BVerwG Urteil v. - 1 C 50/20

Instanzenzug: Az: 38 K 471.19 V Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihr ein Visum zum Zwecke des Nachzugs zu ihrem Ehemann zu erteilen.

2Die im Februar 1997 geborene Klägerin und ihr im September 1991 geborener Ehemann sind irakische Staatsangehörige. Der Ehemann der Klägerin verließ die Republik Irak nach eigenen Angaben im Oktober 2015. Im gleichen Monat reiste er in das Bundesgebiet ein. Im April 2017 wurde ihm der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Die Ausländerbehörde der Beigeladenen erteilte ihm erstmals im Juli 2017 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG, die in der Folge verlängert wurde.

3Die Klägerin reiste eigenen Angaben zufolge im August 2017 mit ihrer Familie in die Republik Türkei ein. Dort schlossen die Klägerin und ihr Ehemann, die sich eigenen Angaben zufolge im März 2014 verlobt hatten, im September 2018 die Ehe.

4Im September 2019 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem Ehemann. Die Beigeladene stimmte der Erteilung des Visums nicht zu. Das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland Istanbul lehnte den Antrag unter Hinweis auf den Ausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ab.

5Das Verwaltungsgericht hat die insoweit erhobene Klage abgewiesen. Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Visums aus § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen, weil diese die Ehe nicht bereits vor der Flucht ihres Ehemannes, sondern erst nach Verlassen des gemeinsamen Herkunftslandes geschlossen habe. Der Regelausschlussgrund stehe nicht in Widerspruch zu Unionsrecht. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sei mit Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Ebenso wenig verstoße § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG gegen Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 EMRK und Art. 20 GRC. Eine atypische Situation, die eine Abweichung von dem Regelfall erfordere, sei in Bezug auf die Klägerin weder ersichtlich noch vorgetragen. Diese habe auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da die Vorschrift auf den in den §§ 28, 30 und 36a AufenthG abschließend geregelten Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Ehegatten nicht anwendbar sei.

6Die Klägerin macht zur Begründung ihrer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision unter anderem geltend, die Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei nicht nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Diese Norm verstoße gegen Art. 6 Abs. 1 GG, da sie einen Nachzug für mindestens fünf Jahre ausschließe. Sie benachteilige Ehegatten von subsidiär Schutzberechtigten gegenüber Ehegatten von Ausländern, die einen der in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c AufenthG genannten Aufenthaltstitel besäßen, ohne dass hierfür ein sachlicher Differenzierungsgrund bestehe. Die Differenzierung sei auch nicht im Lichte der Artt. 7 und 21 GRC verhältnismäßig und verstoße gegen die Artt. 14 i.V.m. 8 EMRK.

7Die Beklagte verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Die Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK geböten keine Einschränkung des Regelausschlussgrundes. Die Ungleichbehandlung gegenüber Flüchtlingen, deren Angehörige nach § 30 AufenthG nachziehen dürften, sei durch die unterschiedliche Grundkonzeption des Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten gerechtfertigt. Die grundsätzliche Begrenzung des Nachzugs auf diejenigen Fälle, die unter die Regelausschlussgründe des § 36a AufenthG fielen und bei denen keine Atypik vorliege, stehe mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang und stelle auch im Lichte von Art. 14 EMRK einen sachlichen und verhältnismäßigen Differenzierungsgrund dar. Eine Ausnahme von der Regel des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liege in Bezug auf die Klägerin und ihren Ehemann nicht vor.

8Die Beigeladene verteidigt ebenfalls das Urteil des Verwaltungsgerichts.

9Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht an dem Verfahren.

Gründe

10Die (Sprung-)Revision ist nicht begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht nicht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf der Grundlage weder des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG (1.) noch des § 22 Satz 1 AufenthG (2.) noch des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (3.).

11Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, vgl. 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9). Rechtsänderungen, die nach der angefochtenen Entscheidung eintreten, sind vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, falls sie das Gericht der Vorinstanz, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (stRspr, vgl. 1 C 27.14 - NVwZ 2016, 71 Rn. 10). Abweichendes gilt nur, wenn und soweit aus Gründen des materiellen Rechts ausnahmsweise auf einen anderen Zeitpunkt abzustellen ist, etwa bei einer hier nicht erfolgten Beantragung einer rückwirkenden Verpflichtung oder Neubescheidung. Danach ist über das Begehren der Klägerin auf der Grundlage des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 10 des am in Kraft getretenen Gesetzes vom (BGBl. I S. 2855), zu entscheiden.

12Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren, der Klägerin nach Maßgabe des § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein nationales Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihrem Ehemann zu erteilen. Die Erteilung richtet sich nach § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften, hier somit nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, § 36a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 22 Satz 1 und § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

131. Gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG liegen humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift insbesondere vor, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist. Gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG in der Regel ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde. Im Einklang mit § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG geht das Verwaltungsgericht davon aus, der Ausschlussgrund sei in der Regel erfüllt, wenn die Ehe erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurde (1.1). Eine Ausnahme von der Regel liegt nicht vor (1.2).

141.1 Ohne Verstoß gegen § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Ehe der Klägerin nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, weil sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde (vgl. 1 C 30.19 - juris Rn. 14 ff.).

15Die Differenzierung zwischen Ehen, die vor, und solchen, die nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurden, knüpft mit der Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung dem Grunde nach an ein taugliches Differenzierungskriterium für die Ausgestaltung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten an; insoweit steht die Norm mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 GG (a) und Art. 3 Abs. 1 GG (b) sowie mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rückwirkungsverbot (c) jedenfalls unter Berücksichtigung der von dem Regelausschlussgrund belassenen Möglichkeit einer Ausnahme im Einklang. Die vorstehenden Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze sind völkerrechtsfreundlich auszulegen. Hierbei sind auch die Europäische Menschenrechtskonvention und sonstige völkerrechtliche Vertragswerke wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom (BGBl. 1973 II S. 1533) (IPbpR) heranzuziehen (, 1395/13, 1068/14 und 646/15 - BVerfGE 148, 296 Rn. 126 ff. und - BVerfGE 151, 1 Rn. 61 f.). Diese Pakte gewähren keine selbständigen, hier über die grundrechtlich geschützten Positionen hinausgehenden Nachzugsansprüche.

16a) § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG begegnet im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK keinen durchgreifenden Bedenken, zumal dem Grundrechtsschutz von Ehe und Familie erforderlichenfalls durch die Annahme eines Ausnahmefalles Rechnung getragen werden kann (dazu s. unten unter 1.2).

17Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Weder Art. 6 Abs. 1 GG noch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der hier wegen der Kinderlosigkeit der Ehe der Klägerin nicht zu beachten ist, begründen einen unbedingten, unmittelbaren grundrechtlichen Anspruch ausländischer Ehegatten oder Familienangehöriger auf Nachzug zu ihren berechtigt in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausländischen Ehegatten oder Familienangehörigen (, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <LS 1>). Das Grundgesetz überantwortet es vielmehr weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Anzahl und unter welchen Voraussetzungen Ausländern der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird (, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <47>). Allerdings begründet Art. 6 GG in seiner Funktion als "wertentscheidende Grundsatznorm" die Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen. Dieser Pflicht entspricht ein Anspruch des Trägers der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <LS 2 und S. 49 f.>). Der Betroffene braucht es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden nahen Angehörigen ständigen Aufenthalt zu nehmen (, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <50>). Der personale Bezug, den Ehe und Familie als betroffene Grundrechtsgüter aufweisen, sowie der hohe Rang, der ihnen im Gefüge des Grundgesetzes zukommt, treffen auf einen dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Ausländerrechts zukommenden weiten Gestaltungsspielraum und Einschätzungsvorrang der politischen Organe hinsichtlich künftiger Verhältnisse und Entwicklungen. Diese widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen sind von dem Gesetzgeber mit dem Ziel eines schonenden Ausgleichs gegeneinander abzuwägen. Die betreffenden einfachrechtlichen Normen müssen insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Demgemäß muss die Vorenthaltung des Familiennachzugs zur Erreichung des hiermit verfolgten legitimen Zwecks geeignet und erforderlich sein und in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen (, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <50 ff.>).

