BVerwG Urteil v. - 1 C 3.04

Leitsatz

Zum Rechtsschutzinteresse und zum Erfordernis der Feststellung der Staatsangehörigkeit bei einer Klage auf Gewährung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Bestätigung der Rechtsprechung; vgl. BVerwG 1 C 29.03 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen).

Gesetze: AsylVfG § 3; AsylVfG § 4; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 6; AufenthG § 60 Abs. 7; AuslG (außer Kraft getreten) § 51 Abs. 1

Instanzenzug: VG Würzburg VG W 8 K 00.30935 vom VGH München VGH 9 B 01.31218 vom

Gründe

I.

Die Kläger begehren ihre Anerkennung als Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Hinblick auf eine ihnen in Aserbaidschan drohende politische Verfolgung.

Die in Berg-Karabach geborenen Kläger - ein Ehepaar mit seinen Kindern - sind armenische Volkszugehörige. Sie reisten am auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung trug der Kläger zu 1 vor, sein Vater habe sich bereits im April 1993 den Kämpfern der armenischen Feddayin angeschlossen. Von ihm sei im September 1993 dasselbe verlangt worden, er habe sich aber geweigert. Danach sei sein Haus von den Feddayin überfallen worden und er habe befürchten müssen, umgebracht zu werden. Deshalb habe er mit seiner Familie Berg-Karabach im Dezember 1993 verlassen und sei über Moskau nach Podolsk gegangen, wo er bei seinem Cousin als Schreiner gearbeitet habe. Er habe seit dem 16. Lebensjahr einen sowjetischen Inlandspass besessen. Weil sein Aufenthalt in der Russischen Föderation nicht durch eine Anmeldung registriert gewesen sei, sei er seit Beginn des Krieges in Kaukasien ständig auf der Straße kontrolliert und von OMON-Truppen und der Miliz einige Male mit dem Gummiknüppel geschlagen worden. Nachdem sein Cousin Ende Januar 2000 im Auto erschossen worden sei, habe er aus Furcht vor einem ähnlichen Schicksal mit seiner Familie die Russische Föderation verlassen.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab (1.), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (2.) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen (3.), und drohte den Klägern für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Russische Föderation oder nach Armenien an (4.). Es ging davon aus, dass die Staatsangehörigkeit der Kläger ungeklärt sei. Nachdem sie seit 1993 bis zu ihrer Ausreise durchgehend in der russischen Föderation gelebt hätten, sei von der Russischen Föderation als Land des gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen. Aus dem Vorbringen des Klägers zu 1, sein Cousin sei ermordet worden, ergebe sich nicht, dass ihm selbst eine solche Gefahr drohe. Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG lägen weder hinsichtlich der Russischen Föderation noch hinsichtlich Armeniens vor.

Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt verpflichtet, Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 AuslG wegen drohender Verfolgung in Aserbaidschan und nach § 53 AuslG in Bezug auf Armenien festzustellen. Es hat den Bescheid des Bundesamtes aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Kläger entgegen der Auffassung des Bundesamtes aserbaidschanische Staatsangehörige seien. Armenischen Volkszugehörigen drohe in Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen ihrer Volkszugehörigkeit politische Verfolgung. Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 4 AuslG lägen nur hinsichtlich Armeniens, nicht aber für die Russische Föderation vor.

Mit seiner Berufung hat sich der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten gegen die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG gewandt. Der Verwaltungsgerichtshof hat durch Beschluss vom das Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit aufgehoben und die Klage im Umfang der Aufhebung abgewiesen. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs fehlt den Klägern das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz. Da ihnen im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes eine Abschiebung nach Aserbaidschan nicht angedroht worden sei, könnten sie auch nicht die Feststellung von asylerheblichen Abschiebungshindernissen wegen einer möglichen Verfolgungsgefahr in Aserbaidschan beanspruchen. Für einen gleichsam vorbeugenden Rechtsschutz gegen eine Abschiebung in Zielstaaten, die von der Behörde noch nicht erkennbar ins Auge gefasst oder bestimmt seien, bestehe kein Bedürfnis.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Revision. Sie sind der Auffassung, dass sie einen Anspruch auf Prüfung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für alle unmittelbar für eine Abschiebung in Betracht kommenden Länder haben. Das Bundesamt sei nach dem Gesetz verpflichtet, Feststellungen zu asylerheblichen Abschiebungshindernissen jedenfalls in Bezug auf die Staaten zu treffen, die sich typischerweise für eine Abschiebung eigneten. Hierzu gehöre das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie - die Kläger - besäßen. Sie seien am Staatsangehörige der Aserbaidschanischen Republik geworden. Diese Staatsangehörigkeit sei auch nicht im Zuge des Berg-Karabach-Krieges verloren gegangen. Dort drohe ihnen asylerhebliche Verfolgung.

II.

