BGH Urteil v. - II ZR 265/00

Leitsatz

[1] a) Übernimmt ein neu zugelassener Arzt in einer Gemeinschaftspraxis eine vakant gewordene Vertragsarztstelle, so kollidiert im Falle seines freiwilligen Ausscheidens aus der Praxis das durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Interesse des verbleibenden Arztes, die Gemeinschaftspraxis in dem bisherigen Umfang fortzuführen, mit dem Grundrecht des ausscheidenden Arztes auf Berufsfreiheit. Der auftretende Konflikt ist nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen.

b) Eine gesellschaftsvertragliche Regelung, die dem neu eingetretenen Vertragsarzt für den Fall, daß er freiwillig aus der Gemeinschaftspraxis ausscheidet, die Pflicht auferlegt, einen Antrag auf Ausschreibung des vakant werdenden Kassenarztsitzes zu stellen, verstößt jedenfalls dann nicht gegen § 138 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG, wenn der Ausscheidende wegen der relativ kurzen Zeit seiner Mitarbeit die Gemeinschaftspraxis noch nicht entscheidend mitprägen konnte. Sie entspricht im übrigen der Bestimmung des § 103 Abs. 6 SGB V.

Gesetze: GG Art. 12 Abs. 1; BGB § 138 Bb Abs. 1; BGB § 705; SGB V § 103 Abs. 6

Instanzenzug: OLG Zweibrücken vom LG Frankenthal

Tatbestand

Der Kläger und sein Vater betrieben in F. eine augenärztliche Gemeinschaftspraxis. Nach dem Ausscheiden des Vaters zum erhielt der Beklagte den freigewordenen Sitz als Vertragsarzt und setzte die Gemeinschaftspraxis mit dem Kläger fort. Die Vergabe kassenärztlicher Zulassungen für Augenärzte ist im Planungsbereich F. gem. §§ 101, 103 SGB V beschränkt.

In dem im Dezember 1997 unterzeichneten Gesellschaftsvertrag über die Errichtung der gemeinsamen Praxis vereinbarten die Parteien für den Fall des Ausscheidens eines Partners nach ordentlicher Kündigung die Übernahme seiner Praxisanteile durch den Kläger gegen Zahlung einer Abfindung sowie die Verpflichtung des ausscheidenden Partners, unverzüglich bei der zuständigen kassenärztlichen Vereinigung einen Antrag auf Ausschreibung seines vakant werdenden Kassenarztsitzes zu stellen, um so die weitere Existenz der Gemeinschaftspraxis zu ermöglichen.

Der Beklagte schied zum aufgrund einer von ihm im März 1999 erklärten Kündigung aus der Gemeinschaftspraxis aus, ohne allerdings einen Antrag auf Ausschreibung seines Kassenarztsitzes zu stellen. Vielmehr behielt er seine kassenärztliche Zulassung und eröffnete in der Nähe der klägerischen Praxis zum eine Einzelpraxis.

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Verurteilung des Beklagten, die Ausschreibung seines Kassenarztsitzes entsprechend der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien zu beantragen. Er ist der Auffassung, die darin liegende Verpflichtung, für den Fall des Ausscheidens auf die Zulassung als Kassenarzt zu verzichten, sei nicht wegen Verstoßes gegen Art. 12 GG nach § 138 BGB nichtig. Der vertragliche Anspruch sei auch nicht dadurch untergegangen, daß der Beklagte innerhalb des Planungsbezirkes umgezogen sei und seinen Vertragsarztsitz mitgenommen habe.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Berufung des Klägers war kein Erfolg beschieden. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

Die Revision hat Erfolg.

