BSG Urteil v. - B 8 SO 7/22 R

Instanzenzug: SG Mainz Az: S 11 SO 9/20 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 1 SO 1/21 Urteil

Tatbestand

1Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Beiträge zur freiwilligen gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung für die Zeit ab dem hat. Zuletzt macht er dieses Begehren im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage geltend.

2Der 1951 geborene, verheiratete Kläger ist mit einem Grad der Behinderung von 80 und dem Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens G schwerbehindert. Er bezieht vom Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Seine Ehefrau ist bei der Barmer freiwillig in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung versichert. Mit Schreiben vom stellte der Kläger zum wiederholten Male einen Antrag auf Übernahme der Beiträge zu einer eigenen freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung bei der AOK R, den der Beklagte ablehnte (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Mit Schreiben vom stellte der Kläger einen Folgeantrag für die Zeit ab dem , den der Beklagte ebenfalls ablehnte (Bescheid vom ).

3Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Die Klage sei für den Zeitraum ab wegen des neuen Antrags unzulässig und im Übrigen unbegründet. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ). Im Hinblick auf die Zeit ab dem sei die Klage bereits unzulässig und für die Zeit davor unbegründet. Der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff SGB XII umfasse zwar auch die von dem Kläger begehrte Übernahme der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Jedoch stehe ihm die Möglichkeit der Familienversicherung über seine Ehefrau offen. Zwar bestehe nach § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) die Familienversicherung ua nur dann, wenn keine freiwillige Versicherung vorliege. Jedoch sei das freiwillige Mitglied berechtigt, eine zunächst bestehende freiwillige Mitgliedschaft durch Kündigung nach § 191 Nr 3 SGB V zu beenden. Diese ende dann mit dem Wirksamwerden der Kündigung nach § 175 Abs 4 SGB V. Nach § 8 Abs 4 Satz 2 der Satzung der AOK R, bei der der Kläger kranken- und pflegeversichert sei, könne die freiwillige Mitgliedschaft ohne Einhaltung der Kündigungsfrist und der Bindungswirkung durch Kündigung zu dem Zeitpunkt beendet werden, zu dem ohne die freiwillige Mitgliedschaft eine Versicherung nach § 10 SGB V bestehen würde. Es seien auch keine Gründe vorgetragen oder sonst ersichtlich, die eine Kündigung der freiwilligen Versicherung zu Gunsten der Familienversicherung und damit einer Nutzung der dem Kläger zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Minderung seiner Hilfebedürftigkeit vorliegend als unzumutbar erscheinen ließen.

4Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Nachdem die Barmer im laufenden Revisionsverfahren mitgeteilt hat, dass der Kläger bereits seit dort familienversichert ist, verfolgt der Kläger sein Begehren noch im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage. Es würden zwar weder die AOK noch die Barmer Ersatzkasse derzeit Forderungen gegen ihn geltend machen, ihm seien durch das Verhalten der Beklagten jedoch erhebliche Nachteile aufgrund verweigerter Arztbehandlungen und Medikamente entstanden. Er vertritt die Auffassung, er habe nicht auf die Möglichkeit einer Familienversicherung bei seiner Ehefrau verwiesen werden dürfen. Unter § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB V fielen lediglich freiwillig Versicherte gemäß § 9 SGB V, während sich seine Versicherung bei der AOK nach § 188 Abs 4 SGB V richte. Eine solche falle nicht unter den Regelungsgehalt des § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB V. Selbst wenn dem so wäre, sei er nicht verpflichtet, seine freiwillige Versicherung zu Gunsten einer Familienversicherung zu kündigen. Dem stehe bereits der eindeutige Wortlaut des § 32 Abs 1 SGB XII entgegen. Auch sei die Klage entgegen der Auffassung des LSG nicht ab dem unzulässig, weil ein Antrag auf Grundsicherung einen zuvor gestellten Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt weder verdränge noch absorbiere.

5Der Kläger beantragt,den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom rechtswidrig war.

6Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

7Das LSG habe die Berufung zu Recht zurückgewiesen. Abgesehen von der Unzulässigkeit der Klage ab dem Zeitraum, in dem Gegenstand ein Verwaltungsakt oder die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung war, sei der Kläger seit dem familienversichert, sodass die Beiträge nicht als Bedarf anzuerkennen seien.

