BGH Beschluss v. - KVZ 33/22

Gesetze: § 36 Abs 1 S 1 GWB, § 77 Abs 2 GWB

Instanzenzug: Az: VI-Kart 2/21 (V) Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten 1 und 2 gehören zur       -Gruppe, die unter anderem mit den Möbelhäusern       ,     ,       ,            ,           und          im Möbeleinzelhandel tätig ist. Die Beteiligten zu 3 bis 7 sind Teil der       -Gruppe, die mit den Möbelhäusern             ,     ,                und             ebenfalls im Möbeleinzelhandel aktiv ist. Die       -Gruppe belegt - nach       - Platz zwei, die     -Gruppe Platz vier der bundesweit umsatzstärksten Möbelhändler.

2Die Beteiligte 1 beabsichtigte, jeweils 50 % der Anteile an der Beteiligten zu 3 und 4 (Zielgesellschaften) zu erwerben und die Zielgesellschaften nach Vollzug des Zusammenschlussvorhabens gemeinsam mit der Beteiligten zu 6 zu kontrollieren. Die Beteiligte zu 2 beabsichtigte, 50 % der Anteile an der Beteiligten zu 5 (ebenfalls Zielgesellschaft) zu erwerben und die Zielgesellschaft nach Vollzug des Vorhabens gemeinsam mit der Beteiligten zu 6 zu kontrollieren. Darüber hinaus sollten den Beteiligten zu 1, 2, 6 und 7 bestimmte Call- und Put-Optionen zum Erwerb weiterer Anteile eingeräumt werden.

3Die Europäische Kommission hat das Zusammenschlussvorhaben im Hinblick auf den Beschaffungsmarkt mit Beschluss vom freigegeben und das Verfahren betreffend die Absatzmärkte an das Bundeskartellamt verwiesen. Mit Verfügung vom hat das Bundeskartellamt das Vorhaben unter der Auflage freigegeben, dass die Beteiligten 23 näher bezeichnete Möbeleinzelhandelsstandorte veräußern. Das Bundeskartellamt hat angenommen, das Zusammenschlussvorhaben, das in erster Linie das stationäre Discount-Segment der Märkte des Möbeleinzelhandels betreffe, lasse auf 25 regionalen Absatzmärkten eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB erwarten.

4Die Beteiligten zu 1 und 2 haben die Verfügung mit der Beschwerde angefochten, die sie nach Erfüllung der Veräußerungsauflagen und Vollzug des Zusammenschlussvorhabens als Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde zur Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses weiterverfolgt haben. Das Beschwerdegericht hat auf die Beschwerden unter Aufhebung der dem angefochtenen Beschluss beigefügten Nebenbestimmungen festgestellt, dass diese rechtswidrig waren. Die Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht nicht zugelassen. Dagegen wendet sich das Bundeskartellamt mit der Nichtzulassungsbeschwerde, der die Beteiligten zu 1 und 2 entgegentreten.

5II. Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet.

61. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Beschwerde sei als Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde wegen des angekündigten Amtshaftungsprozesses zulässig und auch begründet. Die materiellen Untersagungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB lägen nicht vor, weshalb das Zusammenschlussvorhaben ohne Nebenbestimmungen freizugeben sei.

7In Übereinstimmung mit dem Bundeskartellamt sei als sachlich relevanter Markt der einheitliche Absatzmarkt des Möbeleinzelhandels als Sortimentsmarkt zugrunde zu legen. Innerhalb dieses Marktes sei wegen der bestehenden Überlappungen zwischen einem Einrichtungshaus- und einem Discount-Segment zu unterscheiden. Entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts seien      sowie                               dem Discount-Segment zuzuordnen. Der Online-Handel bilde - ebenfalls entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts - kein eigenes Segment. Die Anbieter von Teilsortimenten wie Fach- und Spezialanbieter und Baumärkte seien entweder dem Einrichtungshaus- oder dem Discount-Segment zuzuordnen. In räumlicher Hinsicht seien die 32 Markträume im Grundsatz in Übereinstimmung mit dem Bundeskartellamt abzugrenzen.

8Auf Grundlage dieser Marktabgrenzung könne weder für das Discount- noch für das Einrichtungshaus-Segment die Feststellung getroffen werden, dass das Zusammenschlussvorhaben wirksamen Wettbewerb erheblich behindere. Auch unabhängig von den Schwellenwerten sei eine Wettbewerbsbehinderung nicht feststellbar, weil bei keinem der betroffenen 24 Discount-Märkte eine oligopolistische Marktstruktur erkennbar sei.

92. Zulassungsgründe gemäß § 77 Abs. 2 GWB sind nicht dargelegt.

10a) Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht zur Fortbildung des Rechts veranlasst.