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, unabhängig von der Frage, ob die vertragliche Verpflichtung zum Verzicht auf den Vertragsarztsitz nach § 138 BGB nichtig sei, scheitere die Klage schon daran, daß mit dem Ausscheiden des Beklagten unter Mitnahme seiner Zulassung als Kassenarzt der Anspruch des Klägers entfallen sei, weil eine Gemeinschaftspraxis, deren Interessen nach § 103 Abs. 6, Abs. 4 SGB V bei einer Ausschreibung des Vertragsarztsitzes des Beklagten zu berücksichtigen seien, nicht mehr existiere. Das hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, daß der entsprechende Passus des Gesellschaftsvertrages zwischen den Parteien nicht nur eine Verpflichtung zur Beantragung der Ausschreibung des Kassenarztsitzes enthält, sondern zugleich, auch wenn dies im Vertrag nicht ausdrücklich erwähnt ist, die Verpflichtung, auf seine Zulassung gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung zu verzichten. Denn nur auf diese Weise kann in einem gesperrten Bezirk ein Ausschreibungsverfahren eingeleitet werden, § 95 Abs. 7 SGB V.

2. Die Verpflichtung, für den Fall des Ausscheidens auf den Sitz als Vertragsarzt zu verzichten, ist nicht wegen Verstoßes gegen Art. 12 GG nach § 138 BGB nichtig. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an dem Erhalt der Gemeinschaftspraxis.

a) Dieses Interesse ist durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt. Art. 12 Abs. 1 GG enthält ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit, das sich dem Grunde nach auf die Berufswahl wie die Berufsausübung erstreckt (BVerfGE 7, 377, 402 st. Rspr.).

Wird die Tätigkeit als Kassenarzt in zulässiger Weise in einer Gemeinschaftspraxis ausgeübt, so stellt die Wahl einer solchen Praxisform eine Entscheidung für eine bestimmte Art der Berufsausübung dar und ist ebenfalls durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt. Diesem Schutz ist immanent, daß die Gemeinschaftspraxis in der Form und mit der Anzahl von Vertragsärzten grundsätzlich weiterbetrieben werden kann, die für sie vorgesehen ist. Deshalb hat der Gesetzgeber die Verkleinerung einer Gemeinschaftspraxis durch das Ausscheiden eines Vertragsarztes in § 103 Abs. 6 SGB V erschwerten Bedingungen unterworfen. Das Bundessozialgericht hat aus dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung für die Ärzte einer Gemeinschaftspraxis ein eigenes Recht hergeleitet, nach dem Ausscheiden eines Vertragsarztes ein Ausschreibungsverfahren für dessen Nachfolge einzuleiten, obwohl das Gesetz ursprünglich nur dem Ausscheidenden ein derartiges Recht einräumen wollte (BSG, NZS 1999, 470). Zudem hat es entschieden, daß im Nachbesetzungsverfahren Ärzten, welche die Tätigkeit des ausgeschiedenen Arztes in der Gemeinschaftspraxis nicht fortsetzen wollen, auf der Grundlage des § 103 Abs. 4 Satz 3 SGB V keine Zulassung erteilt werden darf (BSGE 85, 1).

b) Ob dem Kläger auch das Grundrecht auf Schutz des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) zur Seite steht, kann offenbleiben.

Zum verfassungsrechtlich geschützten Eigentum gehören zwar alle vermögenswerten Rechtspositionen, die das bürgerliche Recht einem privaten Rechtsträger als Eigentum zuordnet (BVerfGE 95, 64, 82). Das Verhältnis von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zu Art. 12 Abs. 1 GG ist jedoch dadurch geprägt, daß das Grundrecht auf Schutz des Eigentums das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung, das Grundrecht der Berufsfreiheit dagegen den Erwerb, die Betätigung als solche, schützt. Wird in die Freiheit der individuellen Erwerbs- und Leistungsbetätigung eingegriffen, so ist der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berührt; begrenzt er mehr die Innehabung und Verwendung vorhandener Vermögensgüter, so kommt der Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Betracht (BVerfGE 30, 292, 335).

Der Schwerpunkt des vorliegenden Falles liegt bei der Erwerbsbetätigung. Wenn Art. 14 Abs. 1 GG trotzdem eingriffe, wären die Mitglieder einer Gemeinschaftspraxis aber auch durch ihn geschützt. Gesetzliche Eigentumsbindungen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) müssen zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und notwendig sein und dürfen nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht (BVerfGE 79, 174, 198). Sie dürfen überdies nicht unzumutbar sein (BVerfGE 76, 220, 238). Von solchen Bindungen hat der Gesetzgeber für den Fall, daß ein Vertragsarzt die Gemeinschaftspraxis verläßt, zugunsten der verbleibenden Mitglieder nicht nur abgesehen, sondern die von den verbleibenden Mitgliedern nicht gewollte Verkleinerung sogar erschwert.