Gründe

8Die zulässige Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

9Die Revision des Klägers ist statthaft und form- sowie fristgerecht eingelegt. Es fehlt - wie bereits bei Führung der Berufung - nicht am notwendigen Rechtsschutzbedürfnis für die Revision unabhängig davon, ob für die Klageerhebung ein Rechtsschutzbedürfnis bestand (dazu später). Das Rechtsschutzbedürfnis ist keine besondere Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels, sondern ergibt sich im Allgemeinen ohne Weiteres aus der formellen Beschwer des Rechtsmittelklägers, der mit seinem Begehren in der vorangegangenen Instanz unterlegen ist. Mit dem Erfordernis der Beschwer ist in aller Regel gewährleistet, dass das Rechtsmittel nicht eingelegt wird, ohne dass ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelklägers hieran besteht (Bundessozialgericht <BSG> vom - B 14 AS 35/12 R - BSGE 111, 234 = SozR 4-1500 § 54 Nr 28, RdNr 11; vgl Bundesgerichtshof <BGH> vom - IV ZR 26/70 - BGHZ 57, 224, 225 = NJW 1972, 112).

10Die ursprünglich erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG) gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte eine Übernahme der Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung abgelehnt hat, war statthaft. Ebenso war die ausdrücklich erklärte Begrenzung des Streitgegenstandes auf die Beitragsübernahme zulässig, weil es sich bei den Bedarfen nach § 32 SGB XII (idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom <BGBl I 3159>) um einen vom notwendigen Lebensunterhalt abtrennbaren eigenständigen Streitgegenstand handelt (vgl bereits - SozR 4-3500 § 32 Nr 2 RdNr 11). Eine beratende Beteiligung sozial erfahrener Dritter vor Erlass eines Widerspruchsbescheids gegen die Ablehnung der Sozialhilfe oder die Festsetzung ihrer Art und Höhe erfolgt in Rheinland-Pfalz dabei abweichend von § 116 Abs 2 SGB XII nicht (vgl § 12 Landesgesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch <AGSGB XII> vom - Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes 571).

11Zu Recht haben SG und LSG die auf den Zeitraum nach dem gerichtete Klage aber als unzulässig angesehen, weil der Kläger zwischenzeitlich einen neuen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII ab diesem Tag gestellt hat und dieser ablehnende Bescheid vom nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Gerichtsverfahrens geworden ist (vgl nur - RdNr 11). Dieser Verwaltungsakt hat den streitbefangenen Bescheid vom weder abgeändert noch ersetzt, sodass sich letzterer für den Zeitraum ab erledigte (§ 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>).

12Einer Klage auf Zahlung von Beiträgen fehlt aber darüber hinaus das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, also das berechtigte Interesse, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen, weil der Kläger bereits seit familienversichert ist und deshalb die Klage keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil mehr bewirken kann.

13Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom - 2 BvR 1413/83 - BVerfGE 67, 43, 58). Gleichwohl kann der Zugang zu den Gerichten von einem bestehenden Rechtsschutzbedürfnis abhängig gemacht werden (vgl nur ua - BVerfGE 104, 220, 232 mwN). Diese allen Prozessordnungen gemeinsame Sachentscheidungsvoraussetzung wird abgeleitet aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>), dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns. Sie verlangt vom Kläger, dass er ein Mindestmaß an berechtigtem Rechtsverfolgungsinteresse geltend machen kann, das dem öffentlichen Interesse an einer effizienten Rechtspflege gegenübergestellt werden kann. Letztlich geht es um das Verbot des institutionellen Missbrauchs prozessualer Rechte zu Lasten der Funktionsfähigkeit des staatlichen Rechtspflegeapparats ( - BSGE 111, 234 = SozR 4-1500 § 54 Nr 28, RdNr 17; vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, Vor § 51 RdNr 16). Weil das Rechtsschutzbedürfnis Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage ist, muss es noch im Zeitpunkt der Entscheidung bestehen (vgl - RdNr 10; - SozR 4-2500 § 240 Nr 28 RdNr 39; BH - RdNr 5) und ist auch vom Rechtsmittelgericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, Vor § 51 RdNr 20).