11Der Zulassungsgrund nach § 77 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. GWB setzt voraus, dass der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Für die Aufstellung höchstrichterlicher Leitsätze besteht nur dann Anlass, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH, Beschlüsse vom - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 292; vom - KVZ 14/11, AG 2013, 31 Rn. 19; vom - KVR 77/13, juris Rn. 2; Bacher in Bacher/Hempel/Wagner-von Papp, BeckOK Kartellrecht, 9. Ed., § 77 Rn. 20). Die Gesichtspunkte, die Gegenstand der geltend gemachten Rechtsfortbildung sind, müssen entscheidungserheblich sein, weil gerade der Einzelfall Veranlassung zur Rechtsfortbildung geben muss.

12aa) Das Bundeskartellamt legt nicht dar, dass es im Hinblick auf die Auslegung der Untersagungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe gänzlich oder teilweise fehlt und inwiefern sich daraus Unsicherheiten für die Rechtsanwendung im Einzelfall ergeben. Es zeigt nicht auf, inwieweit Zweifel an der materiell-rechtlichen Richtigkeit der vom Beschwerdegericht entwickelten Grundsätze bestehen. Es lässt zudem nicht erkennen, inwiefern sich etwaige Unsicherheiten auf die Beurteilung des vorliegenden Einzelfalls auswirken.

13bb) Die Nichtzulassungsbeschwerde dringt auch nicht mit der Annahme durch, es bestehe ein Bedürfnis nach Formulierung von Leitsätzen zur methodischen Anwendung des § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB. Damit beanstandet das Bundeskartellamt die Anwendung der rechtlichen Maßstäbe in dem durch zahlreiche Besonderheiten gekennzeichneten Einzelfall und macht geltend, das Beschwerdegericht habe unter Verkennung des Prüfungsansatzes der Verfügung und der nach § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB geforderten Prüfungsaufgabe erhebliche Gesichtspunkte, insbesondere die auf den einzelnen Regionalmärkten bestehenden Wettbewerbsbedingungen, nicht hinreichend in den Blick genommen. Daraus allein lässt sich eine Notwendigkeit zur Rechtsfortbildung nicht ableiten.

14Den vom Bundeskartellamt formulierten Leitsätzen kann ebenfalls kein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung entnommen werden. Das Beschwerdegericht hat nicht in Frage gestellt, dass anhand von Schwellenwerten die wettbewerblich kritisch erscheinenden und vertieft zu prüfenden Regionalmärkte identifiziert werden müssen. Ebenso wenig hat es die Betrachtung von unterschiedlichen Schwellenwerten für unterschiedliche Marktsegmente für unerheblich gehalten. Das Bundeskartellamt zeigt insoweit schon keine Unsicherheiten im Hinblick auf die anzulegenden methodischen Maßstäbe auf. Zudem lässt es diesbezüglich wie auch im Hinblick auf die für erforderlich gehaltene Prüfung aller in den einzelnen Markträumen relevanten Gesamtumstände unter Einbeziehung der genauen Markt- und Marktsegmentsanteile nicht erkennen, inwieweit auf Grundlage der vom Beschwerdegericht vorgenommenen Marktabgrenzung bei einer solchen Prüfung eine abweichende Beurteilung des Zusammenschlussvorhabens auf welchen konkreten Märkten aufgrund welcher konkreter Gesichtspunkte (zumindest) nahegelegen hätte. Ebenso zeigt das Bundeskartellamt nicht auf, wie sich eine Alternativbetrachtung unterschiedlich abgegrenzter Marktsegmente im Einzelfall ausgewirkt hätte. Dazu hätte insbesondere deshalb Anlass bestanden, weil das Beschwerdegericht davon ausgegangen ist, dass nicht koordinierte Wirkungen des Zusammenschlussvorhabens nicht zu erwarten seien, weil sich auf keinem der 24 betroffenen Discount-Markträume eine oligopolistische Marktstruktur feststellen lasse.

15cc) Schließlich legt das Bundeskartellamt auch kein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung dar, soweit es allgemein auf die Unklarheit der Interventionsschwelle des § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB hinweist. Die Frage nach der Interventionsschwelle kann im Grundsatz nicht abstrakt, sondern nur in Abhängigkeit der jeweiligen Marktgegebenheiten und unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls beantwortet werden. Das Bundeskartellamt lässt insoweit nicht erkennen, welche konkrete Interventionsschwelle aus seiner Sicht anzuwenden ist, inwieweit die Beurteilung des Beschwerdegerichts davon abweicht und wie sich das auf Grundlage der vom Berufungsgericht vorgenommenen Marktabgrenzung auf die Beurteilung des Zusammenschlussvorhabens ausgewirkt hätte.

16b) Es stellt sich ferner keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 77 Abs. 2 Nr. 1 GWB.

17aa) Es muss nicht geklärt werden, in welchem Verhältnis die Einschätzung der Richter des Beschwerdegerichts als Teil des betreffenden Nachfragekreises zur Einschätzung der Marktteilnehmer bei der sachlichen Zuordnung von Anbietern zu Märkten oder Marktsegmenten zu der Einschätzung der Marktteilnehmer steht, die das Bundeskartellamt im Wege einer Unternehmensbefragung ermittelt hat. Die für die Überprüfung der tatrichterlichen Würdigung durch das Rechtsbeschwerdegericht anzulegenden Maßstäbe sind geklärt.