18Diese Maßstäbe stehen mit dem durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Recht auf Achtung des Familienlebens im Einklang. Art. 8 Abs. 1 EMRK setzt ein bestehendes Familienleben und die Absicht, dieses fortzuführen, voraus (EGMR, Urteil vom - Nr. 9214/80, 9473/81 und 9474/81, Abdulaziz, Cabales und Balkandali/​Vereinigtes Königreich - Rn. 62). Er garantiert einem Ausländer weder ein Recht auf Einreise in ein bestimmtes Land noch ein Recht auf Aufenthalt in diesem (EGMR, Urteil vom - Nr. 55597/09, Nunez/​Norwegen - Rn. 70). Ebenso wenig begründet er eine generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes durch ein verheiratetes Paar zu respektieren und Ehegatten, die nicht die Nationalität des Vertragsstaates haben, zur Niederlassung zu akzeptieren (EGMR, Urteil vom - Nr. 9214/80, 9473/81 und 9474/81, Abdulaziz, Cabales und Balkandali/​Vereinigtes Königreich - Rn. 68) beziehungsweise eine Familienzusammenführung auf seinem Gebiet zu gestatten (EGMR, Urteile vom - Nr. 12738/10, Jeunesse/​Niederlande - Rn. 107 und vom - Nr. 55597/09, Nunez/​Norwegen - Rn. 70). Die Reichweite der Verpflichtung eines Staates, Angehörige von dort lebenden Personen auf seinem Gebiet aufzunehmen, ist vielmehr Gegenstand einer nicht auf normativer Ebene abschließend vorwegzunehmender, sondern im Rahmen der Anwendung des einfachen Rechts durchzuführenden einzelfallbezogenen Abwägung der öffentlichen Interessen einerseits und der privaten Interessen der betroffenen Personen andererseits. Zu den öffentlichen Interessen zählt insbesondere die effektive Kontrolle von Zuwanderung (EGMR, Urteil vom - Nr. 56971/10, El Ghatet/​Schweiz - Rn. 44). Als private Interessen sind unter anderem das Ausmaß, in dem das Familienleben bei einer Versagung des Zuzugs tatsächlich unterbrochen würde, und das Bestehen etwaiger (unüberwindbarer) rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse für ein Leben der Familie ihrem Herkunftsland oder in einem aufenthaltsgewährenden Drittland (EGMR, Entscheidung vom - Nr. 25960/13, I.A.A. u.a. - Rn. 43 ff. und Urteil vom - Nr. 56971/10, El Ghatet/​Schweiz - Rn. 45) in die Abwägung einzustellen. Das Ergebnis der Abwägung muss einen fairen Ausgleich der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen widerspiegeln (EGMR, Urteil vom - Nr. 12738/10, Jeunesse/​Niederlande - Rn. 121). Besondere Bedeutung ist dem Umstand beizumessen, ob das Familienleben zu einer Zeit geschaffen wurde, zu der den beteiligten Personen bekannt war, dass die Aufnahme in dem Konventionsstaat wegen des Einwanderungsstatus eines Familienangehörigen von Beginn an unsicher war (EGMR, Urteile vom - Nr. 55597/09, Nunez/​Norwegen - Rn. 70 und vom - Nr. 12738/10, Jeunesse/​Niederlande - Rn. 108). Zu berücksichtigen ist überdies, ob das Familienleben zu einer Zeit begründet wurde, zu der den beteiligten Personen bekannt war, dass die Aufnahme wegen des Aufenthaltsstatus des Stammberechtigten von Beginn an unsicher war (vgl. EGMR, Urteil vom - Nr. 55597/09, Nunez/​Norwegen - Rn. 70 und EGMR <GK>, Urteil vom - Nr. 12738/10, Jeunesse/​Niederlande - Rn. 108). Erfolgte die Ausreise aus begründeter Furcht vor Verfolgung (vgl. EGMR, Urteil vom - Nr. 2260/10, Tanda-Muzinga/​Frankreich - Rn. 74; offengelassen EGMR, Urteil vom - Nr. 60665/00, Tuquabo-Tekle u.a./Niederlande - Rn. 47), so ist dem Ausländer die Trennung von seiner Familie nicht entgegenzuhalten. Entsprechendes hat zu gelten, wenn das Verlassen des Herkunftslandes oder des aufnehmenden Gastlandes in der begründeten Befürchtung erfolgte, anderenfalls ernsthaften Schaden zu nehmen.