14Es fehlt ua dann am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine Klage selbst im Falle ihres Erfolgs für den Kläger keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (vgl nur Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom - 3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1, juris RdNr 19; - RdNr 10; - BSGE 82, 176 = SozR 3-3870 § 4 Nr 24, juris RdNr 11; - SozR 1500 § 53 Nr 2, juris RdNr 23). Aus der im Laufe des Verfahrens vor dem BSG vorgelegten Bescheinigung der Barmer vom ergibt sich, dass der Kläger bereits seit dort familienversichert ist. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es somit nicht (mehr) darauf an, ob den Kläger eine Verpflichtung zur Kündigung der freiwilligen Versicherung traf (§ 191 Nr 3 SGB V), um mit deren Wirksamwerden (§ 175 Abs 4 SGB V) erst in die insoweit subsidiäre Familienversicherung entstehen zu lassen (Felix in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 10 RdNr 58, Stand ). Vielmehr lag von Beginn an eine anderweitige Absicherung für den Krankheitsfall vor. Eine Sozialhilfegewährung hat aber stets zur Voraussetzung, dass der sozialhilferechtliche Bedarf des Antragstellers nicht anderweitig gedeckt ist oder von ihm gedeckt werden kann (vgl §§ 19, 27 SGB XII), weshalb einer Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Bedarf gar nicht entstanden oder auf andere Weise gedeckt ist ( - RdNr 10). Dies ist hier der Fall, weil der Kläger mit seinem Begehren auf Übernahme von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung keinen sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf iS des § 32 Abs 1 SGB XII mehr geltend machen kann.

15Die Behauptung, Nachteile wegen verweigerter Arztbehandlungen erlitten zu haben, reicht für die Begründung des Rechtsschutzbedürfnisses nicht aus, zumal nicht ersichtlich ist, welche sozialhilferechtlichen Leistungsansprüche daran im Nachhinein geknüpft werden könnten und warum der Kläger nicht die bestehende Familienversicherung in Anspruch genommen hat. Zudem hat der Kläger selbst auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass keine Forderungen gegen ihn von Seiten einer Krankenversicherung geltend gemacht würden.

16Nichts anders gilt, soweit der Kläger zuletzt nur noch die Feststellung begehrt, dass die Ablehnung der Übernahme der Beiträge rechtswidrig war, nachdem sich die angefochtenen Bescheide erledigt hätten. Schon eine Erledigung des angefochtenen Bescheids ist nicht eingetreten, weil bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses die Familienversicherung bestand. Die Ablehnung der begehrten Leistung stellt sich vielmehr - wenngleich mit anderer Begründung - als zutreffend dar. Auch einer Fortsetzungsfeststellungsklage fehlt zudem jedenfalls ein berechtigtes Feststellungsinteresse als Sonderform des Rechtsschutzbedürfnisses, das regelmäßig dadurch gekennzeichnet ist, dass der Kläger nicht ohne Not um die "Früchte" des bisherigen Prozesses gebracht werden darf, wenn das Verfahren einen bestimmten Stand erreicht hat; dies entspricht dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG). Hierfür genügt zwar ein durch die Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigtes Interesse, das rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann ( - RdNr 17; - BSGE 131, 246 = SozR 4-3500 § 57 Nr 1, RdNr 18). Der Kläger hat jedoch keine Tatsachen vorgetragen, die ein solches berechtigtes Interesse an der Feststellung einer Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verwaltungsakte begründen könnten. Das mangels Widerholungsgefahr (dazu - BSGE 131, 246 = SozR 4-3500 § 57 Nr 1, RdNr 18) oder eines Rehabilitationsinteresses (dazu B 7/7a AL 16/06 R - SozR 4-1500 § 131 Nr 3 RdNr 13) alleine in Betracht kommende Interesse an der Vorbereitung einer Schadensersatzklage wegen Amtspflichtverletzung ( - BSGE 79, 33 = SozR 3-2500 § 126 Nr 2, juris RdNr 24) würde voraussetzen, dass ein solcher überhaupt denkbar erscheint. Der Kläger hat jedoch weder einen Schaden substantiiert behauptet noch Umstände dargelegt, die dessen Verursachung durch eine Pflichtverletzung des Beklagten, die alleine in diesem Rechtsverhältnis zu prüfen sind, begründen könnten. Die Behauptung, keine ärztliche Behandlung erhalten zu haben oder sich Hilfsmittel selbst verschafft zu haben, reichen hier nicht aus. Unabhängig vom Eintritt eines Schadens könnten sie nicht zuletzt im Hinblick auf die rückwirkend bestehende Familienversicherung allenfalls im Verhältnis zur Krankenkasse geklärt werden.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:121223UB8SO722R0

Fundstelle(n):
CAAAJ-66996