylVfG hat die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Abs. 1 vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (Satz 1). Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (Satz 2). Ist nach der Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt (Negativentscheidung), so steht eine spätere Entscheidung nach Abs. 1 im Ermessen des Bundesamtes (Satz 3). Zwar gilt § 73 Abs. 2a AsylVfG grundsätzlich auch für den nach dem ausgesprochenen Widerruf von Anerkennungen, die vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar geworden sind. Die darin vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen prüfen muss, beginnt allerdings erst vom an zu laufen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Einzelnen in seinem Urteil vom im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Für den Fall der Kläger bedeutet dies, dass § 73 Abs. 2a AsylVfG zwar auf den angefochtenen Widerrufsbescheid anwendbar ist, dass aber die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung des Bundesamts hier nicht erfüllt sind, weil es an der erforderlichen vorherigen sachlichen Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt fehlt. Eine Prüfung und Negativentscheidung ist auch nicht etwa pflichtwidrig unterblieben, denn die ab laufende Drei-Jahres-Frist war zum Zeitpunkt des Widerrufs noch nicht abgelaufen. Es kann deshalb offen bleiben, welche Rechtsfolgen sich an eine pflichtwidrige Unterlassung der Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG knüpfen, insbesondere, ob diese Prüfungspflicht nur im öffentlichen Interesse oder nicht zumindest auch im Interesse des anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtlings besteht.

b) Auch das Vorliegen der sonstigen formellen Voraussetzungen für den Widerruf hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Weder im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Widerrufs im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch im Hinblick auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG bestehen gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids Bedenken.

Das Gebot der Unverzüglichkeit des Widerrufs dient ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG 1 C 21.06 - a.a.O. Rn. 18; BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 13 m.w.N.).

Das Bundesverwaltungsgericht hat bisher offen gelassen, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG auch in Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 1 AsylVfG gilt. Es entscheidet die Frage nunmehr dahin, dass die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen - wie hier - die Anerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG widerrufen wird. Ob dies auch für Widerrufsentscheidungen nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist gilt, lässt der Senat offen.

Der Gesetzgeber hat mit Einführung der Drei-Jahres-Frist nach § 73 Abs. 2a AsylVfG zum eine bereichsspezifische Regelung für den Widerruf und die Rücknahme von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen durch das Bundesamt getroffen, die die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt. Zu der vor dem geltenden Regelung des § 73 Abs. 1 und 2 AsylVfG hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts neben den spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG anwendbar sind, soweit diese Raum dafür lassen ( BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 <88>). Jedenfalls seit Einführung der Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens die Widerrufsvoraussetzungen prüfen und das Ergebnis der Ausländerbehörde mitteilen muss, ist für die zusätzliche Anwendung einer parallel laufenden Jahresfrist nach den allgemeinen Bestimmungen kein Raum. Der zwingende Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung kann nach jetziger Rechtslage vom Bundesamt nicht mehr - wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums ausgesprochen werden. Damit hat der Gesetzgeber dem Bundesamt einen bestimmten, auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgegeben, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen wieder verengt werde sollte. Hierfür spricht auch die Begründung des Gesetzentwurfs, "dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang weitgehend leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen" sollen (BTDrucks 15/420 S. 112). Muss ein als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannter Ausländer während der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG bei Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen regelmäßig mit dem Widerruf des Anerkennungsbescheids rechnen, genießt er nach der gesetzlichen Konzeption jedenfalls in diesem Zeitraum kein schutzwürdiges Vertrauen hinsichtlich der Aufrechterhaltung seines Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus. Damit fehlt ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG; denn im System des § 48 VwVfG ist wohl auch die Fristregelung Ausdruck des Vertrauensschutzes (vgl. BVerwG 3 C 23.05 - BVerwGE 126, 7 <14>). Daher erweist es sich im vorliegenden Fall als unschädlich, dass zwischen dem Abschluss des Anhörungsverfahrens mit Eingang des Anwaltsschriftsatzes vom und dem Widerrufsbescheid vom eine Zeitspanne von mehr als einem Jahr verstrichen ist.