19Gemäß Art. 7 Var. 1 GRC, der gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt, hat jede Person das Recht auf Achtung unter anderem ihres Familienlebens. Dieses Recht hat gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihm in Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verliehen wird ( PPU [ECLI:​EU:​C:​2010:​582] - Rn. 53; 1 B 65.19 - Buchholz 310 § 86 VwGO Nr. 382 Rn. 6).

20Die dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz zugrunde liegende Annahme des Gesetzgebers, zur Verhinderung einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft (BT-Drs. 18/7538 S. 1 und BT-Drs. 19/2438 S. 1) bedürfe es einer Begrenzung des Ehegattennachzugs, ist ein im Ansatz legitimer Grund und grundsätzlich vertretbar. Sie stellt sich als Einschätzung künftigen Geschehens dar, die dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zuzurechnen ist. Der Regelausschluss des Nachzugs derjenigen Ehegatten, deren Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, ist geeignet, dieses legitime Ziel zu erreichen, auch wenn er hier lediglich der eigentlichen numerischen Beschränkung auf monatlich 1 000 Visa (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) vorgelagert ist und lediglich den Kreis derjenigen verkleinert, unter denen bei Vorliegen humanitärer Gründe gegebenenfalls eine Auswahlentscheidung zu treffen ist. Es kann bei einer dem Gesetzgeber zuzubilligenden typisierenden Betrachtung, welchen "Nachfluchtehen" er auch wegen anzunehmender Zusammenführungsalternativen eine geringere Schutzwürdigkeit zumisst, auch nicht festgestellt werden, dass für die Vorauswahl andere Mittel zur Verfügung gestanden hätten oder verfügbar geworden wären, welche es erlaubten, das Ziel der Regelung ohne beachtliche Nachteile für die Aufnahme- und Integrationskapazität in einer Ehe und Familie der Betroffenen weniger belastenden Art und Weise zu erreichen. Das Kriterium der Eheschließung nach Beginn der Flucht stellt sich dem Grunde nach angesichts der Rückausnahme in Ausnahmefällen zudem nicht als unangemessen dar. Insbesondere ist die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung nicht auf einen absoluten Ausschluss eines Ehegattennachzugs gerichtet (vgl. insoweit , 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <65 f.>). Wenngleich auch der Regelausschluss vielfach eine schwere Belastung gerade für junge Ehen darstellt, handelt es sich bei den stammberechtigten Ehegatten um Ausländer, deren Bleiberecht nach der typisierenden und generalisierenden Betrachtung des Gesetzgebers eher auf einen vorübergehenden, auf die Dauer des Erfordernisses der Gewährung subsidiären Schutzes begrenzten Zeitraum angelegt ist und deren Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht bereits ein Ausmaß erlangt hat, das demjenigen der Eingliederung von langjährig und auf unbestimmte Zeit im Bundesgebiet aufhältigen Ausländern entspricht. Die hohe Anzahl der in den zurückliegenden Jahren im Bundesgebiet Schutzsuchenden und die ebenfalls hohe Zuerkennungsquote durften dem Gesetzgeber Veranlassung geben, den Nachzug von Angehörigen der Kernfamilie zu subsidiär Schutzberechtigten so zu bemessen, dass deren Integration gelingen kann und die Aufnahmesysteme der staatlichen Institutionen deren Aufnahme und Integration bewältigen können, und in der Konsequenz auch bestimmten Familienangehörigen den Nachzug zu verwehren. Der Gesetzgeber war mit Blick auf den bei generalisierender Betrachtung nur für einen vorübergehenden Zeitraum gewährten subsidiären Schutz insbesondere nicht gehindert, für den Regelfall typisierend anzunehmen, dass es Ehegatten, deren Ehe erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurde, die mithin bei Antritt der Flucht nicht davon ausgehen konnten, ein von dem späteren Ehegatten abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu erlangen, deutlich eher zuzumuten ist, die eheliche Lebensgemeinschaft im Ausland fortzuführen, als Ehegatten, deren eheliche Lebensgemeinschaft bereits im Herkunftsland geführt und denen die Fortführung dieser Gemeinschaft fluchtbedingt unmöglich wurde. Die Möglichkeit der Annahme einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund und die in § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorbehaltene Anwendung der §§ 22 und 23 AufenthG stellen jedenfalls bei einer grundrechtskonformen Auslegung sicher, dass von der Typisierungsbefugnis oder der Einschätzungsprärogative nicht mehr gedeckten und in diesem Sinne atypischen Umständen des Einzelfalles, aber auch den Anforderungen aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC angemessen Rechnung getragen werden kann (a.A. Krause/​Kamiab Hesari/​Weber/​Haschem/​Alwasiti <Gutachten für Pro Asyl>, Zerrissene Familien, S. 24 f.).