c) Diesen grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers steht - worauf das Berufungsgericht zu Recht hinweist - das Grundrecht des Beklagten auf Berufsfreiheit gegenüber. Dieser Konflikt ist nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen, der fordert, daß nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (BVerfGE 93, 1, 21 m.w.N.). Dabei ist zu ermitteln, welche verfassungsrechtliche Position für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (BVerfGE 2, 1, 72 f.). Die schwächere Position darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in jedem Fall respektiert werden (BVerfGE 28, 243, 261). Dem trägt der vom Senat in ständiger Rechtsprechung vertretene Grundsatz der nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung Rechnung (Sen.Urt. v. - II ZR 194/98, WM 2000, 1195).

Die Auffassung des Berufungsgerichts, ohne entsprechenden Ausgleich für den Verzicht auf die Zulassung werde dem ausscheidenden Vertragsarzt das Risiko des Scheiterns der Zusammenarbeit einseitig auferlegt, so daß seine Lebensgrundlage aufs Spiel gesetzt werde, wird diesem Maßstab nicht gerecht. Vielmehr führt die Abwägung der beiderseitigen Interessen im vorliegenden Fall dazu, daß dem Erhalt der klägerischen Gemeinschaftspraxis der Vorrang einzuräumen ist. Der Beklagte war lediglich ein Jahr und neun Monate in der Gemeinschaftspraxis tätig. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um dem Beklagten eine Rechtsposition zu verschaffen, die gegenüber der des Klägers vorrangig sein könnte. Jede Aufnahme eines Partners in eine Praxis würde zum unkalkulierbaren Risiko, könnte der ausscheidende Arzt seine Zulassung mit der Folge des Verlustes des Vertragsarztsitzes für die aufnehmende Praxis nach derartig kurzer Zeit einfach mitnehmen. Anders mögen die Dinge allenfalls dann liegen, wenn aus Gründen, für die der aufnehmende Arzt verantwortlich ist, der weitere Verbleib in der Praxis für den Aufgenommenen unzumutbar ist. Ein solcher Fall liegt jedoch hier eindeutig nicht vor; der Beklagte nennt keinen Grund, warum er die Zusammenarbeit mit dem Kläger beendet hat. Der Zulassungsverzicht für den Fall des Ausscheidens nach noch nicht einmal zwei Jahren ist dem Beklagten auch zuzumuten. In dieser relativ kurzen Zeit konnte er die Gemeinschaftspraxis noch nicht entscheidend mitprägen.

Aus §§ 21, 19 des Gesellschaftsvertrages ergibt sich - entgegen der Meinung der Revisionserwiderung - nichts Gegenteiliges. Da zu deren Auslegung weitere tatsächliche Feststellungen nicht erforderlich sind und das Berufungsgericht keine eigene Auslegung vorgenommen hat, kann der Senat sie selber auslegen (BGHZ 121, 284, 289). Aus § 21 Abs. 1 des Gesellschaftsvertrages ("Der ausscheidende Gesellschafter erhält ... die Abfindung in voller Höhe, wenn er innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden ... in einem Umkreis von 15 km ... keine kassenärztliche Tätigkeit aufnimmt ...") ergibt sich nicht, daß es im Belieben des eingetretenen Vertragsarztes stehen sollte, ob er in der Praxis verblieb oder nicht. Zwar konnte "jeder Gesellschafter seine Beteiligung an der Gemeinschaftspraxis unter Einhaltung einer Frist von 6 Monaten zum Ende eines Quartals schriftlich kündigen" (§ 18 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrages). Doch traf ihn dann die Pflicht, "gleichzeitig unverzüglich bei der kassenärztlichen Vereinigung (KV) einen Antrag auf Ausschreibung des vakant werdenden Kassenarztsitzes zu stellen, um die weitere Existenz der Gemeinschaftspraxis zu ermöglichen, wenn der verbleibende Gesellschafter dies wünscht" (§ 19 Abs. 4 des Gesellschaftsvertrages). Hieraus folgt, daß dem Beklagten nicht die Befugnis zustand, die Gemeinschaftspraxis ohne entsprechende Konsequenzen zu verlassen. Die Bestimmungen der §§ 20, 21 des Gesellschaftsvertrages erweisen sich in diesem Lichte als reine Abfindungsregelungen. Durch sie ist den Interessen des Beklagten ausreichend Rechnung getragen. Soweit sich die Abfindung nach § 21 des Gesellschaftsvertrages dadurch reduziert, daß der Beklagte sich - vertragswidrig - in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Gemeinschaftspraxis niedergelassen hat, ist dies sachlich gerechtfertigt.

d) Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Zulässigkeit von Wettbewerbsverboten läßt sich nach Auffassung des Senats eine Sittenwidrigkeit des Verzichts auf die Zulassung nicht herleiten. Richtig ist zwar, daß der Senat ein zeitlich unbefristetes und örtlich unbeschränktes Wettbewerbsverbot für den aus einer Sozietät ausscheidenden Rechtsanwalt für sittenwidrig erachtet hat, weil es auf ein lebenslanges Berufsverbot hinauslief (Urt. v. - II ZR 254/85, WM 1986, 1251). Damit ist aber der vorliegende Fall nicht zu vergleichen. Zum einen kann eine Zulassung, wenn auch oft mit einem Ortswechsel verbunden, in jedem nicht gesperrten Bezirk erlangt werden, was die Frist erheblich relativiert, zum anderen steht es dem die Zulassung aufgebenden Arzt frei, sich in gesperrten Bezirken auf eine Vertragsarztstelle zu bewerben. Von einem örtlich unbeschränkten Wettbewerbsverbot durch Zulassungsverzicht kann daher nicht ausgegangen werden. Auch aus der "Laborärzteentscheidung" des I. Zivilsenats (I ZR 102/94, NJW 1997, 799) folgt nichts anderes, weil es dort um ein Wettbewerbsverbot für Weiterbildungsassistenten ohne eigene Kassenzulassung ging und der Assistent sich außerhalb des örtlichen Geltungsbereiches des Wettbewerbsverbots frei niederlassen durfte. Dem Urteil des Senats vom (II ZR 238/96, WM 1997, 1707) ist ebenfalls mangels Vergleichbarkeit des Sachverhalts eine Sittenwidrigkeit des Zulassungsverzichts nicht zu entnehmen: Wie bei einer Entscheidung des Oberlandesgerichts München (MedR 1996, 567 ff.) ging es dort um einen Fall des Ausscheidens eines Praxispartners nach langjähriger Zusammenarbeit, nicht aber nach relativ kurzer Zeit; zum anderen lag der Senatsentscheidung ein zeitlich unbefristetes Wettbewerbsverbot für den ausgeschiedenen Tierarzt zugrunde, was mit der vorliegenden Konstellation nicht verglichen werden kann.

3. Der Anspruch des Klägers ist auch nicht dadurch entfallen, daß die Gemeinschaftspraxis seit dem Ausscheiden des Beklagten nicht mehr existent ist. Denn zum einen steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts überhaupt nicht fest, ob der Zulassungsausschuß die Interessen der (ehemaligen) klägerischen Gemeinschaftspraxis bei einer Neubesetzung der Stelle angesichts des eindeutig vertragsbrüchigen und rechtswidrigen Verhaltens des Beklagten nicht doch nach § 103 Abs. 6 SGB V in der Weise berücksichtigt, daß ein Bewerber zum Zuge kommt, der zum Eintritt in die Praxis bereit ist. Zum anderen kann der Kläger einen möglichen Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten erst dann beziffern, wenn durch die Entscheidung des Ausschusses endgültig feststeht, ob er die Praxis auf Dauer alleine betreiben muß oder nicht.

II. Da nach dem Tatsachenvortrag der Parteien weitere Feststellungen nicht in Betracht kommen, kann der Senat selber entscheiden (§ 565 Abs. 3 Ziff. 1 ZPO a.F.). Das Berufungsurteil ist aufzuheben und der Beklagte unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils entsprechend dem im Berufungsverfahren gestellten Hauptantrag zu verurteilen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
FAAAB-97919

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja