BAG Urteil v. - 6 AZR 56/23

Vermutungswirkung - § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO

Leitsatz

Eine iSv. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO "geplante" Betriebsänderung erfordert wegen der Rechtsgrundverweisung auf § 111 BetrVG, dass der Betriebsrat in den Verhandlungen über den Interessenausgleich noch Einfluss auf die Willensbildung des Insolvenzverwalters nehmen kann und die Voraussetzungen der Betriebsänderung auch noch bei Abschluss des Interessenausgleichs vorliegen. Der Verwalter muss darum zwar den ernstlichen Entschluss zu ihrer Durchführung gefasst haben. Im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs darf sich aber die Betriebsänderung noch nicht in der unumkehrbaren Durchsetzung befinden.

Gesetze: § 125 Abs 1 S 1 InsO, § 111 S 1 BetrVG, § 111 S 3 Nr 1 BetrVG, § 1 Abs 2 S 4 KSchG, § 102 Abs 1 BetrVG, § 125 Abs 1 S 2 InsO, § 1 Abs 1 KSchG, § 1 Abs 3 KSchG, § 17 KSchG, § 168 SGB 9 2018

Instanzenzug: Az: 5 Ca 2825/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 16 Sa 485/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen.

2Der 1966 geborene Kläger war seit dem bei der H GmbH (im Folgenden Schuldnerin), über deren Vermögen mit Beschluss vom das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt wurde, beschäftigt.

3Die Schuldnerin betrieb ein Unternehmen der Herstellung und des Vertriebs von Spezialprofilen aus Stahl und Stahlerzeugnissen und beschäftigte ca. 400 Arbeitnehmer. Ihre Produktion war in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und Technikum (Sondertechnik) unterteilt. Bei ihr war ein Betriebsrat gebildet.

4Am schlossen der Beklagte und der Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich, der die betriebsbedingten Kündigungen von 61 namentlich bezeichneten Arbeitnehmern vorsah. Der Kläger war darin nicht genannt.

5Am informierte der Beklagte den Betriebsrat per E-Mail darüber, dass ein weiterer Personalabbau und deshalb Verhandlungen über einen zweiten Interessenausgleich erforderlich seien. Nach mehrwöchigen Beratungen überreichte der Beklagte dem Betriebsrat am die Endfassungen eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans. Diese wurden zunächst nicht unterschrieben, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung am beschloss, Verhandlungen über eine Veräußerung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin fortzuführen. Nach einer weiteren Tagung des Gläubigerausschusses am unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat am den zweiten Interessenausgleich. Dieser lautete auszugsweise:

6Bestandteil dieses Interessenausgleichs waren drei Namenslisten. Die erste Liste enthielt die Namen von 107 Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnisse zum nächst zulässigen Termin beendet werden sollten. In der zweiten Namensliste waren 190 für die Ausproduktion benötigte Arbeitnehmer - darunter der Kläger - aufgeführt, die eine Kündigung zum erhalten sollten. Die dritte Namensliste wies 40 Arbeitnehmer aus, denen bereits auf der Grundlage des ersten Interessenausgleichs vom gekündigt worden war und die entweder Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten. Ihnen sollte zum nächst zulässigen Termin vorsorglich erneut gekündigt werden.

7Nach Abschluss des Interessenausgleichs vom erstattete der Beklagte noch am selben Tag eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit. Danach kündigte er sämtlichen Arbeitnehmern, soweit keine behördliche Zustimmung erforderlich war. Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde mit Schreiben vom , diesem am zugegangen, zum gekündigt.

8Nachdem sich der Kläger auf den Sonderkündigungsschutz eines schwerbehinderten Menschen berufen hatte, beantragte der Beklagte bei der zuständigen Behörde die Zustimmung zu einer erneuten Kündigung. Mit Bescheid vom wurde diese mit dem Hinweis erteilt, dass der Antrag des Klägers auf Feststellung einer Schwerbehinderung abgelehnt und der dagegen gerichtete Widerspruch zurückgewiesen worden sei. Der Beklagte sprach daraufhin mit Schreiben vom eine weitere Kündigung zum aus.

9Nach einer am erfolgten Unterzeichnung einer Vertraulichkeitsvereinbarung zur Durchführung einer Due-Diligence-Prüfung mit der J AG veräußerte der Beklagte mit Vertrag vom das Walzwerk, die Instandhaltung und die Verwaltung an ein zwischenzeitlich gegründetes Joint Venture der J AG und der K AG. Beide Unternehmen gehörten zu den Hauptkunden der Schuldnerin, mit denen Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten bis zum geschlossen worden waren. Der Vertrag wurde am vollzogen. Das nicht mitübernommene Betriebsgrundstück erwarb die Stadt S, die dem Joint Venture ein Erbbaurecht einräumte.