21b) Die in § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG angelegte Ungleichbehandlung von vor und nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossenen Ehen steht bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung nur auf Regelfälle auch im Einklang mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG wie auch mit Art. 20 GRC, der gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt.

22Beide gebieten dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können ( 1 B 29.19 - Buchholz 130 § 10 StAG Nr. 12 Rn. 10 unter Verweis auf - BVerfGE 130, 240 <252 f.> m.w.N.; [ECLI:​EU:​C:​2017:​820], BB construct - Rn. 43 m.w.N.).

23aa) Die Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung ist im Grundsatz sachlich gerechtfertigt. Sie beruht auf der typisierenden Annahme des Gesetzgebers, dass bereits vor der Flucht geschlossene Ehen im Hinblick auf einen Familiennachzug regelmäßig schutzwürdiger sind als Ehen, die erst nach der Flucht - häufig vom Zufluchtsland aus und in Kenntnis der zunächst bestehenden Trennung - geschlossen worden sind. Das Differenzierungskriterium ist dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen. Es erweist sich für Regelfälle geringerer Schutzwürdigkeit der familiären Bindungen als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht und ist geeignet, dazu beizutragen, einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft durch den Nachzug einer Mehrzahl von Familienangehörigen der in den zurückliegenden Jahren aufgenommenen Schutzberechtigten vorzubeugen. Dass dieses Ziel in den Regelfällen durch andere Maßnahmen in einer Ehe und Familie der Betroffenen weniger belastenden Art und Weise zu erreichen gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Das Differenzierungskriterium steht auch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen. Das Instrument des Regelausschlusses erlaubt es, im konkreten Einzelfall relevanten Umständen, die das generelle Überwiegen der öffentlichen Belange gegenüber dem privaten Nachzugsinteresse der von dem Regelausschluss erfassten Personengruppe beseitigen, angemessen zu begegnen. Das gilt namentlich in Fällen, in denen die typisierende Annahme geringerer Schutzwürdigkeit nicht (vollständig) greift, etwa weil die eheliche Lebensgemeinschaft in einem Transitland bereits über einen längeren Zeitraum gelebt worden ist und/​oder das Paar gemeinsame Kinder hat.

24bb) Der Umstand, dass Ehegatten anerkannter Flüchtlinge, deren Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, keinem § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entsprechenden Regelausschlussgrund unterliegen, musste dem Gesetzgeber nicht Veranlassung geben, von dieser Norm insgesamt Abstand zu nehmen. Dies folgt bereits daraus, dass der Ehegattennachzug zu anerkannten Flüchtlingen den Regelungen der Richtlinie 2003/86/EG unterliegt, der nationale Gesetzgeber mithin an deren Vorgaben gebunden ist, während diese Richtlinie ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c zufolge auf den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten keine Anwendung findet (dies außer Betracht lassend Krause/​Kamiab Hesari/​Weber/​Haschem/​Alwasiti <Gutachten für Pro Asyl>, Zerrissene Familien, S. 29). Zudem ist der Aufenthalt im Aufnahmestaat beim subsidiären Schutz - im Unterschied zum Flüchtlingsschutz - eher temporärer Natur (vgl. Europäische Kommission, Mitteilung vom (COM(2016) 197 final S. 12; a.A. Krause/​Kamiab Hesari/​Weber/​Haschem/​Alwasiti <Gutachten für Pro Asyl>, Zerrissene Familien, S. 28 f.) und unterliegt eine dauerhafte Integration in die Gesellschaft des Aufenthaltsstaates mithin strengeren Voraussetzungen. Der nationale Gesetzgeber war daher nicht dem Grunde nach gehindert, beim Familiennachzug zwischen dem Flüchtlings- und dem subsidiären Schutzstatus in angemessener Weise zu differenzieren.