18Danach obliegt die Abgrenzung des relevanten Marktes grundsätzlich dem Tatrichter, da sie wesentlich von den - tatrichterlich festzustellenden - tatsächlichen Gegebenheiten des Marktes abhängt (BGH, Beschlüsse vom - KVR 12/06, BGHZ 170, 299 Rn 15 - National Geographic II; vom - KVR 65/17, WuW 2019, 262 Rn. 21 - EDEKA/Kaiser´s Tengelmann; vom - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 17 - Facebook). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Marktabgrenzung in erster Linie auf die Sicht der Marktgegenseite an, nicht auf die Sicht des betroffenen Unternehmens oder seiner Wettbewerber (BGHZ 226, 67 Rn. 22 - Facebook). Gehören die Richter selbst zu dem betreffenden Nachfragerkreis, können sie die gebotenen Feststellungen daher auch aufgrund eigener Lebenserfahrung selbst treffen (, WRP 1988, 160, 162 - Gruner + Jahr/Zeit II; BGHZ 170, 299 Rn. 15 - National Geographic II).

19Die dafür erforderlichen Feststellungen können vom Revisions- oder Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob der Tatrichter von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen ist, ob er alle für die Abgrenzung wesentlichen Umstände hinreichend in Betracht gezogen hat und ob seine Entscheidung in Einklang mit den Denkgesetzen und einschlägigen Erfahrungssätzen steht (vgl. nur BGHZ 170, 299 Rn. 15 - National Geographic II; BGH, Beschlüsse vom - KVZ 14/11, AG 2013, 31 Rn. 9; vom - KVR 95/10, BGHZ 192, 18 Rn. 25 - Total/OMV; vom - KVR 11/15, NZKart 2016, 280 Rn. 15 - Laborchemikalien; vom - KVR 65/17, WuW 2019, 262 Rn. 21 - EDEKA/Tengelmann). Bei der dabei vorzunehmenden Würdigung einzelner Indiztatsachen ist das Beschwerdegericht nach allgemeinen Grundsätzen frei. Es entscheidet gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 GWB nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (s.a. § 108 Abs. 1 VwGO, § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen gibt den Kartellgerichten ebenso wie die Verwaltungsgerichtsordnung den Verwaltungsgerichten auf, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 75 Abs. 1 GWB). Es bleibt daher dem Gericht überlassen, welcher Beweismittel es sich zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bedienen will. Die in Betracht kommenden Beweismittel sind grundsätzlich einander gleichwertig. Die Überzeugungsgewissheit hat sich das Gericht grundsätzlich ohne Bindung an Beweisregeln zu verschaffen (vgl. zum Ganzen auch , juris Rn. 4 mwN). Vor diesem Hintergrund fällt auch die Beantwortung der Frage nach dem Gewicht einer Unternehmensbefragung - die grundsätzlich geeignet sein kann, in verfahrenseffizienter Weise wichtige Einblicke in die auf den jeweiligen Märkten herrschenden Wettbewerbsbeziehungen zu liefern - in die Zuständigkeit des Tatrichters.

20bb) Es stellt sich auch nicht die Frage grundsätzlicher Bedeutung, ob die Grenzen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums nach § 76 Abs. 1 Satz 1 GWB jedenfalls dann überschritten sind, wenn das Beschwerdegericht zwar die Kriterien für die Zuordnung eines Anbieters zu einem Markt oder Marktsegment der Unternehmensbefragung des Bundeskartellamts entnimmt, es diese dann aber mit einem anderen Ergebnis anwendet als die weit überwiegende Mehrheit der befragten Unternehmen. Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und ist insoweit keiner generellen Klärung zugänglich. Gleiches gilt für die Frage, ob es der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 GWB gebietet, bei Widersprüchen zwischen der Einschätzung des Beschwerdegerichts und der befragten Unternehmen jedenfalls bei der wettbewerblichen Beurteilung beide Alternativen der Abgrenzung in die Würdigung einzubeziehen.

213. Der Wert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens beläuft sich auf 5 Mio. €. Für die Bemessung des nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 GKG, § 3 ZPO maßgeblichen wirtschaftlichen Interesses ist der Kaufpreis maßgeblich, wovon allerdings nur ein Bruchteil angesetzt wird (, juris Rn. 10). Werden - wie hier - Nebenbestimmungen in Form von Veräußerungsauflagen angefochten, ist nur der Kaufpreis maßgeblich, der sich auf die von den Nebenbestimmungen betroffenen Unternehmensteile bezieht.

22Eine nach § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG grundsätzlich mögliche - und vom Bundeskartellamt angeregte - Änderung des vom Beschwerdegericht festgesetzten Beschwerdewerts kommt allenfalls nach Zulassung der Rechtsbeschwerde, nicht aber im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht (, NJW-RR 2017, 1471 Rn. 4).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:270623BKVZ33.22.0

Fundstelle(n):
YAAAJ-53047