BGH Urteil v. - X ZR 84/22

Haftung des ausführenden Luftfahrtunternehmens für große Ankunftsverspätung: Nichterreichen eines direkten Anschlussflugs

Leitsatz

Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist für eine große Ankunftsverspätung verantwortlich, wenn es einem Fluggast unter Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO die Möglichkeit genommen hat, einen direkten Anschlussflug rechtzeitig zu erreichen.

Gesetze: Art 7 Abs 1 EGV 261/2004, Art 11 Abs 1 EGV 261/2004

Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 2/24 S 173/21 Urteilvorgehend AG Frankfurt Az: 30 C 4714/20 (45)

Tatbestand

1Die Kläger nehmen die Beklagte auf Leistung einer Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

2Die beiden Kläger buchten über die Internetplattform k  .com für den für insgesamt fünf Personen Flüge mit der Beklagten von Frankfurt am Main nach Budapest und von Budapest nach St. Petersburg.

3Beide Flüge wurden planmäßig durchgeführt.

4Der Kläger zu 1 ist auf einen Rollstuhl angewiesen und durfte in Budapest erst nach allen anderen Passagieren aus dem Flugzeug aussteigen. Die beiden Kläger verpassten den zweiten Flug. Die Beklagte bot ihnen keine Ersatzbeförderung an. Die Kläger bemühten sich selbst um einen Ersatzflug und erreichten St. Petersburg knapp zehn Stunden später als mit dem von der Beklagten durchgeführten Flug.

5Das Amtsgericht hat die auf Erstattung der Kosten der Ersatzbeförderung (je 227,27 Euro) und eine Ausgleichszahlung (je 400 Euro) gerichtete Klage abgewiesen.

6Das Berufungsgericht hat den Klägern die Kosten der Ersatzbeförderung zugesprochen, ihr weitergehendes Rechtsmittel jedoch zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihren Ausgleichsanspruch weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

7Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

8I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung - im Wesentlichen wie folgt begründet:

9Den Klägern stehe kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung aus Art. 4 Abs. 3 oder Art. 5 Abs. 1 Buchst. a analog in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b FluggastrechteVO zu.

10Insofern könne offenbleiben, ob k  .com ein zugelassener Vermittler im Sinne von Art. 2 Buchst. f FluggastrechteVO sei. Ferner könne unterstellt werden, dass eine einheitliche Buchung mit einheitlichen Flugscheinen für eine Beförderung von Frankfurt am Main über Budapest nach St. Petersburg vorgelegen habe. Die Beklagte habe jedenfalls keine große Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden verursacht.

11Die Kläger hätten eine Verspätung des Zubringerflugs nach Budapest nicht bewiesen. Eine unberechtigte Beförderungsverweigerung im Sinne des Art. 4 Abs. 3, Art. 2 Buchst. j FluggastrechteVO liege nicht vor, da sich die Kläger nicht rechtzeitig am Flugsteig eingefunden hätten. Die Beklagte habe zwar gegen Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO verstoßen, indem sie den Kläger zu 1 nicht hinreichend beim Umsteigen unterstützt habe. Dies führe gleichwohl nicht zu einem Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 FluggastrechteVO, da Art. 11 nicht auf diese Vorschrift verweise.

12II. Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

13Ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastrechteVO kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden.

141. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hängt die Entstehung eines Ausgleichsanspruchs davon ab, ob ein Zeitverlust von drei Stunden oder mehr am Endziel eingetreten ist (, NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 Rn. 61 - Sturgeon; Urteil vom - C-581/10, NJW 2013, 671 = RRa 2012, 272 Rn. 40 - Nelson).

15a) Endziel ist gemäß der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Definition in Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein, bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges (, NJW 2013, 1291 = RRa 2013, 78 Rn. 34 - Folkerts).

16Direkte Anschlussflüge im Sinne dieser Bestimmung liegen vor, wenn zwei oder mehr Flüge eine Gesamtheit darstellen. Eine solche Gesamtheit liegt vor, wenn die Flüge Gegenstand einer einzigen Buchung waren (vgl. nur , NJW 2022, 3343 = RRa 2022, 289 Rn. 20 - flightright ./. American Airlines; Urteil vom - C-537/17, NJW 2018, 2032 = RRa 2018, 179 Rn. 18 f. - Wegener).

17b) Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die beiden Flüge im Streitfall Gegenstand einer einzigen Buchung waren. Für die revisionsrechtliche Beurteilung ist deshalb zu unterstellen, dass diese Voraussetzung vorliegt.

18Auf dieser Grundlage ist für die Beurteilung des Streitfalls die Ankunftszeit in St. Petersburg maßgeblich. Diese lag mehr als drei Stunden nach der im Flugschein ausgewiesenen Ankunftszeit.

192. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Beklagte für die Verspätung verantwortlich.

20a) Im Ansatz zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass ein Ausgleichsanspruch wegen großer Verspätung voraussetzt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen die Verspätung durch pflichtwidriges Verhalten verursacht hat.

21Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt ein Ausgleichsanspruch in solchen Fällen allerdings nicht nur dann in Betracht, wenn ein Anschlussflug wegen einer Verspätung eines Zubringerflugs verpasst wurde. Maßgeblich ist vielmehr die verspätete Ankunft am Endziel (, NJW 2013, 1291 Rn. 47 - Folkerts).

22Ungeachtet dessen bedarf es jedoch eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten des ausführenden Luftfahrtunternehmens und der eingetretenen Verspätung. Hieran fehlt es insbesondere dann, wenn der Fluggast den Anschlussflug aus Gründen verpasst hat, die alleine in seinem Verantwortungsbereich liegen - etwa deshalb, weil er sich trotz entsprechender Möglichkeiten nicht rechtzeitig zur Abfertigung des Anschlussflugs eingefunden hat.

23b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich die Verantwortlichkeit der Beklagten im Streitfall aus einem Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO.

24aa) Gemäß Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO geben die ausführenden Luftfahrtunternehmen Personen mit eingeschränkter Mobilität (Art. 2 Buchst. i FluggastrechteVO) und deren Begleitpersonen bei der Beförderung Vorrang. Diese Verpflichtung trägt dem in Erwägungsgrund 19 der Verordnung formulierten Ziel Rechnung, dass die ausführenden Luftfahrtunternehmen den besonderen Bedürfnissen von Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen gerecht werden sollten.

25Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO verpflichtet das ausführende Luftfahrtunternehmen insbesondere, eine Nichtbeförderung im Sinne des Art. 4 FluggastrechteVO nach Möglichkeit zu vermeiden (Tonner in Gebauer/Wiedmann, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl. 2021, Kap. 16 Rn. 103). Die Vorschrift kann ferner für die Frage von Bedeutung sein, welche Fluggäste nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. b oder c FluggastrechteVO anderweitig befördert werden (BeckOGKFluggastrechteVO/Steinrötter/Bohlsen, Stand , Art. 11 Rn. 6).

26Die Verpflichtung, dem genannten Personenkreis Vorrang einzuräumen, besteht aber nicht nur in diesen Situationen. Sie bezieht sich vielmehr auf den gesamten Beförderungsvorgang einschließlich der Phase zwischen direkten Anschlussflügen. Dazu gehört es, mobilitätseingeschränkten Fluggästen und deren Begleitpersonen zu ermöglichen, vor den anderen Passagieren in das Flugzeug einzusteigen und es für das Erreichen eines Anschlussfluges vor diesen wieder zu verlassen (Staudinger/Keiler, Fluggastrechte-Verordnung, 1. Aufl. 2016, Art. 11 Rn. 15; noch weitergehend BeckOKFluggastrechteVO/Hopperdietzel, Stand , Art. 11 Rn. 6).

27bb) Hieraus ergibt sich, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen für eine große Ankunftsverspätung verantwortlich ist, wenn es einem Fluggast unter Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO die Möglichkeit genommen hat, einen direkten Anschlussflug rechtzeitig zu erreichen.

28Wie das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend gesehen hat, führt ein Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO zwar für sich genommen nicht zu einem Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Vorschrift in diesem Zusammenhang irrelevant ist.

29Anknüpfungspunkt für einen Anspruch auf Ausgleichsleistung ist eine Annullierung, Nichtbeförderung oder große Ankunftsverspätung. Soweit in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, ob das Luftfahrtunternehmen einen dieser Tatbestände durch pflichtwidriges Handeln verursacht hat, sind grundsätzlich alle dem Luftfahrtunternehmen obliegenden Pflichten zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch und insbesondere die Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO.

30cc) Aus der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität ergeben sich keine Beschränkungen.

31Diese Verordnung berührt nach ihrem Art. 1 Abs. 4 die Rechte aus der Fluggastrechteverordnung nicht. Das ausführende Luftfahrtunternehmen ist nach Art. 11 Abs. 1 FluggastrechteVO mithin auch außerhalb der in Art. 7 der Verordnung Nr. 1107/2006 geregelten Tatbestände verpflichtet, Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen bei der Beförderung Vorrang einzuräumen.

32dd) Im Streitfall war der Kläger zu 1 in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 1 der FluggastrechteVO einbezogen, weil er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Entsprechendes gilt für die Klägerin zu 2 als Begleitperson.

33Wie das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend angenommen hat, war die Beklagte deshalb verpflichtet, die beiden Kläger nach Ankunft in Budapest vorrangig aussteigen zu lassen. Der Verstoß gegen diese Pflicht ist nach den getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen ursächlich dafür geworden, dass die Kläger den Flug nach St. Petersburg im Gegensatz zu anderen Mitreisenden nicht mehr rechtzeitig erreichen konnten.

34Auf die Frage, ob ein spezieller Rollstuhlservice für den Transfer gebucht und verspätet erbracht wurde, kommt es bei dieser Sachlage nicht an.

35III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

36Die Fragen nach der Reichweite des Vorrangs mobilitätseingeschränkter Fluggäste bei der Beförderung und den Voraussetzungen eines Ausgleichsanspruchs bei großer Ankunftsverspätung sind nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Fluggastrechteverordnung sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair", vgl. dazu 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - C.I.L.F.I.T.).

37IV. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).

38Anhand der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob die Kläger über eine einheitliche Buchung mit St. Petersburg als Endziel verfügten und die Plattform k  .com für eine solche Buchung ein zugelassener Vermittler im Sinne von Art. 2 Buchst. f FluggastrechteVO war.

391. Für eine einheitliche Buchung spricht es in der Regel, wenn für alle Flüge eine einheitliche E-Ticket-Nummer ausgegeben wird.

40Den bislang getroffenen Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzung im Streitfall erfüllt ist.

41Das von den Klägern vorgelegte, von k  .com ausgestellte E-Ticket weist eine einheitliche Buchungsnummer auf. Dem Zusammenhang lässt sich jedoch nicht entnehmen, ob es sich insoweit um eine Ticketnummer handelt oder um einen davon zu unterscheidenden Buchungsvorgang von k  .com als Vermittler von Flugleistungen. Für letzteres könnte im Streitfall sprechen, dass für den Rückflug zusätzliche E-Ticket-Nummern angegeben sind, und zwar separat für jeden einzelnen Fluggast.

422. Gegen eine einheitliche Buchung könnte sprechen, dass für die beiden Teilflüge unterschiedliche Reservierungsnummern (PNR-Codes, Passenger Name Records) vergeben worden sind.

43Ob und welche Bedeutung solchen Nummern im Zusammenhang mit der Frage, ob eine einheitliche Buchung vorliegt, zukommt, ist den bisherigen Feststellungen nicht zu entnehmen. Das Berufungsgericht wird diese Frage aufklären und den Parteien hierbei Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme geben müssen.

443. Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, setzt die Qualifikation als unmittelbarer Anschlussflug ferner voraus, dass die einheitliche Buchung durch das ausführende Luftfahrtunternehmen selbst oder durch einen von diesem zugelassenen Vermittler erfolgt ist (, NJW 2022, 3343 = RRa 2022, 289 Rn. 21 - flightright ./. American Airlines).

45In diesem Zusammenhang wird das Berufungsgericht gegebenenfalls zu klären haben, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Buchung durch k  .com erfolgt ist und ob sich eine zumindest konkludente Zulassung als Vermittler schon aus dem Umstand ergeben kann, dass einem Dritten entsprechende Buchungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Hierzu werden gegebenenfalls zunächst die Kläger ergänzend vorzutragen haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:200623UXZR84.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 2487 Nr. 34
WAAAJ-44116