25cc) Der Umstand, dass der Familiennachzug zu Ausländern, hinsichtlich derer die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festgestellt wurden, keinem § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entsprechenden Regelausschluss unterliegt, weist nicht auf eine gleichheitswidrige Benachteiligung der Ehegatten subsidiär Schutzberechtigter. § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG knüpft den im Ermessen stehenden Ehegattennachzug daran, dass der Nachzugswillige selbst die Voraussetzungen für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen bzw. aus politischen Interessen der Bundesrepublik erfüllt, wobei ein dringender humanitärer Grund auch anzunehmen sein kann, wenn sich die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet herstellen lässt (BT-Drs. 15/420 S. 81). § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG knüpft zwar ebenfalls an das Vorliegen humanitärer Gründe an; § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unterwirft den Ehegattennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten jedoch zusätzlich einer zahlenmäßigen Beschränkung und einer hiermit einhergehenden Auswahlentscheidung. Die rechtliche Ausgestaltung der betreffenden Nachzugsregelungen ist - etwa in Bezug auf das Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) - so verschieden, dass es schon an der direkten Vergleichbarkeit beider Konstellationen fehlt. Der zur Typisierung grundsätzlich befugte Gesetzgeber war nicht gehalten, für beide Fallgruppen gleiche Nachzugsregelungen zu schaffen. Systematisch bedenklichen Schlechterstellungen nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vom Familiennachzug Ausgeschlossener (z.B. in Fällen, in denen die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet hergestellt werden kann) ist bei der Prüfung eines Ausnahmefalles Rechnung zu tragen.

26dd) Keinen durchgreifenden Bedenken im Lichte von Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 EMRK und Art. 20 GRC begegnet schließlich die Schlechterstellung von Ehegatten subsidiär Schutzberechtigter, deren Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, gegenüber Ehegatten von Ausländern, deren Nachzug sich nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c bis g AufenthG beurteilt. Die Besserstellung der letztgenannten Gruppe gründet zum einen in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG, dem zufolge die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 RL 2003/86/EG genannten Bedingungen gemäß dieser Richtlinie dem Ehegatten des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt gestatten, während die Richtlinie 2003/86/EG - wie dargelegt - ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c zufolge keine Anwendung findet, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund des ihm zuerkannten subsidiären Schutzstatus im Sinne des Art. 2 Buchst. f RL 2011/95/EU genehmigt wurde; insoweit wird an eine unionsrechtlich zumindest als möglich vorausgesetzte und sachlich gerechtfertigte Unterscheidung angeknüpft. Zum anderen ist dem nationalen Gesetzgeber ein gewisser Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage einzuräumen, ob und in welchem Umfang Unterschiede zwischen Sachverhalten, die im Übrigen ähnlich sind, eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen (vgl. 6 B 9.06 - Buchholz 448.0 § 1 WPflG Nr. 26 Rn. 12). Der Umfang dieses Spielraums hängt von den Umständen, dem Gegenstand und dem Hintergrund der betreffenden Behandlung ab (EGMR, Urteil vom - Nr. 22341/09, Hode und Abdi/​Vereinigtes Königreich - Rn. 45). Ebenso wie es ein legitimes Ziel für eine Differenzierung darstellen kann, Anreize für den Zuzug bestimmter Gruppen von Ausländern zu schaffen, kann es gerechtfertigt sein, anderen Gruppen von Ausländern den Nachzug zu erschweren. Der Gesetzgeber war nicht gehalten, den Ehegattennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten unter denselben Voraussetzungen zu gewähren wie den Ehegattennachzug zu Ausländern, an deren Aufenthalt im Bundesgebiet auch ein öffentliches Interesse besteht. Dem widerstreitet nicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hinsichtlich einer im britischen Recht vorgesehenen Beschränkung des Ehegattennachzugs zu Flüchtlingen auf vor der Flucht geschlossene Ehen auf eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber Ehegatten von Studenten und Arbeitnehmern und damit auf eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 14 EMRK erkannte (EGMR, Urteil vom - Nr. 22341/09, Hode und Abdi/​Vereinigtes Königreich - Rn. 55 f.). Zum einen betraf das betreffende Urteil nicht den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten; zum anderen hatte der Gerichtshof keine Veranlassung, in die von ihm vorgenommene Abwägung auch das maßgebliche Interesse (hier des deutschen Gesetzgebers) einzustellen, einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft durch den Nachzug einer Vielzahl von Familienangehörigen der in den zurückliegenden Jahren aufgenommenen Schutzberechtigten vorzubeugen (dies nicht in Betracht nehmend Krause/​Kamiab Hesari/​Weber/​Haschem/​Alwasiti <Gutachten für Pro Asyl>, Zerrissene Familien, S. 30). Abweichendes folgt auch nicht aus Art. 7 und Art. 21 GRC (a.A. Krause/​Kamiab Hesari/​Weber/​Haschem/​Alwasiti <Gutachten für Pro Asyl>, Zerrissene Familien, S. 31).