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Revision der Kläger ist begründet. Der Berufungsbeschluss beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Senat kann auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden, ob die Kläger einen Anspruch auf asylrechtlichen Abschiebungsschutz haben. Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung ist die Klage zulässig. Insbesondere fehlt den Klägern nicht das für ihr Begehren auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung in Aserbaidschan erforderliche Rechtsschutzinteresse.

a) Rechtsgrundlage für dieses Begehren ist nunmehr nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes vom (BGBl I S. 1950) § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Diese Bestimmung ist mit Wirkung vom an die Stelle des bisher einschlägigen § 51 Abs. 1 AuslG getreten (Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz). Da das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, diese Rechtsänderung mangels besonderer Übergangsregelungen zu beachten hätte (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG), ist die neue Rechtslage auch für die Entscheidung des Revisionsgerichts maßgeblich (stRspr, vgl. BVerwG 7 C 69.74 - BVerwGE 52, 1, 3 und vom - BVerwG 3 C 14.01 - NVwZ-RR 2002, 93 = Buchholz 442.10 § 65 StVG Nr. 1).

b) Ein Rechtsschutz - bzw. Sachentscheidungsinteresse an der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans kann den Klägern nicht bereits deshalb abgesprochen werden, weil sich die (negativen) Feststellungen zu § 51 Abs. 1 und § 53 AuslG in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes nicht auf Aserbaidschan beziehen und den Klägern in dem Bescheid eine Abschiebung nur in die Russische Föderation oder nach Armenien, nicht aber nach Aserbaidschan angedroht worden ist. Der gegenteiligen, vom Berufungsgericht und einzelnen weiteren Oberverwaltungsgerichten vertretenen Auffassung (vgl. etwa OVG Magdeburg, Urteil vom - A 3 S 567/99 -; VGH Mannheim, Beschluss vom - A 13 S 38/03 -; sämtlich nicht veröffentlicht; a.A. .A - InfAuslR 2002, 268) ist nicht zu folgen. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom (BVerwG 1 C 29.03 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden. Denn über den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann - anders als über Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG - grundsätzlich nur einheitlich entschieden werden, wobei sämtliche Staaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in die Prüfung einzubeziehen sind. Der von den Klägern begehrte asylrechtliche Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist gemäß §§ 3, 4 AsylVfG mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention verbunden und kann daher grundsätzlich nur bei einer Verfolgung durch den Staat der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - durch den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts zugesprochen werden. Nur wenn diese Staaten keinen Schutz gewähren, kommt eine Flüchtlingsanerkennung durch die Beklagte in Betracht. Das wiederum hat zur Folge, dass die Zulässigkeit des Rechtsschutzbegehrens eines Asylbewerbers nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob das Bundesamt Feststellungen zu Abschiebungsverboten hinsichtlich dieser vorrangig zur Schutzgewährung verpflichteten Staaten getroffen oder ihm die Abschiebung in diese Staaten angedroht hat. Daraus folgt, dass ein Rechtsschutzinteresse der Kläger an der begehrten Feststellung zu § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans, als dessen Staatsangehörige sie sich betrachten, nicht verneint werden kann.

2. Das Berufungsgericht hat auch einen materiellen Anspruch auf Feststellung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz zu Unrecht verneint. Ob die Kläger die hierfür erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, insbesondere ob sie tatsächlich aserbaidschanische Staatsangehörige sind und ihnen auf dem Gebiet dieses Staates Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG drohen, lässt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen in der Berufungsentscheidung nicht beurteilen. Der Berufungsbeschluss ist daher aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

3. Das Berufungsgericht wird in dem erneuten Verfahren prüfen müssen, ob die Kläger eine Staatsangehörigkeit besitzen und - wenn ja - welche und ob ihnen im Staat ihrer Staatsangehörigkeit politische Verfolgung droht. Sollte es eine aserbaidschanische Staatsangehörigkeit bejahen, müsste es neben der Frage einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan auch prüfen, ob den Klägern in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand und steht, wie der Bundesbeauftragte meint. Dabei wird auch zu klären sein, ob für die Kläger das Gebiet von Berg-Karabach von Deutschland aus erreichbar ist, obwohl ihnen rechtskräftig Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG hinsichtlich Armeniens zuerkannt worden ist.

Falls das Berufungsgericht eine Verfolgungsgefahr der Kläger durch den Staat ihrer Staatsangehörigkeit bejaht, wird es weiter zu prüfen haben, ob die Kläger nicht bereits in der Russischen Föderation, wo sie sich von 1993 bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im Jahr 2000 aufgehalten haben, ausreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung gefunden haben und auch weiterhin finden können. Die Russische Föderation könnte aufgrund der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes (vgl. dazu im einzelnen BVerwG 1 C 29.03 - a.a.O.) als vorrangiges Zufluchtsland in Betracht kommen. Dem können die Kläger nicht mehr entgegenhalten, dass ihnen bei einer Rückkehr in das Gebiet der Russischen Föderation Gefahren drohen, die ihrer Abschiebung entgegenstehen. Die im verwaltungsgerichtlichen Urteil ausgesprochene Abweisung des Antrags auf Gewährung von Abschiebungsschutz hinsichtlich der Russischen Föderation ist rechtskräftig geworden. Von der Russischen Föderation als vorrangigem Zufluchtsland könnte allerdings nur dann ausgegangen werden, wenn die Russische Föderation auch zu einer Rücknahme der Kläger bereit ist. Dies wird gegebenenfalls vom Berufungsgericht zu prüfen sein.

Sollte das Berufungsgericht einen Anspruch auf asylrechtlichen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG verneinen, wäre die Klage, soweit sie noch anhängig ist, abzuweisen. Einen hilfsweisen Antrag auf Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans festzustellen, haben die Kläger bei sachdienlicher Auslegung ihres Klagebegehrens nicht gestellt. Ein solcher Antrag wäre auch mangels Rechtsschutzinteresses der Kläger unzulässig, weil das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid weder (negative) Feststellungen zu Abschiebungshindernissen nach dem seinerzeit noch maßgeblichen § 53 AuslG bezüglich dieses Staates getroffen hat noch den Klägern die Abschiebung dorthin angedroht hat (vgl. BVerwG 1 C 11.01 - BVerwGE 115, 267).

Fundstelle(n):
EAAAC-12073