BGH Beschluss v. - VI ZB 72/22

Berufungszulassung: Nachholung der vom erstinstanzlichen Gericht unterlassenen Zulassungsprüfung durch das Berufungsgericht vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer; Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde bei unterlassener Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung

Leitsatz

1. Das Berufungsgericht muss vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat (st. Rspr.).

2. Ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt (Anschluss BGH, Beschlüsse vom - V ZB 179/14, WuM 2015, 320 Rn. 6 und vom - V ZB 242/11, WuM 2012, 402 Rn. 11).

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 511 Abs 2 ZPO, § 574 Abs 2 Nr 2 Alt 2 ZPO

Instanzenzug: LG Hildesheim Az: 4 S 16/21vorgehend AG Lehrte Az: 9 C 34/21

Gründe

I.

1Das Amtsgericht hat den Beklagten verurteilt, es zu unterlassen, den Pkw des Klägers zu verkratzen. Der Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Landgericht hat den Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren auf bis zu 300 € festgesetzt. Die Berufung des Beklagten hat es mit dem von der Rechtsbeschwerde angegriffenen Beschluss als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteige (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und das Amtsgericht die Berufung auch nicht zugelassen habe (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

II.

2Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO), aber unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ergibt sich ihre Zulässigkeit nicht aus § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern würde.

31. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ist der angefochtene Beschluss nicht schon deshalb aufzuheben, weil er nicht ausreichend mit Gründen versehen ist.

4a) Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen nach der ständigen Senatsrechtsprechung den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben sowie den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen. Anderenfalls sind sie nicht mit den nach dem Gesetz (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO) erforderlichen Gründen versehen und bereits deshalb wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangels aufzuheben. Das Rechtsbeschwerdegericht hat grundsätzlich von dem Sachverhalt auszugehen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§ 577 Abs. 2 Satz 1 und 4, § 559 ZPO). Enthält der angefochtene Beschluss keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen, ist das Rechtsbeschwerdegericht zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Dies gilt auch, wenn das Berufungsgericht die Berufung verwirft, weil die Berufungssumme nicht erreicht sei. Denn die Wertfestsetzung kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen des ihm von § 3 ZPO eingeräumten Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hat (vgl. nur Senatsbeschluss vom - VI ZB 41/20, VersR 2021, 1128 Rn. 4 mwN).

5Eine Sachdarstellung ist lediglich dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn sich der maßgebliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel noch mit hinreichender Deutlichkeit aus den Beschlussgründen ergeben (vgl. , NJOZ 2022, 156 Rn. 20 mwN).

6b) Letzteres ist vorliegend der Fall. Obgleich der Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts eine Sachdarstellung nicht enthält, ergibt sich aus dessen Gründen in Verbindung mit dem in Bezug genommenen Hinweisbeschluss, dass der Beklagte zur Unterlassung einer Beschädigung des Pkw des Klägers verurteilt wurde und sich hiergegen in vollem Umfang mit seiner Berufung wendet.

72. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts den Beklagten auch nicht in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil das Berufungsgericht keine eigene Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat.

8a) Allerdings muss das Berufungsgericht vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat (st. Rspr., vgl. Senatsbeschlüsse vom - VI ZB 69/14, juris Rn. 12; vom - VI ZB 2/13, VersR 2014, 350 Rn. 12; jeweils mwN).

9b) Es kann dahinstehen, ob im Streitfall hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Amtsgericht von einer 600 € übersteigenden Beschwer des Beklagten ausgegangen ist, so dass das Berufungsgericht die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach den genannten Grundsätzen hätte nachholen müssen. Denn eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu der an sich gegebenen Berufung und damit ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 179/14, WuM 2015, 320 Rn. 6; vom - V ZB 242/11, WuM 2012, 402 Rn. 11). Dass dies der Fall wäre, macht die Rechtsbeschwerde jedoch nicht geltend. Sie beanstandet lediglich, dass das Berufungsgericht keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat. Der Beklagte bringt auch nicht vor, das Berufungsgericht habe ihm den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung dadurch unzumutbar erschwert, dass es bei der Bemessung der Höhe seiner Beschwer durch das amtsgerichtliche Urteil die Grenzen seines insoweit bestehenden Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hätte. Ein Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ist daher nicht schlüssig dargelegt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:120923BVIZB72.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 9 Nr. 46
NJW-RR 2023 S. 1484 Nr. 22
WAAAJ-51004