2. Ob der Widerruf im Übrigen den gesetzlichen Anforderungen aus § 73 Abs. 1 AsylVfG entspricht und das Bundesamt deshalb zugleich befugt war, über das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu entscheiden (vgl. BVerwG 9 C 29.98 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 18), kann der Senat auf der Grundlage des Berufungsurteils nicht abschließend selbst beurteilen.

a) Allerdings verfehlt das angefochtene Urteil nicht bereits in seinem Ansatz die vom Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten BVerwG 1 C 15.05 - a.a.O. klargestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in § 73 Abs. 1 AsylVfG.

Danach ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung insbesondere zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen und Prognosen annehmen, dass die im Anerkennungsbescheid angenommene ursprüngliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak wegen der Asylantragstellung in Deutschland mit der Beseitigung des Saddam-Regimes inzwischen weggefallen ist und insofern die dargelegten Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen. Im Ergebnis zu Recht durfte es auch davon ausgehen, dass der Ausnahmefall einer auf der früheren Verfolgung beruhenden unzumutbaren Rückkehr im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG hier nicht geltend gemacht und auch sonst nicht in Betracht zu ziehen ist (vgl. aber BVerwG 1 B 134.05 - juris).

b) Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass den Klägern - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung im Juli 2006 - bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar.

Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob den Klägern nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine (Gruppen-) Verfolgung als Christen durch nichtstaatliche Akteure droht. Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, mit denen er eine derartige Gruppenverfolgung der Christen im Irak verneint hat, genügen indes nicht den Anforderungen, die auch an die Prüfung und Ermittlung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu stellen sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom zu inhaltlich gleichlautenden Ausführungen in dem damals zu überprüfenden Berufungsurteil des gleichen Senats des Berufungsgerichts näher dargelegt (BVerwG 1 C 15.05 - a.a.O. Rn. 20 - 25). Hierauf wird Bezug genommen.

Der Verwaltungsgerichtshof hätte seine Entscheidung danach nicht ohne genauere Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und diese zu der Zahl der irakischen Christen in Beziehung setzen müssen. Um eine Gruppenverfolgung der Christen im Irak - oder einzelner christlicher Glaubensgemeinschaften - ausschließen zu können, hätte sich der Verwaltungsgerichtshof nicht damit begnügen dürfen, lediglich pauschal festzustellen, Überfälle und Entführungen seien insbesondere bei Minderheiten an der Tagesordnung, christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von Anschlägen und Plünderungen sowie gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mosul hätten zugenommen (UA S. 11). Für die notwendige Relationsbetrachtung fehlen außerdem jegliche Feststellungen zur Anzahl der möglicherweise als Gruppe verfolgten Christen im Irak; sie ergeben sich auch nicht aus den in Bezug genommenen Entscheidungen zweier anderer Oberverwaltungsgerichte. Die tatrichterliche Erwägung des Verwaltungsgerichtshofs, gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten, ist ferner auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil eine Gruppenverfolgung der Christen nicht mit der Begründung verneint werden kann, dass auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten in ähnlicher Weise drangsaliert werden.

Aus den gleichen Gründen wird auch die Prüfung, ob den Klägerinnen zu 2 bis 4 als der christlichen Minderheit angehörige Frauen bzw. Mädchen bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht, den Anforderungen der Rechtsprechung an die Feststellung einer Gruppenverfolgung nicht gerecht. Zwar prüft das Berufungsgericht - offenbar bezogen auf die Klägerinnen zu 2 bis 4 - die Frauen allgemein drohende Gefahr von Seiten fundamentalistischer islamischer Kreise, traditionelle Moralvorstellungen auch gewaltsam durchzusetzen (UA S. 13). Es fehlen jedoch ausreichende Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungsmaßnahmen, denen Frauen, die der christlichen Minderheit angehören, im Irak ausgesetzt sind, sowie Feststellungen zur Verfolgungsdichte, die maßgeblich für die Beurteilung ist, ob auch für die Klägerinnen zu 2 bis 4 die "Regelvermutung" eigener Verfolgung gerechtfertigt ist. Auch insoweit wird das Berufungsgericht gegebenenfalls die erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben.

3. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:

a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung, ob den Klägern heute bei einer Rückkehr in den Irak eine Gruppenverfolgung als Christen droht, den allgemeinen (Prognose-)Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegt. Denn dieser Maßstab ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anzuwenden, wenn den Betroffenen keine Wiederholung der früheren Verfolgung droht, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die in keinem Zusammenhang mit der früheren mehr steht ( BVerwG 1 C 15.05 - a.a.O. Rn. 26). An diesen Grundsätzen ist auch in Ansehung der am in Kraft getretenen Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom (ABl Nr. L 304/12 vom ) - Qualifikationsrichtlinie -, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am (Art. 38 Abs. 1) grundsätzlich unmittelbar anzuwenden ist, festzuhalten. Die den Widerruf betreffenden Bestimmungen der Richtlinie über die Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 14 i.V.m. Art. 11) sind im vorliegenden Fall noch nicht anwendbar. Denn sie gelten gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie nur bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie gestellt wurden (vgl. BVerwG 1 C 21.06 - Rn. 24). Der dem hier streitigen Widerruf zugrunde liegende Asylantrag wurde von den Klägern aber bereits 2001 und damit vor Inkrafttreten der Richtlinie gestellt. Auch hinsichtlich des allgemeinen Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der nach den oben angeführten Grundsätzen bei der Prüfung einer neuen, andersartigen Verfolgungsgefahr anzuwenden ist, ergibt sich aus diesen Bestimmungen der Richtlinie nichts Abweichendes. Dieser Maßstab entspricht im Wesentlichen dem von der Richtlinie vorausgesetzten und auch in der Flüchtlingsdefinition ("begründete Furcht vor Verfolgung", vgl. auch Art. 2 Buchst. c der Richtlinie) angelegten Maßstab.

b) Nach den Feststellungen im Berufungsurteil besteht hier kein Zweifel, dass die für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers ausschlaggebende Annahme des subjektiven Nachfluchttatbestands der Asylantragstellung in Deutschland keinerlei Verknüpfung mit der nun bei einer Rückkehr in Betracht kommenden Gefahr einer Verfolgung durch Private wegen des christlichen Glaubens aufweist. Der Senat weist hierzu aber darauf hin, dass im Widerrufsverfahren grundsätzlich alle früher geltend gemachten Verfolgungsgründe, gleichgültig ob sie im Anerkennungsbescheid abgelehnt oder sonst nicht berücksichtigt worden sind - und auf die sich die Bestandskraft des Anerkennungsbescheids daher nicht erstreckt -, unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Zusammenhangs mit einer nunmehr drohenden Rückkehrverfolgung zu untersuchen sind, bevor die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs in Bezug auf die Rückkehrverfolgung ausgeschlossen werden kann.

c) Sollte die erneute Prüfung der Sach- und Rechtslage ergeben, dass den Klägerinnen eine asylerhebliche Verfolgungsgefahr droht, wird sich das Berufungsgericht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob ihnen - etwa im Nordirak - eine inländische Fluchtalternative offensteht (vgl. hierzu etwa VGH Mannheim, Urteil vom - A 2 S 1150/04 - juris; OVG Saarlouis, Urteil vom - 3 R 6/06 - juris).

d) Sollte der Verwaltungsgerichtshof erneut zu dem Ergebnis kommen, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, wird er im Rahmen der Prüfung von subsidiärem Abschiebungsschutz nunmehr die entsprechenden Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG zu berücksichtigen haben, nachdem die Umsetzungsfrist der Richtlinie abgelaufen ist. Sie ergänzen insoweit die Regelungen in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Nach Art. 6 Buchst. c der Richtlinie kann ein den subsidiären Schutz begründender ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Die vom Berufungsgericht für die Zeit vor unmittelbarer Anwendbarkeit der Richtlinie vertretene gegenteilige Rechtsauffassung (UA S. 14 zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) bedarf daher einer Anpassung an die veränderte Rechtslage.

4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 und 3 RVG. Hierzu weist der Senat darauf hin, dass der Gegenstandswert bei Klagen auf Zu- und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 3 000 € beträgt (vgl. BVerwG 1 C 29.03 - juris). Nach § 30 Satz 3 RVG erhöht sich der Gegenstandswert um 900 € für jede weitere Person, hier demnach um insgesamt 2 700 €. Eine Abänderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs kommt insoweit allerdings nicht in Betracht (vgl. § 33 RVG, der keine dem § 63 Abs. 3 GKG n.F., § 25 Abs. 2 GKG a.F. entsprechende Regelung enthält).

Fundstelle(n):
UAAAC-51364