10Mit seiner am beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom geltend gemacht und den Kündigungsschutzantrag mit einer allgemeinen Feststellungsklage verbunden. Er hat bestritten, dass der Betrieb der Schuldnerin stillgelegt worden sei, die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung gerügt und sich auf den besonderen Kündigungsschutz eines schwerbehinderten Menschen berufen. In der Berufungsinstanz hat er auch die vom Beklagten mit der Klageerwiderung in den Rechtsstreit eingeführte Kündigung vom mit einem Kündigungsschutzantrag angegriffen. Gegen die erstinstanzliche Abweisung des allgemeinen Feststellungsantrags hat er kein Rechtsmittel eingelegt.

11Der Kläger hat zuletzt noch beantragt

12Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und sich hinsichtlich der Wirksamkeit der Kündigung auf die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO berufen. Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung habe der Entschluss zur Stilllegung des Betriebs vorgelegen. Der Gläubigerausschuss habe diese Entscheidung bereits am getroffen. Die Verhandlungen über einen Verkauf des Betriebs seien am 28./ für gescheitert erklärt und abgebrochen worden. Die J AG habe erst am mitgeteilt, sich den Erwerb von Teilen des Betriebs vorstellen zu können. Der erste Entwurf eines sog. „Letter of Intent“ sei ihm am zugegangen und die entsprechenden Willenserklärungen dazu am 20./21. Oktober abgegeben worden. Das Joint Venture, die spätere Erwerberin, sei erst am gegründet und am ins Handelsregister eingetragen worden.

13Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt als zulässig angesehen, sie aber als unbegründet abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage gegen die Kündigungen vom und vom stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision. Der Kläger hat in seiner Revisionserwiderung ausgeführt, der Beklagte habe die Vermutungsbasis des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht hinreichend dargelegt, zudem stehe der Interessenausgleich vom im Widerspruch zum Protokoll der Gläubigerversammlung vom . In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er seinen hilfsweise gestellten Wiedereinstellungsantrag zurückgenommen und sich darüber hinaus erstmalig auf § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO berufen. Er hat die Auffassung vertreten, aufgrund der Due-Diligence-Vereinbarung sei es vor dem Zugang der Kündigung vom zu einer wesentlichen Änderung der Sachlage gekommen.

14Eine im Rahmen eines weiteren Interessenausgleichs mit Schreiben vom erfolgte dritte sowie eine zwischenzeitlich ausgesprochene vierte Kündigung hat der Kläger mit gesonderten Klagen angegriffen. Sie sind daher nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Gründe

15Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers zu Unrecht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis ist jedenfalls durch die Kündigung des Beklagten vom zum beendet worden.

16I. Der Kündigungsschutzantrag gegen die Kündigung vom ist unzulässig. Insoweit fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (vgl. hierzu  - zu B I der Gründe mwN, BAGE 103, 123), weil jedenfalls die Kündigung vom das Arbeitsverhältnis zum wirksam beendet hat.

17II. Der gegen die eigenständige Kündigung vom gerichtete Kündigungsschutzantrag ist unbegründet: Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 1, Abs. 3 KSchG) und hat das Arbeitsverhältnis zum aufgelöst. Der Beklagte hat die Tatbestandsvoraussetzungen für das Eingreifen der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO - anders als vom Landesarbeitsgericht angenommen - hinreichend dargelegt. Das Berufungsgericht hat insoweit die tatbestandlichen Voraussetzungen und die Rechtsfolgen der Norm nicht hinreichend unterschieden.

181. Entgegen der vom Kläger in der Revisionsverhandlung vertretenen Ansicht hat der Beklagte am eine gegenüber der Kündigung vom eigenständige Kündigung erklärt, um etwaigen Unwirksamkeitsgründen iSv. § 168 SGB IX hinsichtlich der ersten Kündigung zu begegnen. Insoweit durfte er die vorsorgliche zweite Kündigung auf dieselben Kündigungsgründe stützen (zur Rechtslage bei einer Wiederholungskündigung vgl.  - Rn. 13).

192. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wird vermutet, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch dringende betriebliche Erfordernisse iSd. § 1 KSchG, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist, wenn eine Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG geplant ist und zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande kommt, in dem der Arbeitnehmer namentlich bezeichnet ist.

