BGH Urteil v. - VIa ZR 468/21

Deliktische Haftung des Kfz-Herstellers in einem sog. Dieselfall: Bemessung des Differenzschadens bei Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht; Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts

Leitsatz

1. Der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs kann unter den Voraussetzungen des Senatsurteils vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80, BGHZ 237, 245) gegen seine Schadensminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 BGB verstoßen. In diesem Fall muss er sich bei der Bemessung des Differenzschadens gemäß § 242 BGB so behandeln lassen, als hätte er einen aus dem Software-Update resultierenden Vorteil tatsächlich erzielt.

2. In der Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts liegt auch mit Blick auf den Differenzschaden keine Verletzung der Schadensminderungspflicht, weil das verbriefte Rückgaberecht dem Schadensersatzanspruch nicht gleichwertig ist (Fortführung von VIa ZR 135/21, juris Rn. 8).

Gesetze: § 31 BGB, § 242 BGB, § 249 BGB, § 254 Abs 2 S 1 Alt 2 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 6 Abs 1 EG-FGV, § 27 Abs 1 EG-FGV, Art 3 Nr 10 EGV 715/2007, Art 5 Abs 2 EGV 715/2007

Instanzenzug: OLG Celle Az: 16 U 361/21vorgehend LG Verden Az: 8 O 167/19

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2Er erwarb im Jahr 2016 von einem Dritten einen von der Beklagten hergestellten und mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 642 ausgerüsteten Gebrauchtwagen Mercedes Benz GLE 350d 4Matic zu einem Kaufpreis von 69.700 €. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger teilweise mittels eines Darlehens der M.      Bank AG, wobei u.a. ein verbrieftes Rückgaberecht vereinbart wurde. Im Oktober 2020 zahlte er die Schlussrate, ohne von seinem Rückgaberecht Gebrauch zu machen. Ein von der Beklagten entwickeltes Software-Update ließ der Kläger nicht aufspielen.

3Das Landgericht hat die ursprünglich auf Zahlung von Schadensersatz nebst Zinsen und Freistellung von Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs und Übertragung der Anwartschaft am Fahrzeug und auf Feststellung des Annahmeverzugs gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die nach Zahlung der Schlussrate auf Leistung von Schadensersatz in Höhe von 60.892,15 € (Kaufpreis und Finanzierungskosten von insgesamt 77.119,60 € abzüglich des Werts der gezogenen Nutzungen von insgesamt 16.227,45 €) Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, auf Feststellung des Annahmeverzugs und auf Feststellung der Erledigung des Rechtsstreits im Übrigen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.

Gründe

4Die Revision hat Erfolg.

I.

5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:

6Ein Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB stehe dem Kläger unabhängig davon nicht zu, ob die haftungsbegründenden Voraussetzungen vorlägen. § 826 BGB setze neben der Verwendung einer unzulässigen Software zur Motorsteuerung ein sittenwidriges Verhalten des Fahrzeugherstellers voraus. Soweit der Kläger sein Begehren in diesem Zusammenhang auf die Verwendung eines Thermofensters stütze, reiche dies für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der Beklagten ein sittenwidriges Gepräge zu geben. Anderes gelte allerdings für die vom Kläger angeführte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung. Insofern könne ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten vorliegen, wenn der Prüfstandsbetrieb erkannt und in Abhängigkeit davon der Stickoxidausstoß reduziert werde. Ob das der Fall sei, lasse sich ohne Auskunft des KBA nicht entscheiden. Jedenfalls habe der Kläger keinen Schaden erlitten, weil er das verbriefte Rückgaberecht nicht ausgeübt habe.

7Auch eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheide aus. Denn die Bestimmungen der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung dienten nicht dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Käufers.

II.

8Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht stand. Mit der gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch weder aus §§ 826, 31 BGB noch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verneint werden.

91. Wie der Bundesgerichtshof nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden hat, kann die Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts dem Schadensersatzanspruch eines Fahrzeugkäufers gemäß §§ 826, 31 BGB unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt entgegengehalten werden (, NJW 2022, 1674 Rn. 16 ff.; Urteil vom - VIa ZR 135/21, juris Rn. 8; Urteil vom - VIa ZR 325/21, VersR 2023, 403 Rn. 15 ff.). Das Berufungsgericht hätte daher einen Anspruch aus §§ 826, 31 BGB im Hinblick auf das Rückgaberecht des Klägers nicht verneinen dürfen.

102. Nach Erlass des Berufungsurteils hat der Senat ferner geklärt, dass in den Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB liegen, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 17).

11Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

12Das Berufungsurteil ist gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben, weil es sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, § 561 ZPO. Die Sache ist nicht nach § 563 Abs. 3 ZPO zur Endentscheidung reif. Das Berufungsgericht hat bislang weder Feststellungen getroffen, die eine Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB wegen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung ausschlössen, noch hat es Umstände festgestellt, die einen Schadensersatzanspruch wegen eines zumindest fahrlässigen Verhaltens gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ausschlössen. Der Senat verweist die Sache daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

13Das Berufungsgericht wird nach den näheren Maßgaben insbesondere des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und gegebenenfalls dem Umfang einer Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB und nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.

14Sollte das Berufungsgericht zu einer Haftung der Beklagten (nur) nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gelangen, wird es sich mit der Frage der Vorteilsausgleichung auseinanderzusetzen haben. Zwar kann in der Nichtausübung eines verbrieften Rückgaberechts auch mit Blick auf den Differenzschaden keine Verletzung der Schadensminderungspflicht liegen, weil das verbriefte Rückgaberecht dem Schadensersatzanspruch nicht gleichwertig ist (vgl. VIa ZR 135/21, juris Rn. 8 a.E.). Von Bedeutung für eine Vorteilsausgleichung ist aber, in welchem Umfang das Aufspielen des von der Beklagten angebotenen Software-Updates geeignet gewesen wäre, das Fahrzeug nachträglich aufzuwerten. Eine etwaige Aufwertung des Fahrzeugs durch das Software-Update wäre unter den im Senatsurteil vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80) genannten Voraussetzungen als Vorteil zu berücksichtigen gewesen. Entsprechend könnte der Kläger, wenn er sich dem Aufspielen eines solchen Software-Updates verschlossen hätte, gegen seine Schadensminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 BGB verstoßen haben. In diesem Fall müsste er sich bei der Bemessung des Differenzschadens gemäß § 242 BGB so behandeln lassen, als hätte er einen aus dem Software-Update resultierenden Vorteil tatsächlich erzielt (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., Vorb v § 249 Rn. 70).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:231023UVIAZR468.21.0

Fundstelle(n):
BB 2023 S. 2753 Nr. 48
NJW 2023 S. 9 Nr. 49
WM 2023 S. 2232 Nr. 48
NAAAJ-52822