27c) Dass § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG auch auf bereits vor seinem Inkrafttreten geschlossene Ehen Anwendung findet, stellt auch keine mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbare echte Rückwirkung, sondern eine zulässige unechte Rückwirkung dar, da der Regelausschlussgrund jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung sicherstellt, dass einem schutzwürdigen Interesse der Betroffenen an einem Unterbleiben der tatbestandlichen Rückanknüpfung angemessen über die Annahme einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund, in besonderen Härtefällen auch durch eine Aufnahme aus dem Ausland nach § 36a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann (vgl. 1 C 30.19 - juris Rn. 30 ff. - und vom - 1 C 45.20 - Rn. 27 ff.).

281.2 Der besondere Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebietet es, das Interesse der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten an der (Wieder-)Herstellung ihrer familiären Lebensgemeinschaft bereits bei der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG und auch schon im Vorfeld unmittelbar aus der Verfassung ableitbarer Nachzugsansprüche zu berücksichtigen.

29Spezifisch ehe- und familienbezogene Gesichtspunkte sind somit nicht erst im Rahmen des gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibenden § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG, sondern zuvörderst innerhalb des § 36a AufenthG und dort nicht allein bei der Auslegung der humanitären Gründe des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sondern gerade auch bei der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen, um die Reichweite dieses Regelausschlussgrundes auch in Umfang und Maß auf ein Maß zu beschränken, das die grundsätzlich gerechtfertigten Beschränkungen angemessen mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang bringt. Allein ein solches Verständnis stellt zudem sicher, dass ein Nachzug der betreffenden Angehörigen grundsätzlich der Kontingentierung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zum Zwecke des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unterfällt.

30Im Einklang mit den unter 1. 1.1 a) ausgeführten Maßstäben ist für die Beantwortung der Frage, ob die aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Berücksichtigungspflicht es im Einzelfall gebietet, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, von maßgeblicher Bedeutung, ob den Eheleuten erstens eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar und ob ihnen zweitens eine Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug begehrenden Ehegatten möglich und zumutbar ist. Ist den Ehegatten eine (Wieder-)Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß (vgl. , 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <52 ff.>). Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf absehbare Zeit aus, gewinnen die humanitären Belange an der Wiederherstellung der Familieneinheit gerade im Bundesgebiet erhebliches Gewicht. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen nicht aus den Umständen, etwa der für sich allein nicht ausschlaggebenden Ehebestandsdauer, zu folgern ist, dass eine Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen worden ist, etwaige Nachzugsmöglichkeiten zu eröffnen. Fehlt es an solchen besonderen Umständen des Einzelfalles, verringern sich mit zunehmender Trennungsdauer auch die Unterschiede zu den vor der Flucht geschlossenen Ehen und wächst das Gewicht der grundrechtlich geschützten Belange an einer - dann objektiv nur im Bundesgebiet möglichen - Familienzusammenführung. Jedenfalls bei Eheschließung vor der Einreise in das Unionsgebiet liegt ohne Hinzutreten besonderer, eine Verkürzung oder Verlängerung der Trennungszeiten bewirkender Umstände dann eine Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig bereits bei einer mehr als vierjährigen Trennung von dem Ehegatten vor.

311.3 Nach diesen Grundsätzen steht das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis im Einklang mit Bundesrecht.

32Die von der Klägerin geschlossene Ehe verkörpert den Regelfall einer nach dem Verlassen des Herkunftslandes und nach der Einreise in den schutzgewährenden Mitgliedstaat geschlossenen Ehe, die der Gesetzgeber als weniger schutzwürdig angesehen hat und ansehen durfte. Die verwaltungsgerichtliche Würdigung, eine atypische Situation, die eine Abweichung von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG erfordere, liege nicht vor, begegnet keinen Bedenken. Dabei kann offen bleiben, ob die eheliche Lebensgemeinschaft auch in der Türkei geführt werden kann, wozu es an tatrichterlichen Feststellungen fehlt. Mit Blick darauf, dass die Ehe erst im September 2018 geschlossen wurde, ist die vorstehend bezeichnete Wartezeit von mindestens vier Jahren noch nicht erfüllt (gewesen). Dass das Verwaltungsgericht Umstände, die eine Verkürzung dieser Trennungszeit gebieten könnten, im Rahmen seiner Würdigung außer Betracht gelassen hätte, hat die Klägerin nicht dargetan und ist auch nicht anderweitig erkennbar. Die Behauptung, sie habe sich bereits im März 2014 mit ihrem späteren Ehegatten verlobt, kann im Rahmen der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG schon deshalb keine Berücksichtigung finden, weil Zeiten des Bestehens eines Verlöbnisses eine Verkürzung der Wartezeit in aller Regel, so auch hier, nicht bewirken können.

33Ein etwaiges Vertrauen der Klägerin, den Nachzug zu ihrem Ehemann nach der bis zum geltenden Rechtslage betreiben zu können, wäre schon mit Blick auf den Zeitpunkt ihrer Eheschließung nicht schutzwürdig gewesen (vgl. 1 C 45.20 - Rn. 36). § 36a AufenthG war zu diesem Zeitpunkt bereits geltendes Recht.

342. Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Visums bzw. einer Aufenthaltserlaubnis besteht auch nicht nach § 22 Satz 1 AufenthG.

35Ein solcher Anspruch ist hier zwar der Sache nach Gegenstand auch des Revisionsverfahrens ( 1 C 30.19 - juris Rn. 47 f.). Der Klägerin kann indes für ihre Aufnahme aus dem Ausland keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, da die Schwelle, bei deren Erreichen die Versagung einer Familienzusammenführung im Bundesgebiet mit Art. 6 Abs. 1 GG schlechthin unvereinbar ist und ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unabhängiger - Aufenthaltstitel nach § 22 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist, höher liegt als jene, die durch Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlentscheidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) eröffnet ( 1 C 30.19 - juris Rn. 49).

36Sind daher bereits die im Rahmen einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zu beachtenden Wartezeiten nicht erfüllt, so scheidet hier erst Recht ein Anspruch nach § 22 Satz 1 AufenthG aus.

373. Die Klägerin hat überdies keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Sie ist - wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden hat - als Ehegattin eines subsidiär Schutzberechtigten, deren Nachzugsanspruch nach den §§ 28, 30 und 36a AufenthG ausdrücklich und in Bezug auf § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG abschließend geregelt ist, nicht "sonstige Familienangehörige" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (BT-Drs. 19/2438 S. 20 <zu Nr. 3 Buchst. c> und S. 21 <zu Nr. 4 Buchst. b>). Die ergänzende Anwendung auch der §§ 22, 23 AufenthG (§ 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG) erfasst etwaige Härtefälle und lässt keinen Raum für eine - direkte oder analoge - Anwendung dieser Regelung in besonderen Härtefällen oder zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Konventions-, Unions- oder Verfassungsrecht.

384. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:270421U1C50.20.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-65183