203. Beruft sich der Insolvenzverwalter zur Begründung seiner Kündigung auf das Eingreifen der Vermutungsregel des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, hat er deren Tatbestandsvoraussetzungen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (vgl.  - Rn. 13; vgl. zu § 1 Abs. 5 KSchG  - Rn. 26, BAGE 154, 303). Dazu gehört die Darlegung, dass im Zeitpunkt der Kündigung ein wirksamer Interessenausgleich mit Namensliste existiert (vgl. zu § 1 Abs. 5 KSchG  - Rn. 21 mwN), sowie das Vorliegen einer für die Kündigung des Arbeitnehmers ursächlichen Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 1 BetrVG (vgl.  - aaO).

214. Der Beklagte hat die Voraussetzungen für die Vermutungswirkung iSv. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ausreichend vorgetragen.

22a) Der Interessenausgleich vom ist wirksam zustande gekommen. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom (- 6 AZR 31/22 - Rn. 60) ausführlich begründet. Hiergegen wendet sich der Kläger nicht.

23b) Das Landesarbeitsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass der vom Interessenausgleich erfassten Betriebsänderung eine einheitliche unternehmerische Entscheidung des Beklagten zugrunde liegt, die aus zwei unterschiedlichen Maßnahmen, nämlich einem reinen Personalabbau und einer Stilllegung zum mit Ausproduktion, besteht.

24c) Es hat jedoch rechtsfehlerhaft angenommen, dass der Beklagte die Tatbestandsvoraussetzungen des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht dargelegt habe und sich deshalb nicht auf die Vermutungswirkung berufen könne. Er habe nicht nachgewiesen, dass er im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs die Stilllegung des gesamten Betriebs bereits ernstlich und endgültig geplant und bereits eingeleitet habe, sodass die Kündigung des Klägers nicht kausal auf einer Stilllegungsentscheidung des Beklagten beruhe, weil dieser an der Ausproduktion als Teil der Betriebsänderung teilgenommen habe. Die vom Beklagten geplante und in der Folge mit dem Betriebsrat im Interessenausgleich vereinbarte Maßnahme hat die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ausgelöst.

25aa) Im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs war mit der Betriebsstilllegung zum eine Betriebsänderung iSv. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO iVm. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG geplant.

26(1) Der Begriff „geplant“ erfordert zum einen, dass der Insolvenzverwalter ernstlich entschlossen ist, die Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 3 BetrVG durchzuführen (vgl. HK-InsO/Linck 11. Aufl. § 125 Rn. 8). Ein lediglich vorsorgliches Verfahren löst die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht aus (HK-InsO/Linck § 125 Rn. 7). Umstände, die den Schluss zuließen, der Beklagte habe ungeachtet der Zustimmung des Gläubigerausschusses zur Stilllegung den Interessenausgleich vom nur präventiv für den Fall einer späteren Betriebsänderung mit dem Betriebsrat verhandelt und abgeschlossen, sind weder vom Landesarbeitsgericht festgestellt noch vom Kläger substantiiert dargetan.

27(2) Zum anderen ist mit dem tatbestandlichen Erfordernis einer noch im Planungsstadium befindlichen Betriebsänderung klargestellt, dass sich diese im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs nicht schon in der unumkehrbaren Durchführung befinden darf. Das ist im Hinblick auf die Vermutungswirkung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO zwingend. Diese setzt einen wirksamen Interessenausgleich zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat voraus (BT-Drs. 12/2443 S. 97). Nur ein solcher bietet Sicherheit dafür, dass die wegen einer Betriebsänderung beabsichtigten Kündigungen namentlich bezeichneter Arbeitnehmer auf ihre Unvermeidbarkeit überprüft und unter Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte erklärt wurden (BT-Drs. 12/2443 S. 149). Das setzt aber voraus, dass der Betriebsrat im Interessenausgleichsverfahren noch Einfluss auf die Willensbildung des Insolvenzverwalters ausüben kann (vgl.  - juris-Rn. 98, BAGE 31, 176 unter Bezugnahme auf  - zu 2 der Gründe, BAGE 26, 257). Diese Einwirkungsmöglichkeit würde verhindert, wenn der Insolvenzverwalter bereits vor Abschluss des Interessenausgleichs mit der Umsetzung beginnen und damit vollendete Tatsachen schaffen könnte und nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts sogar müsste (sh.  - Rn. 21; - 1 AZR 223/14 - Rn. 21). Letztlich ist die geplante Betriebsänderung iSd. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO wegen der darin erfolgten Rechtsgrundverweisung auf § 111 BetrVG nichts anderes als das Vorhaben einer Betriebsänderung iSd. § 111 BetrVG, im Fall einer Stilllegung wie im vorliegenden Fall also das Vorhaben, die betriebliche Organisation aufzulösen (vgl.  - Rn. 25).

28(3) Die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO verlangt schließlich, dass die Voraussetzungen der Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 3 BetrVG auch bei Abschluss des Interessenausgleichs noch erfüllt sind. Zwischenzeitlich eingetretene Änderungen, zB das Unterschreiten der erforderlichen Betriebsstärke oder das Nichterreichen der erforderlichen Zahlen und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG für einen Personalabbau, führen zum Verlust der Privilegierung des Insolvenzverwalters. In solchen Fällen erfordert der Schutzzweck des § 125 InsO die Einschränkung des Kündigungsschutzes nicht mehr (vgl. hierzu zB Uhlenbruck/Zobel 15. Aufl. § 125 Rn. 17 f. mwN auch zu abweichenden Ansichten).

29bb) Die vom Beklagten geplante Betriebsstilllegung zum und damit die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft (hierzu vgl. für die st. Rspr. zB  - Rn. 47 mwN, BAGE 145, 249; - 8 AZR 397/07 - Rn. 28; - 2 AZR 137/00 - zu II 1 a der Gründe mwN; KR/Rachor 13. Aufl. § 1 KSchG Rn. 615; Fitting 31. Aufl. § 111 Rn. 56) nach Abschluss der Ausproduktion ist von den Betriebsparteien im Interessenausgleich, wie Teil II. Betriebsänderung (Seite 3 ff.) belegt, vereinbart worden. Ebenso belegt der Interessenausgleich den reinen, die Schwelle des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG überschreitenden Personalabbau als weiteren Bestandteil der geplanten Betriebsänderung. Ausweislich des Interessenausgleichs sollte allen verbliebenen 337 Arbeitnehmern - wenn auch zu unterschiedlichen Terminen - gekündigt werden. Daran hatte sich auch im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom nichts geändert.

30Entgegen der Auffassung des Klägers stehen die Äußerungen im Protokoll des Gläubigerausschusses vom auch nicht im Widerspruch zum Inhalt des Interessenausgleichs. Der Beklagte hat sich ausweislich der Seite 3 des Interessenausgleichs erst im Anschluss an diese Sitzung des Gläubigerausschusses und in der Folge der von ihm gefassten Beschlüsse endgültig zu der geplanten Betriebsstilllegung nach beendeter Ausproduktion entschlossen.

31cc) Für die Auslösung der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO kommt es nicht darauf an, ob die Betriebsstilllegung bei Zugang der Kündigung vom eingeleitet war oder bereits greifbare Formen angenommen hatte (zu diesem Kriterium vgl. zB  - Rn. 91 mwN, BAGE 170, 244). Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Annahme, der Beklagte habe im Zeitpunkt der Kündigung des Klägers keine ernsthafte Stilllegungsabsicht zum gehabt, nicht berücksichtigt, dass diese Voraussetzung für eine iSd. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigte Kündigung (vgl. hierzu zB  - Rn. 26 f.; - 2 AZR 543/06 - Rn. 21 f. mwN) nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO gerade vermutet wird (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 149). Deshalb trifft den Beklagten keine Darlegungslast dafür, dass die im Hinblick auf die Stilllegungsentscheidung beabsichtigten Maßnahmen bereits „greifbare Formen“ im Zeitpunkt der Kündigung angenommen hatten. Vielmehr obliegt es im Bestreitensfall entgegen § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG dem Arbeitnehmer und damit vorliegend dem Kläger, das Fehlen der entsprechenden Umstände für die soziale Rechtfertigung der Kündigung darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 149).

32d) Die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erstreckt sich auch auf die Kündigung vom . Die notwendige Kausalität zwischen der Betriebsänderung und der Kündigung besteht. Der Umstand, dass diese Kündigung erst knapp zwei Monate nach Abschluss des Interessenausgleichs ausgesprochen wurde, ist allein darauf zurückzuführen, dass die Wirksamkeit der zunächst mit Schreiben vom erklärten Kündigung wegen eines etwaig bestehenden besonderen Kündigungsschutzes des Klägers nach § 168 SGB IX unklar war und der Beklagte die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt hat. Diese zeitliche Verzögerung unterbricht nicht den Kausalzusammenhang zwischen Betriebsänderung und streitgegenständlicher Kündigung (zu § 1 Abs. 5 KSchG aF vgl.  - zu C III 1 b der Gründe).

33III. Die Vermutungswirkung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ist bezüglich der Kündigung vom auch nicht entfallen. Der insoweit darlegungspflichtige Kläger hat nicht dargetan, dass eine wesentliche Änderung der Sachlage iSv. § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO eingetreten wäre.

341. Eine wesentliche Änderung der Sachlage ist nur anzunehmen, wenn im Kündigungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass die Geschäftsgrundlage für den Interessenausgleich entfallen ist. Das ist zu bejahen, wenn nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass beide Betriebsparteien oder eine von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten bzw. hätte (vgl. zB  - Rn. 24 mwN, BAGE 146, 234). Die Sachlage muss sich in der Zeitspanne zwischen dem Abschluss des Interessenausgleichs und dem Kündigungszeitpunkt geändert haben (zu § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG vgl.  - Rn. 20; HK-InsO/Linck 11. Aufl. § 125 Rn. 40; ErfK/Gallner 23. Aufl. InsO § 125 Rn. 18; K. Schmidt/Ahrens InsO 20. Aufl. § 125 Rn. 37). Für die Voraussetzungen einer solchen Änderung trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast (zu § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG vgl.  - Rn. 33, BAGE 142, 202; Uhlenbruck/Zobel 15. Aufl. § 125 InsO Rn. 41; APS/Künzl 6. Aufl. InsO § 125 Rn 30; Nerlich/Römermann/Hamacher InsO § 125 Stand August 2014 Rn. 66).

352. Der Kläger konnte diesen neuen rechtlichen Gesichtspunkt zwar noch zulässig erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einführen, da er sich hierfür auf die vom Landesarbeitsgericht als unstreitig festgestellten bzw. in der Revision unstreitig gewordenen Tatsachen zum Ablauf der Verhandlungen und der Veräußerung des Walzwerks, der Instandhaltung und der Verwaltung an das Joint Venture der Unternehmen J AG und K AG gestützt hat (zur Berücksichtigungsfähigkeit prozessualer Tatsachen in der Revisionsinstanz sh. zB  - Rn. 63 ff., BAGE 147, 172;  - Rn. 58).

363. Diese Tatsachen begründen jedoch für sich genommen noch keine wesentliche Änderung der Sachlage iSd. § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO. Hierfür hätte es eines weiteren, allerdings in der Revisionsinstanz nicht mehr zulässigen Sachvortrags des Klägers bedurft. Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom hatte allein die J AG und damit nur ein Unternehmen des später als Erwerberin agierenden Joint Ventures am mitgeteilt, sich den Erwerb von Betriebsteilen lediglich vorstellen zu können. Im Hinblick auf die Durchführung einer Due-Diligence-Prüfung wurde am zunächst eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnet, deren Inhalt jedoch weder festgestellt noch vorgetragen ist. Anhaltspunkte, dass bereits diese Geschehnisse zu einer wesentlichen Änderung der Sachlage geführt haben könnten, sind nicht ersichtlich. Der Kläger hat auch keine Tatsachen dargelegt, die den Schluss zuließen, dass jedenfalls der Betriebsrat vor diesem Hintergrund den Interessenausgleich nicht oder nur mit einem anderen Inhalt abgeschlossen hätte. Der gegebenenfalls für eine wesentliche Änderung im Sinn der Norm in Betracht kommen könnende Verkauf der Betriebsteile Walzwerk, Instandhaltung und Verwaltung an das Joint Venture hat für die streitgegenständliche Kündigung vom keine Bedeutung, da dieser erst mit Vertrag vom und damit nach Zugang der Kündigung zustande gekommen ist.

37IV. Die Kündigung vom ist auch nicht aus anderen Gründen rechtsunwirksam.

381. Die Kündigung ist nicht gemäß § 168 SGB IX nichtig. Die zuständige Behörde hat nach den nicht gerügten Feststellungen des Landesarbeitsgerichts und dem insoweit nicht angegriffenen Vorbringen des Beklagten auf dessen Gesuch vom die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Klägers erteilt und darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Feststellung einer Schwerbehinderung abgelehnt und der hiergegen gerichtete Widerspruch mit Bescheid vom zurückgewiesen worden sei.

392. Des Weiteren hat der Kläger nicht gerügt, die Kündigung sei unwirksam, weil der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß iSd. § 102 Abs. 1 BetrVG angehört worden sei. Seine Rüge einer Vorratsanhörung bezog sich allein auf die Kündigung vom . Ebenso wenig hat er - unter Darlegung der erforderlichen Voraussetzungen hierfür - geltend gemacht, der Beklagte habe vor dem Hintergrund einer Massenentlassung gegen die Bestimmungen des § 17 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG verstoßen.

40V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:170823.U.6AZR56.23.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 189 Nr. 4
DB 2024 S. 537 Nr. 9
ZIP 2024 S. 143 Nr. 3
NAAAJ-56088